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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Fortschreitende Entwickelung des Menschengeschlechts.
Thatsache zusammenhalten, daß bei jedem einzelnen Menschenkinde sich
das Geistesleben aus dem tiefsten Zustande thierischer Bewußtlosigkeit
heraus langsam, stufenweise und allmählich entwickelt, sollen wir dann
noch daran Anstoß nehmen, daß auch der Geist des ganzen Menschen-
geschlechts sich in gleicher Art langsam und stufenweise historisch ent-
wickelt hat? Und sollen wir in dieser Thatsache, daß die Menschenseele
durch einen langen und langsamen Proceß der Differenzirung und
Vervollkommnung sich ganz allmählich aus der Wirbelthierseele hervor-
gebildet hat, eine "Entwürdigung" des menschlichen Geistes finden?
Jch gestehe Jhnen offen, daß diese letztere Anschauung, welche gegen-
wärtig von vielen Menschen der Pithekoidentheorie entgegengehalten
wird, mir ganz unbegreiflich ist. Sehr richtig sagt darüber Bern-
hard Cotta
in seiner trefflichen Geologie der Gegenwart: "Unsere
Vorfahren können uns sehr zur Ehre gereichen; viel besser noch aber
ist es, wenn wir ihnen zur Ehre gereichen" 31). Wenn irgend eine
Theorie vom Ursprung des Menschengeschlechts entwürdigend und trost-
los ist, so muß es ganz gewiß der vielverbreitete Mythus sein, daß
wir von einem sündenlosen Elternpaare abstammen, welches durch den
ersten Sündenfall sich mit dem Fluche der Sünde belud und diesen
nun auf seine ganze Nachkommenschaft vererbte; wir müßten dann
fürchten, nach den Vererbungsgesetzen schrittweise einer immer tieferen
Erniedrigung und einem immer traurigeren Verfall entgegen zu gehen.

Unsere Entwickelungslehre behauptet aber vom Ursprunge des
Menschen und dem Laufe seiner historischen Entwickelung das Gegen-
theil. Wir erblicken in seiner stufenweise aufsteigenden Entwickelung
aus den niederen Wirbelthieren den höchsten Triumph der Menschen-
natur über die gesammte übrige Natur. Wir sind stolz darauf, un-
sere niederen thierischen Vorfahren so unendlich weit überflügelt zu ha-
ben, und entnehmen daraus die tröstliche Gewißheit, daß auch in Zu-
kunft das Menschengeschlecht im Großen und Ganzen die ruhmvolle
Bahn fortschreitender Entwickelung verfolgen, und eine immer höhere
Stufe geistiger Vollkommenheit erklimmen wird. Jn diesem Sinne
betrachtet, eröffnet uns die Entwickelungslehre in ihrer Anwendung

Fortſchreitende Entwickelung des Menſchengeſchlechts.
Thatſache zuſammenhalten, daß bei jedem einzelnen Menſchenkinde ſich
das Geiſtesleben aus dem tiefſten Zuſtande thieriſcher Bewußtloſigkeit
heraus langſam, ſtufenweiſe und allmaͤhlich entwickelt, ſollen wir dann
noch daran Anſtoß nehmen, daß auch der Geiſt des ganzen Menſchen-
geſchlechts ſich in gleicher Art langſam und ſtufenweiſe hiſtoriſch ent-
wickelt hat? Und ſollen wir in dieſer Thatſache, daß die Menſchenſeele
durch einen langen und langſamen Proceß der Differenzirung und
Vervollkommnung ſich ganz allmaͤhlich aus der Wirbelthierſeele hervor-
gebildet hat, eine „Entwuͤrdigung“ des menſchlichen Geiſtes finden?
Jch geſtehe Jhnen offen, daß dieſe letztere Anſchauung, welche gegen-
waͤrtig von vielen Menſchen der Pithekoidentheorie entgegengehalten
wird, mir ganz unbegreiflich iſt. Sehr richtig ſagt daruͤber Bern-
hard Cotta
in ſeiner trefflichen Geologie der Gegenwart: „Unſere
Vorfahren koͤnnen uns ſehr zur Ehre gereichen; viel beſſer noch aber
iſt es, wenn wir ihnen zur Ehre gereichen“ 31). Wenn irgend eine
Theorie vom Urſprung des Menſchengeſchlechts entwuͤrdigend und troſt-
los iſt, ſo muß es ganz gewiß der vielverbreitete Mythus ſein, daß
wir von einem ſuͤndenloſen Elternpaare abſtammen, welches durch den
erſten Suͤndenfall ſich mit dem Fluche der Suͤnde belud und dieſen
nun auf ſeine ganze Nachkommenſchaft vererbte; wir muͤßten dann
fuͤrchten, nach den Vererbungsgeſetzen ſchrittweiſe einer immer tieferen
Erniedrigung und einem immer traurigeren Verfall entgegen zu gehen.

Unſere Entwickelungslehre behauptet aber vom Urſprunge des
Menſchen und dem Laufe ſeiner hiſtoriſchen Entwickelung das Gegen-
theil. Wir erblicken in ſeiner ſtufenweiſe aufſteigenden Entwickelung
aus den niederen Wirbelthieren den hoͤchſten Triumph der Menſchen-
natur uͤber die geſammte uͤbrige Natur. Wir ſind ſtolz darauf, un-
ſere niederen thieriſchen Vorfahren ſo unendlich weit uͤberfluͤgelt zu ha-
ben, und entnehmen daraus die troͤſtliche Gewißheit, daß auch in Zu-
kunft das Menſchengeſchlecht im Großen und Ganzen die ruhmvolle
Bahn fortſchreitender Entwickelung verfolgen, und eine immer hoͤhere
Stufe geiſtiger Vollkommenheit erklimmen wird. Jn dieſem Sinne
betrachtet, eroͤffnet uns die Entwickelungslehre in ihrer Anwendung

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[550/0575] Fortſchreitende Entwickelung des Menſchengeſchlechts. Thatſache zuſammenhalten, daß bei jedem einzelnen Menſchenkinde ſich das Geiſtesleben aus dem tiefſten Zuſtande thieriſcher Bewußtloſigkeit heraus langſam, ſtufenweiſe und allmaͤhlich entwickelt, ſollen wir dann noch daran Anſtoß nehmen, daß auch der Geiſt des ganzen Menſchen- geſchlechts ſich in gleicher Art langſam und ſtufenweiſe hiſtoriſch ent- wickelt hat? Und ſollen wir in dieſer Thatſache, daß die Menſchenſeele durch einen langen und langſamen Proceß der Differenzirung und Vervollkommnung ſich ganz allmaͤhlich aus der Wirbelthierſeele hervor- gebildet hat, eine „Entwuͤrdigung“ des menſchlichen Geiſtes finden? Jch geſtehe Jhnen offen, daß dieſe letztere Anſchauung, welche gegen- waͤrtig von vielen Menſchen der Pithekoidentheorie entgegengehalten wird, mir ganz unbegreiflich iſt. Sehr richtig ſagt daruͤber Bern- hard Cotta in ſeiner trefflichen Geologie der Gegenwart: „Unſere Vorfahren koͤnnen uns ſehr zur Ehre gereichen; viel beſſer noch aber iſt es, wenn wir ihnen zur Ehre gereichen“ 31). Wenn irgend eine Theorie vom Urſprung des Menſchengeſchlechts entwuͤrdigend und troſt- los iſt, ſo muß es ganz gewiß der vielverbreitete Mythus ſein, daß wir von einem ſuͤndenloſen Elternpaare abſtammen, welches durch den erſten Suͤndenfall ſich mit dem Fluche der Suͤnde belud und dieſen nun auf ſeine ganze Nachkommenſchaft vererbte; wir muͤßten dann fuͤrchten, nach den Vererbungsgeſetzen ſchrittweiſe einer immer tieferen Erniedrigung und einem immer traurigeren Verfall entgegen zu gehen. Unſere Entwickelungslehre behauptet aber vom Urſprunge des Menſchen und dem Laufe ſeiner hiſtoriſchen Entwickelung das Gegen- theil. Wir erblicken in ſeiner ſtufenweiſe aufſteigenden Entwickelung aus den niederen Wirbelthieren den hoͤchſten Triumph der Menſchen- natur uͤber die geſammte uͤbrige Natur. Wir ſind ſtolz darauf, un- ſere niederen thieriſchen Vorfahren ſo unendlich weit uͤberfluͤgelt zu ha- ben, und entnehmen daraus die troͤſtliche Gewißheit, daß auch in Zu- kunft das Menſchengeſchlecht im Großen und Ganzen die ruhmvolle Bahn fortſchreitender Entwickelung verfolgen, und eine immer hoͤhere Stufe geiſtiger Vollkommenheit erklimmen wird. Jn dieſem Sinne betrachtet, eroͤffnet uns die Entwickelungslehre in ihrer Anwendung

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 550. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/575>, abgerufen am 25.11.2024.