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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Seelenleben der höheren Wirbelthiere.
Vögeln und Säugethieren. Wenn Sie in herkömmlicher Weise als
die drei Hauptgruppen der verschiedenen Seelenbewegungen das Em-
pfinden, Wollen und Denken unterscheiden, so finden Sie, daß in
jeder dieser Beziehungen die höchst entwickelten Vögel und Säuge-
thiere jenen niedersten Menschenschenformen sich an die Seite stellen,
oder sie selbst entschieden überflügeln. Der Wille ist bei den höheren
Thieren ebenso entschieden und stark, wie bei charaktervollen Menschen
entwickelt. Hier wie dort ist er niemals eigentlich frei, sondern stets durch
eine Kette von ursächlichen Vorstellungen bedingt (Vergl. S. 189). Auch
stufen sich die verschiedenen Grade des Willens, der Energie und der
Leidenschaft, bei den höhern Thieren ebenso mannichfaltig, als bei den
Menschen ab. Die Empfindungen der höheren Thiere sind nicht
weniger zart und warm, als die der Menschen. Die Treue und An-
hänglichkeit des Hundes, die Mutterliebe der Löwin, die Gattenliebe
und eheliche Treue der Tauben und der Jnseparables ist sprichwört-
lich, und wie vielen Menschen könnten sie zum Muster dienen! Wenn
man hier die Tugenden als "Jnstinkte" zu bezeichnen pflegt, so verdie-
nen sie beim Menschen ganz dieselbe Bezeichnung. Was endlich das
Denken betrifft, dessen vergleichende Betrachtung zweifelsohne die
meisten Schwierigkeiten bietet, so läßt sich doch schon aus der ver-
gleichenden psychologischen Untersuchung, namentlich der kultivirten
Hausthiere, so viel mit Sicherheit entnehmen, daß die Vorgänge des
Denkens hier nach denselben Gesetzen, wie bei uns, erfolgen. Ueber-
all liegen Erfahrungen den Vorstellungen zu Grunde und vermitteln
die Erkenntniß des Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung.
Ueberall ist es, wie beim Menschen, der Weg der Jnduction und De-
duction, welcher zur Bildung der Schlüsse führt. Offenbar stehen in
allen diesen Beziehungen die höchst entwickelten Thiere dem Menschen
viel näher als den niederen Thieren, obgleich sie durch eine lange
Kette von allmählichen Zwischenstufen auch mit den letzteren verbun-
den sind.

Wenn Sie nun, nach beiden Richtungen hin vergleichend, die
niedersten affenähnlichsten Menschenformen, die Australneger, Busch-

Seelenleben der hoͤheren Wirbelthiere.
Voͤgeln und Saͤugethieren. Wenn Sie in herkoͤmmlicher Weiſe als
die drei Hauptgruppen der verſchiedenen Seelenbewegungen das Em-
pfinden, Wollen und Denken unterſcheiden, ſo finden Sie, daß in
jeder dieſer Beziehungen die hoͤchſt entwickelten Voͤgel und Saͤuge-
thiere jenen niederſten Menſchenſchenformen ſich an die Seite ſtellen,
oder ſie ſelbſt entſchieden uͤberfluͤgeln. Der Wille iſt bei den hoͤheren
Thieren ebenſo entſchieden und ſtark, wie bei charaktervollen Menſchen
entwickelt. Hier wie dort iſt er niemals eigentlich frei, ſondern ſtets durch
eine Kette von urſaͤchlichen Vorſtellungen bedingt (Vergl. S. 189). Auch
ſtufen ſich die verſchiedenen Grade des Willens, der Energie und der
Leidenſchaft, bei den hoͤhern Thieren ebenſo mannichfaltig, als bei den
Menſchen ab. Die Empfindungen der hoͤheren Thiere ſind nicht
weniger zart und warm, als die der Menſchen. Die Treue und An-
haͤnglichkeit des Hundes, die Mutterliebe der Loͤwin, die Gattenliebe
und eheliche Treue der Tauben und der Jnſeparables iſt ſprichwoͤrt-
lich, und wie vielen Menſchen koͤnnten ſie zum Muſter dienen! Wenn
man hier die Tugenden als „Jnſtinkte“ zu bezeichnen pflegt, ſo verdie-
nen ſie beim Menſchen ganz dieſelbe Bezeichnung. Was endlich das
Denken betrifft, deſſen vergleichende Betrachtung zweifelsohne die
meiſten Schwierigkeiten bietet, ſo laͤßt ſich doch ſchon aus der ver-
gleichenden pſychologiſchen Unterſuchung, namentlich der kultivirten
Hausthiere, ſo viel mit Sicherheit entnehmen, daß die Vorgaͤnge des
Denkens hier nach denſelben Geſetzen, wie bei uns, erfolgen. Ueber-
all liegen Erfahrungen den Vorſtellungen zu Grunde und vermitteln
die Erkenntniß des Zuſammenhangs zwiſchen Urſache und Wirkung.
Ueberall iſt es, wie beim Menſchen, der Weg der Jnduction und De-
duction, welcher zur Bildung der Schluͤſſe fuͤhrt. Offenbar ſtehen in
allen dieſen Beziehungen die hoͤchſt entwickelten Thiere dem Menſchen
viel naͤher als den niederen Thieren, obgleich ſie durch eine lange
Kette von allmaͤhlichen Zwiſchenſtufen auch mit den letzteren verbun-
den ſind.

Wenn Sie nun, nach beiden Richtungen hin vergleichend, die
niederſten affenaͤhnlichſten Menſchenformen, die Auſtralneger, Buſch-

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[548/0573] Seelenleben der hoͤheren Wirbelthiere. Voͤgeln und Saͤugethieren. Wenn Sie in herkoͤmmlicher Weiſe als die drei Hauptgruppen der verſchiedenen Seelenbewegungen das Em- pfinden, Wollen und Denken unterſcheiden, ſo finden Sie, daß in jeder dieſer Beziehungen die hoͤchſt entwickelten Voͤgel und Saͤuge- thiere jenen niederſten Menſchenſchenformen ſich an die Seite ſtellen, oder ſie ſelbſt entſchieden uͤberfluͤgeln. Der Wille iſt bei den hoͤheren Thieren ebenſo entſchieden und ſtark, wie bei charaktervollen Menſchen entwickelt. Hier wie dort iſt er niemals eigentlich frei, ſondern ſtets durch eine Kette von urſaͤchlichen Vorſtellungen bedingt (Vergl. S. 189). Auch ſtufen ſich die verſchiedenen Grade des Willens, der Energie und der Leidenſchaft, bei den hoͤhern Thieren ebenſo mannichfaltig, als bei den Menſchen ab. Die Empfindungen der hoͤheren Thiere ſind nicht weniger zart und warm, als die der Menſchen. Die Treue und An- haͤnglichkeit des Hundes, die Mutterliebe der Loͤwin, die Gattenliebe und eheliche Treue der Tauben und der Jnſeparables iſt ſprichwoͤrt- lich, und wie vielen Menſchen koͤnnten ſie zum Muſter dienen! Wenn man hier die Tugenden als „Jnſtinkte“ zu bezeichnen pflegt, ſo verdie- nen ſie beim Menſchen ganz dieſelbe Bezeichnung. Was endlich das Denken betrifft, deſſen vergleichende Betrachtung zweifelsohne die meiſten Schwierigkeiten bietet, ſo laͤßt ſich doch ſchon aus der ver- gleichenden pſychologiſchen Unterſuchung, namentlich der kultivirten Hausthiere, ſo viel mit Sicherheit entnehmen, daß die Vorgaͤnge des Denkens hier nach denſelben Geſetzen, wie bei uns, erfolgen. Ueber- all liegen Erfahrungen den Vorſtellungen zu Grunde und vermitteln die Erkenntniß des Zuſammenhangs zwiſchen Urſache und Wirkung. Ueberall iſt es, wie beim Menſchen, der Weg der Jnduction und De- duction, welcher zur Bildung der Schluͤſſe fuͤhrt. Offenbar ſtehen in allen dieſen Beziehungen die hoͤchſt entwickelten Thiere dem Menſchen viel naͤher als den niederen Thieren, obgleich ſie durch eine lange Kette von allmaͤhlichen Zwiſchenſtufen auch mit den letzteren verbun- den ſind. Wenn Sie nun, nach beiden Richtungen hin vergleichend, die niederſten affenaͤhnlichſten Menſchenformen, die Auſtralneger, Buſch-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/573>, abgerufen am 22.11.2024.