Augen führen, den wir Göthe's biologischen Forschungen zuschrei- ben müssen. Leider sind die meisten seiner darauf bezüglichen Arbei- ten so versteckt in seinen sämmtlichen Werken, und die wichtigsten Be- obachtungen und Bemerkungen so zerstreut in zahlreichen einzelnen Aufsätzen, die andere Themata behandeln, daß es schwer ist, sie her- auszufinden. Auch ist bisweilen eine vortreffliche, wahrhaft wissen- schaftliche Bemerkung so eng mit einem Haufen unbrauchbarer natur- philosophischer Phantasiegebilde verknüpft, daß letztere der ersteren gro- ßen Eintrag thun.
Für das außerordentliche Jnteresse, welches Goethe für die or- ganische Naturforschung hegte, ist vielleicht Nichts bezeichnender, als die lebendige Theilnahme, mit welcher er noch in seinen letzten Le- bensjahren den in Frankreich ausgebrochenen Streit zwischen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire verfolgte. Goethe hat eine interes- sante Darstellung dieses merkwürdigen Streites und seiner allgemei- nen Bedeutung, sowie eine treffliche Charakteristik der beiden großen Gegner in einer besonderen Abhandlung gegeben, welche er erst we- nige Tage vor seinem Tode, im März 1832, vollendete. Diese Ab- handlung führt den Titel: "Principes de Philosophie zoologique par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire"; sie ist Goethe's letztes Werk, und bildet in der Gesammtausgabe seiner Werke deren Schluß. Der Streit selbst war in mehrfacher Beziehung von höchstem Jnteresse. Er drehte sich wesentlich um die Berechtigung der Entwickelungstheorie. Dabei wurde er im Schooße der französischen Akademie von beiden Gegnern mit einer persönlichen Leidenschaftlichkeit geführt, welche in den würdevollen Sitzungen jener gelehrten Körperschaft fast unerhört war, und welche bewies, daß beide Naturforscher für ihre heiligsten und tief- sten Ueberzeugungen kämpften. Am 22 sten Februar 1830 fand der er- ste Konflikt statt, welchem bald mehrere andere folgten, der heftigste am 19. Juli 1830. Geoffroy als das Haupt der französischen Natur- philosophen vertrat die natürliche Entwickelungstheorie und die ein- heitliche (monistische) Naturauffassung. Er behauptete die Veränder- lichkeit der organischen Species, die gemeinschaftliche Abstammung der
Goethe’s Theilnahme an der Naturphiloſophie.
Augen fuͤhren, den wir Goͤthe’s biologiſchen Forſchungen zuſchrei- ben muͤſſen. Leider ſind die meiſten ſeiner darauf bezuͤglichen Arbei- ten ſo verſteckt in ſeinen ſaͤmmtlichen Werken, und die wichtigſten Be- obachtungen und Bemerkungen ſo zerſtreut in zahlreichen einzelnen Aufſaͤtzen, die andere Themata behandeln, daß es ſchwer iſt, ſie her- auszufinden. Auch iſt bisweilen eine vortreffliche, wahrhaft wiſſen- ſchaftliche Bemerkung ſo eng mit einem Haufen unbrauchbarer natur- philoſophiſcher Phantaſiegebilde verknuͤpft, daß letztere der erſteren gro- ßen Eintrag thun.
Fuͤr das außerordentliche Jntereſſe, welches Goethe fuͤr die or- ganiſche Naturforſchung hegte, iſt vielleicht Nichts bezeichnender, als die lebendige Theilnahme, mit welcher er noch in ſeinen letzten Le- bensjahren den in Frankreich ausgebrochenen Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire verfolgte. Goethe hat eine intereſ- ſante Darſtellung dieſes merkwuͤrdigen Streites und ſeiner allgemei- nen Bedeutung, ſowie eine treffliche Charakteriſtik der beiden großen Gegner in einer beſonderen Abhandlung gegeben, welche er erſt we- nige Tage vor ſeinem Tode, im Maͤrz 1832, vollendete. Dieſe Ab- handlung fuͤhrt den Titel: „Principes de Philosophie zoologique par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire“; ſie iſt Goethe’s letztes Werk, und bildet in der Geſammtausgabe ſeiner Werke deren Schluß. Der Streit ſelbſt war in mehrfacher Beziehung von hoͤchſtem Jntereſſe. Er drehte ſich weſentlich um die Berechtigung der Entwickelungstheorie. Dabei wurde er im Schooße der franzoͤſiſchen Akademie von beiden Gegnern mit einer perſoͤnlichen Leidenſchaftlichkeit gefuͤhrt, welche in den wuͤrdevollen Sitzungen jener gelehrten Koͤrperſchaft faſt unerhoͤrt war, und welche bewies, daß beide Naturforſcher fuͤr ihre heiligſten und tief- ſten Ueberzeugungen kaͤmpften. Am 22 ſten Februar 1830 fand der er- ſte Konflikt ſtatt, welchem bald mehrere andere folgten, der heftigſte am 19. Juli 1830. Geoffroy als das Haupt der franzoͤſiſchen Natur- philoſophen vertrat die natuͤrliche Entwickelungstheorie und die ein- heitliche (moniſtiſche) Naturauffaſſung. Er behauptete die Veraͤnder- lichkeit der organiſchen Species, die gemeinſchaftliche Abſtammung der
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Goethe’s Theilnahme an der Naturphiloſophie.
Augen fuͤhren, den wir Goͤthe’s biologiſchen Forſchungen zuſchrei-
ben muͤſſen. Leider ſind die meiſten ſeiner darauf bezuͤglichen Arbei-
ten ſo verſteckt in ſeinen ſaͤmmtlichen Werken, und die wichtigſten Be-
obachtungen und Bemerkungen ſo zerſtreut in zahlreichen einzelnen
Aufſaͤtzen, die andere Themata behandeln, daß es ſchwer iſt, ſie her-
auszufinden. Auch iſt bisweilen eine vortreffliche, wahrhaft wiſſen-
ſchaftliche Bemerkung ſo eng mit einem Haufen unbrauchbarer natur-
philoſophiſcher Phantaſiegebilde verknuͤpft, daß letztere der erſteren gro-
ßen Eintrag thun.
Fuͤr das außerordentliche Jntereſſe, welches Goethe fuͤr die or-
ganiſche Naturforſchung hegte, iſt vielleicht Nichts bezeichnender, als
die lebendige Theilnahme, mit welcher er noch in ſeinen letzten Le-
bensjahren den in Frankreich ausgebrochenen Streit zwiſchen Cuvier
und Geoffroy S. Hilaire verfolgte. Goethe hat eine intereſ-
ſante Darſtellung dieſes merkwuͤrdigen Streites und ſeiner allgemei-
nen Bedeutung, ſowie eine treffliche Charakteriſtik der beiden großen
Gegner in einer beſonderen Abhandlung gegeben, welche er erſt we-
nige Tage vor ſeinem Tode, im Maͤrz 1832, vollendete. Dieſe Ab-
handlung fuͤhrt den Titel: „Principes de Philosophie zoologique
par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire“; ſie iſt Goethe’s letztes Werk,
und bildet in der Geſammtausgabe ſeiner Werke deren Schluß. Der
Streit ſelbſt war in mehrfacher Beziehung von hoͤchſtem Jntereſſe. Er
drehte ſich weſentlich um die Berechtigung der Entwickelungstheorie.
Dabei wurde er im Schooße der franzoͤſiſchen Akademie von beiden
Gegnern mit einer perſoͤnlichen Leidenſchaftlichkeit gefuͤhrt, welche in den
wuͤrdevollen Sitzungen jener gelehrten Koͤrperſchaft faſt unerhoͤrt war,
und welche bewies, daß beide Naturforſcher fuͤr ihre heiligſten und tief-
ſten Ueberzeugungen kaͤmpften. Am 22 ſten Februar 1830 fand der er-
ſte Konflikt ſtatt, welchem bald mehrere andere folgten, der heftigſte am
19. Juli 1830. Geoffroy als das Haupt der franzoͤſiſchen Natur-
philoſophen vertrat die natuͤrliche Entwickelungstheorie und die ein-
heitliche (moniſtiſche) Naturauffaſſung. Er behauptete die Veraͤnder-
lichkeit der organiſchen Species, die gemeinſchaftliche Abſtammung der
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/92>, abgerufen am 24.11.2024.
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