Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Streit zwischen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire.
königlichen Familie endigen würde. "Wir scheinen uns nicht zu ver-
stehen, mein Allerbester, erwiderte Goethe. Jch rede gar nicht
von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge.
Jch rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekom-
menen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streite zwischen
Cuvier und Geoffroy de S. Hilaire." Diese Aeußerung Goe-
the's
war mir so unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich sagen soll-
te, und daß ich während einiger Minuten einen völligen Stillstand in
meinen Gedanken verspürte. "Die Sache ist von der höchsten Bedeu-
tung, fuhr Goethe fort, und Sie können sich keinen Begriff davon
machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli em-
pfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint Hilaire einen
mächtigen Alliirten auf die Dauer. Jch sehe aber zugleich daraus, wie
groß die Theilnahme der französischen wissenschaftlichen Welt in dieser
Angelegenheit sein muß, indem trotz der furchtbaren politischen Aufre-
gung, die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hause
stattfand. Das Beste aber ist, daß die von Geoffroy in Frankreich
eingeführte synthetische Behandlungsweise der Natur jetzt nicht mehr
rückgängig zu machen ist. Die Angelegenheit ist durch die freien Dis-
kussionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Pu-
blikums, jetzt öffentlich geworden, sie läßt sich nicht mehr an geheime
Ausschüsse verweisen und bei geschlossenen Thüren abthun und unter-
drücken".

Von den zahlreichen interessanten und bedeutenden Sätzen, in
welchen sich Goethe klar über seine Auffassung der organischen Na-
tur und ihrer beständigen Entwickelung ausspricht, habe ich in meiner
generellen Morphologie der Organismen 4) eine Auswahl als Leit-
worte an den Eingang der einzelnen Bücher und Kapitel gesetzt. Hier
führe ich Jhnen zunächst eine Stelle aus dem Gedichte an, welches
die Ueberschrift trägt: "die Metamorphose der Thiere" (1819).

"Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen,
"Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild.
"Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Thieres,

Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire.
koͤniglichen Familie endigen wuͤrde. „Wir ſcheinen uns nicht zu ver-
ſtehen, mein Allerbeſter, erwiderte Goethe. Jch rede gar nicht
von jenen Leuten; es handelt ſich bei mir um ganz andere Dinge.
Jch rede von dem in der Akademie zum oͤffentlichen Ausbruch gekom-
menen, fuͤr die Wiſſenſchaft ſo hoͤchſt bedeutenden Streite zwiſchen
Cuvier und Geoffroy de S. Hilaire.“ Dieſe Aeußerung Goe-
the’s
war mir ſo unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich ſagen ſoll-
te, und daß ich waͤhrend einiger Minuten einen voͤlligen Stillſtand in
meinen Gedanken verſpuͤrte. „Die Sache iſt von der hoͤchſten Bedeu-
tung, fuhr Goethe fort, und Sie koͤnnen ſich keinen Begriff davon
machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli em-
pfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint Hilaire einen
maͤchtigen Alliirten auf die Dauer. Jch ſehe aber zugleich daraus, wie
groß die Theilnahme der franzoͤſiſchen wiſſenſchaftlichen Welt in dieſer
Angelegenheit ſein muß, indem trotz der furchtbaren politiſchen Aufre-
gung, die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefuͤllten Hauſe
ſtattfand. Das Beſte aber iſt, daß die von Geoffroy in Frankreich
eingefuͤhrte ſynthetiſche Behandlungsweiſe der Natur jetzt nicht mehr
ruͤckgaͤngig zu machen iſt. Die Angelegenheit iſt durch die freien Dis-
kuſſionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Pu-
blikums, jetzt oͤffentlich geworden, ſie laͤßt ſich nicht mehr an geheime
Ausſchuͤſſe verweiſen und bei geſchloſſenen Thuͤren abthun und unter-
druͤcken“.

Von den zahlreichen intereſſanten und bedeutenden Saͤtzen, in
welchen ſich Goethe klar uͤber ſeine Auffaſſung der organiſchen Na-
tur und ihrer beſtaͤndigen Entwickelung ausſpricht, habe ich in meiner
generellen Morphologie der Organismen 4) eine Auswahl als Leit-
worte an den Eingang der einzelnen Buͤcher und Kapitel geſetzt. Hier
fuͤhre ich Jhnen zunaͤchſt eine Stelle aus dem Gedichte an, welches
die Ueberſchrift traͤgt: „die Metamorphoſe der Thiere“ (1819).

„Alle Glieder bilden ſich aus nach ew’gen Geſetzen,
„Und die ſeltenſte Form bewahrt im Geheimen das Urbild.
„Alſo beſtimmt die Geſtalt die Lebensweiſe des Thieres,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0094" n="73"/><fw place="top" type="header">Streit zwi&#x017F;chen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire.</fw><lb/>
ko&#x0364;niglichen Familie endigen wu&#x0364;rde. &#x201E;Wir &#x017F;cheinen uns nicht zu ver-<lb/>
&#x017F;tehen, mein Allerbe&#x017F;ter, erwiderte <hi rendition="#g">Goethe.</hi> Jch rede gar nicht<lb/>
von jenen Leuten; es handelt &#x017F;ich bei mir um ganz andere Dinge.<lb/>
Jch rede von dem in der Akademie zum o&#x0364;ffentlichen Ausbruch gekom-<lb/>
menen, fu&#x0364;r die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft &#x017F;o ho&#x0364;ch&#x017F;t bedeutenden Streite zwi&#x017F;chen<lb/><hi rendition="#g">Cuvier</hi> und <hi rendition="#g">Geoffroy de S. Hilaire.</hi>&#x201C; Die&#x017F;e Aeußerung <hi rendition="#g">Goe-<lb/>
the&#x2019;s</hi> war mir &#x017F;o unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich &#x017F;agen &#x017F;oll-<lb/>
te, und daß ich wa&#x0364;hrend einiger Minuten einen vo&#x0364;lligen Still&#x017F;tand in<lb/>
meinen Gedanken ver&#x017F;pu&#x0364;rte. &#x201E;Die Sache i&#x017F;t von der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Bedeu-<lb/>
tung, fuhr <hi rendition="#g">Goethe</hi> fort, und Sie ko&#x0364;nnen &#x017F;ich keinen Begriff davon<lb/>
machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli em-<lb/>
pfinde. Wir haben jetzt an <hi rendition="#g">Geoffroy de Saint Hilaire</hi> einen<lb/>
ma&#x0364;chtigen Alliirten auf die Dauer. Jch &#x017F;ehe aber zugleich daraus, wie<lb/>
groß die Theilnahme der franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Welt in die&#x017F;er<lb/>
Angelegenheit &#x017F;ein muß, indem trotz der furchtbaren politi&#x017F;chen Aufre-<lb/>
gung, die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefu&#x0364;llten Hau&#x017F;e<lb/>
&#x017F;tattfand. Das Be&#x017F;te aber i&#x017F;t, daß die von <hi rendition="#g">Geoffroy</hi> in Frankreich<lb/>
eingefu&#x0364;hrte &#x017F;yntheti&#x017F;che Behandlungswei&#x017F;e der Natur jetzt nicht mehr<lb/>
ru&#x0364;ckga&#x0364;ngig zu machen i&#x017F;t. Die Angelegenheit i&#x017F;t durch die freien Dis-<lb/>
ku&#x017F;&#x017F;ionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Pu-<lb/>
blikums, jetzt o&#x0364;ffentlich geworden, &#x017F;ie la&#x0364;ßt &#x017F;ich nicht mehr an geheime<lb/>
Aus&#x017F;chu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e verwei&#x017F;en und bei ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Thu&#x0364;ren abthun und unter-<lb/>
dru&#x0364;cken&#x201C;.</p><lb/>
        <p>Von den zahlreichen intere&#x017F;&#x017F;anten und bedeutenden Sa&#x0364;tzen, in<lb/>
welchen &#x017F;ich <hi rendition="#g">Goethe</hi> klar u&#x0364;ber &#x017F;eine Auffa&#x017F;&#x017F;ung der organi&#x017F;chen Na-<lb/>
tur und ihrer be&#x017F;ta&#x0364;ndigen Entwickelung aus&#x017F;pricht, habe ich in meiner<lb/>
generellen Morphologie der Organismen <hi rendition="#sup">4</hi>) eine Auswahl als Leit-<lb/>
worte an den Eingang der einzelnen Bu&#x0364;cher und Kapitel ge&#x017F;etzt. Hier<lb/>
fu&#x0364;hre ich Jhnen zuna&#x0364;ch&#x017F;t eine Stelle aus dem Gedichte an, welches<lb/>
die Ueber&#x017F;chrift tra&#x0364;gt: &#x201E;die Metamorpho&#x017F;e der Thiere&#x201C; (1819).</p><lb/>
        <cit>
          <quote>&#x201E;Alle Glieder bilden &#x017F;ich aus nach ew&#x2019;gen Ge&#x017F;etzen,<lb/>
&#x201E;Und die &#x017F;elten&#x017F;te Form bewahrt im Geheimen das Urbild.<lb/>
&#x201E;Al&#x017F;o be&#x017F;timmt die Ge&#x017F;talt die Lebenswei&#x017F;e des Thieres,<lb/></quote>
        </cit>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0094] Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. koͤniglichen Familie endigen wuͤrde. „Wir ſcheinen uns nicht zu ver- ſtehen, mein Allerbeſter, erwiderte Goethe. Jch rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt ſich bei mir um ganz andere Dinge. Jch rede von dem in der Akademie zum oͤffentlichen Ausbruch gekom- menen, fuͤr die Wiſſenſchaft ſo hoͤchſt bedeutenden Streite zwiſchen Cuvier und Geoffroy de S. Hilaire.“ Dieſe Aeußerung Goe- the’s war mir ſo unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich ſagen ſoll- te, und daß ich waͤhrend einiger Minuten einen voͤlligen Stillſtand in meinen Gedanken verſpuͤrte. „Die Sache iſt von der hoͤchſten Bedeu- tung, fuhr Goethe fort, und Sie koͤnnen ſich keinen Begriff davon machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli em- pfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint Hilaire einen maͤchtigen Alliirten auf die Dauer. Jch ſehe aber zugleich daraus, wie groß die Theilnahme der franzoͤſiſchen wiſſenſchaftlichen Welt in dieſer Angelegenheit ſein muß, indem trotz der furchtbaren politiſchen Aufre- gung, die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefuͤllten Hauſe ſtattfand. Das Beſte aber iſt, daß die von Geoffroy in Frankreich eingefuͤhrte ſynthetiſche Behandlungsweiſe der Natur jetzt nicht mehr ruͤckgaͤngig zu machen iſt. Die Angelegenheit iſt durch die freien Dis- kuſſionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Pu- blikums, jetzt oͤffentlich geworden, ſie laͤßt ſich nicht mehr an geheime Ausſchuͤſſe verweiſen und bei geſchloſſenen Thuͤren abthun und unter- druͤcken“. Von den zahlreichen intereſſanten und bedeutenden Saͤtzen, in welchen ſich Goethe klar uͤber ſeine Auffaſſung der organiſchen Na- tur und ihrer beſtaͤndigen Entwickelung ausſpricht, habe ich in meiner generellen Morphologie der Organismen 4) eine Auswahl als Leit- worte an den Eingang der einzelnen Buͤcher und Kapitel geſetzt. Hier fuͤhre ich Jhnen zunaͤchſt eine Stelle aus dem Gedichte an, welches die Ueberſchrift traͤgt: „die Metamorphoſe der Thiere“ (1819). „Alle Glieder bilden ſich aus nach ew’gen Geſetzen, „Und die ſeltenſte Form bewahrt im Geheimen das Urbild. „Alſo beſtimmt die Geſtalt die Lebensweiſe des Thieres,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/94
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/94>, abgerufen am 25.05.2024.