Cuviers Verdienste um die vergleichende Anatomie und Systematik.
den bedeutendsten Gegner der Abstammungslehre und der durch sie begründeten einheitlichen (monistischen) Naturauffassung zu bekämpfen haben.
Unter den vielen und großen Verdiensten Cuviers stehen obenan diejenigen, welche er sich als Gründer der vergleichenden Ana- tomie erwarb. Während Linne die Unterscheidung der Arten, Gattungen, Ordnungen und Klassen meistens auf äußere Charaktere, auf einzelne, leicht auffindbare Merkmale in der Zahl, Größe, Lage und Gestalt einzelner organischer Theile des Körpers gründete, drang Cuvier viel tiefer in das Wesen der Organisation ein. Er wies große und durchgreifende Verschiedenheiten in dem inneren Bau der Thiere als die wesentliche Grundlage einer wissenschaftlichen Erkennt- niß und Klassifikation derselben nach. Er unterschied natürliche Fami- lien im Thierreich, und er gründete auf deren vergleichende Anatomie sein natürliches System des Thierreichs.
Der Fortschritt von dem künstlichen System Linne's zu dem natürlichen System Cuviers war außerordentlich bedeutend. Linne hatte sämmtliche Thiere in eine einzige Reihe geordnet, welche er in sechs Klassen eintheilte, zwei wirbellose und vier Wirbelthierklassen. Er unterschied dieselben künstlich nach der Beschaffenheit des Blutes und des Herzens. Cuvier dagegen zeigte, daß man im Thierreich vier große natürliche Hauptabtheilungen unterscheiden müsse, welche er Hauptformen oder Generalpläne oder Zweige des Thierreichs (Em- branchements) nannte, nämlich 1) die Wirbelthiere (Vertebrata), 2) die Gliederthiere (Articulata), 3) die Weichthiere (Mollusca), und 4) die Strahlthiere (Radiata). Er wies ferner nach, daß in je- dem dieser vier Zweige ein eigenthümlicher Bauplan oder Typus er- kennbar sei, welcher diesen Zweig von jedem der drei andern Zweige unterscheidet. Bei den Wirbelthieren ist derselbe durch die Beschaffen- heit des Skelets oder Knochengerüstes, sowie durch die Bau und die Lage des Rückenmarks, abgesehen von vielen anderen Eigenthüm- lichkeiten, bestimmt ausgedrückt. Die Gliederthiere werden durch ihr Bauchmark und ihr Rückenherz charakterisirt. Für die Weichthiere ist
Cuviers Verdienſte um die vergleichende Anatomie und Syſtematik.
den bedeutendſten Gegner der Abſtammungslehre und der durch ſie begruͤndeten einheitlichen (moniſtiſchen) Naturauffaſſung zu bekaͤmpfen haben.
Unter den vielen und großen Verdienſten Cuviers ſtehen obenan diejenigen, welche er ſich als Gruͤnder der vergleichenden Ana- tomie erwarb. Waͤhrend Linné die Unterſcheidung der Arten, Gattungen, Ordnungen und Klaſſen meiſtens auf aͤußere Charaktere, auf einzelne, leicht auffindbare Merkmale in der Zahl, Groͤße, Lage und Geſtalt einzelner organiſcher Theile des Koͤrpers gruͤndete, drang Cuvier viel tiefer in das Weſen der Organiſation ein. Er wies große und durchgreifende Verſchiedenheiten in dem inneren Bau der Thiere als die weſentliche Grundlage einer wiſſenſchaftlichen Erkennt- niß und Klaſſifikation derſelben nach. Er unterſchied natuͤrliche Fami- lien im Thierreich, und er gruͤndete auf deren vergleichende Anatomie ſein natuͤrliches Syſtem des Thierreichs.
Der Fortſchritt von dem kuͤnſtlichen Syſtem Linné’s zu dem natuͤrlichen Syſtem Cuviers war außerordentlich bedeutend. Linné hatte ſaͤmmtliche Thiere in eine einzige Reihe geordnet, welche er in ſechs Klaſſen eintheilte, zwei wirbelloſe und vier Wirbelthierklaſſen. Er unterſchied dieſelben kuͤnſtlich nach der Beſchaffenheit des Blutes und des Herzens. Cuvier dagegen zeigte, daß man im Thierreich vier große natuͤrliche Hauptabtheilungen unterſcheiden muͤſſe, welche er Hauptformen oder Generalplaͤne oder Zweige des Thierreichs (Em- branchements) nannte, naͤmlich 1) die Wirbelthiere (Vertebrata), 2) die Gliederthiere (Articulata), 3) die Weichthiere (Mollusca), und 4) die Strahlthiere (Radiata). Er wies ferner nach, daß in je- dem dieſer vier Zweige ein eigenthuͤmlicher Bauplan oder Typus er- kennbar ſei, welcher dieſen Zweig von jedem der drei andern Zweige unterſcheidet. Bei den Wirbelthieren iſt derſelbe durch die Beſchaffen- heit des Skelets oder Knochengeruͤſtes, ſowie durch die Bau und die Lage des Ruͤckenmarks, abgeſehen von vielen anderen Eigenthuͤm- lichkeiten, beſtimmt ausgedruͤckt. Die Gliederthiere werden durch ihr Bauchmark und ihr Ruͤckenherz charakteriſirt. Fuͤr die Weichthiere iſt
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Cuviers Verdienſte um die vergleichende Anatomie und Syſtematik.
den bedeutendſten Gegner der Abſtammungslehre und der durch ſie
begruͤndeten einheitlichen (moniſtiſchen) Naturauffaſſung zu bekaͤmpfen
haben.
Unter den vielen und großen Verdienſten Cuviers ſtehen obenan
diejenigen, welche er ſich als Gruͤnder der vergleichenden Ana-
tomie erwarb. Waͤhrend Linné die Unterſcheidung der Arten,
Gattungen, Ordnungen und Klaſſen meiſtens auf aͤußere Charaktere,
auf einzelne, leicht auffindbare Merkmale in der Zahl, Groͤße, Lage
und Geſtalt einzelner organiſcher Theile des Koͤrpers gruͤndete, drang
Cuvier viel tiefer in das Weſen der Organiſation ein. Er wies
große und durchgreifende Verſchiedenheiten in dem inneren Bau der
Thiere als die weſentliche Grundlage einer wiſſenſchaftlichen Erkennt-
niß und Klaſſifikation derſelben nach. Er unterſchied natuͤrliche Fami-
lien im Thierreich, und er gruͤndete auf deren vergleichende Anatomie
ſein natuͤrliches Syſtem des Thierreichs.
Der Fortſchritt von dem kuͤnſtlichen Syſtem Linné’s zu dem
natuͤrlichen Syſtem Cuviers war außerordentlich bedeutend. Linné
hatte ſaͤmmtliche Thiere in eine einzige Reihe geordnet, welche er in
ſechs Klaſſen eintheilte, zwei wirbelloſe und vier Wirbelthierklaſſen. Er
unterſchied dieſelben kuͤnſtlich nach der Beſchaffenheit des Blutes und
des Herzens. Cuvier dagegen zeigte, daß man im Thierreich vier
große natuͤrliche Hauptabtheilungen unterſcheiden muͤſſe, welche er
Hauptformen oder Generalplaͤne oder Zweige des Thierreichs (Em-
branchements) nannte, naͤmlich 1) die Wirbelthiere (Vertebrata),
2) die Gliederthiere (Articulata), 3) die Weichthiere (Mollusca),
und 4) die Strahlthiere (Radiata). Er wies ferner nach, daß in je-
dem dieſer vier Zweige ein eigenthuͤmlicher Bauplan oder Typus er-
kennbar ſei, welcher dieſen Zweig von jedem der drei andern Zweige
unterſcheidet. Bei den Wirbelthieren iſt derſelbe durch die Beſchaffen-
heit des Skelets oder Knochengeruͤſtes, ſowie durch die Bau und die
Lage des Ruͤckenmarks, abgeſehen von vielen anderen Eigenthuͤm-
lichkeiten, beſtimmt ausgedruͤckt. Die Gliederthiere werden durch ihr
Bauchmark und ihr Ruͤckenherz charakteriſirt. Fuͤr die Weichthiere iſt
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/63>, abgerufen am 24.11.2024.
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