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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Beutelthiere oder Marsupialien.

Die Beutelthiere führen ihren Namen von der bei den meisten
wohl entwickelten beutelförmigen Tasche (Marsupium), welche sich an
der Bauchseite der weiblichen Thiere vorfindet, und in welcher die
Mutter ihre Jungen noch eine geraume Zeit lang nach der Geburt um-
herträgt. Dieser Beutel wird durch zwei charakteristische Beutelknochen
gestützt, welche auch den Schnabelthieren zukommen, den Placental-
thieren dagegen fehlen. Das junge Beutelthier wird in viel unvoll-
kommener Gestalt geboren, als das junge Placentalthier, und erreicht
erst, nachdem es einige Zeit im Beutel sich entwickelt hat, denjenigen
Grad der Ausbildung, welchen das letztere schon gleich bei seiner Ge-
burt besitzt. Bei dem Riesenkänguruh, welches Mannshöhe erreicht,
ist das neugeborene Junge, welches nicht viel über fünf Wochen von
der Mutter im Fruchtbehälter getragen wurde, nicht mehr als zolllang,
und erreicht seine wesentliche Ausbildung erst in dem Beutel der Mutter,
wo es gegen neun Monate, an der Zitze der Milchdrüse festgesaugt,
hängen bleibt.

Die verschiedenen Abtheilungen, welche man gewöhnlich als so-
genannte Familien in der Unterklasse der Beutelthiere unterscheidet, ver-
dienen eigentlich den Rang von selbstständigen Ordnungen, da sie sich
in der mannichfaltigen Differenzirung des Gebisses und der Gliedmaßen
in ähnlicher Weise, wenn auch nicht so scharf, von einander unter-
scheiden, wie die verschiedenen Ordnungen der Placentalthiere. Zum
Theil entsprechen sie den letzteren vollkommen. Offenbar hat die An-
passung an ähnliche Lebensverhältnisse in den beiden Unterklassen der
Marsupialien und Placentalien ganz entsprechende oder analoge Um-
bildungen der ursprünglichen Grundform bewirkt. Man kann in dieser
Hinsicht ungefähr acht Ordnungen von Beutelthieren unterscheiden,
von denen die eine Hälfte die Hauptgruppe oder Legion der pflanzen-
fressenden, die andere Hälfte die Legion der fleischfressenden Marsu-
pialien bildet. Von beiden Legionen finden sich (falls man nicht auch
den vorher erwähnten Mikrolestes und das Dromatherium der Trias
hierher ziehen will) die ältesten fossilen Reste im Jura vor, und zwar
in den Schiefern von Stonesfield, bei Oxford in England. Diese

Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 30
Beutelthiere oder Marſupialien.

Die Beutelthiere fuͤhren ihren Namen von der bei den meiſten
wohl entwickelten beutelfoͤrmigen Taſche (Marsupium), welche ſich an
der Bauchſeite der weiblichen Thiere vorfindet, und in welcher die
Mutter ihre Jungen noch eine geraume Zeit lang nach der Geburt um-
hertraͤgt. Dieſer Beutel wird durch zwei charakteriſtiſche Beutelknochen
geſtuͤtzt, welche auch den Schnabelthieren zukommen, den Placental-
thieren dagegen fehlen. Das junge Beutelthier wird in viel unvoll-
kommener Geſtalt geboren, als das junge Placentalthier, und erreicht
erſt, nachdem es einige Zeit im Beutel ſich entwickelt hat, denjenigen
Grad der Ausbildung, welchen das letztere ſchon gleich bei ſeiner Ge-
burt beſitzt. Bei dem Rieſenkaͤnguruh, welches Mannshoͤhe erreicht,
iſt das neugeborene Junge, welches nicht viel uͤber fuͤnf Wochen von
der Mutter im Fruchtbehaͤlter getragen wurde, nicht mehr als zolllang,
und erreicht ſeine weſentliche Ausbildung erſt in dem Beutel der Mutter,
wo es gegen neun Monate, an der Zitze der Milchdruͤſe feſtgeſaugt,
haͤngen bleibt.

Die verſchiedenen Abtheilungen, welche man gewoͤhnlich als ſo-
genannte Familien in der Unterklaſſe der Beutelthiere unterſcheidet, ver-
dienen eigentlich den Rang von ſelbſtſtaͤndigen Ordnungen, da ſie ſich
in der mannichfaltigen Differenzirung des Gebiſſes und der Gliedmaßen
in aͤhnlicher Weiſe, wenn auch nicht ſo ſcharf, von einander unter-
ſcheiden, wie die verſchiedenen Ordnungen der Placentalthiere. Zum
Theil entſprechen ſie den letzteren vollkommen. Offenbar hat die An-
paſſung an aͤhnliche Lebensverhaͤltniſſe in den beiden Unterklaſſen der
Marſupialien und Placentalien ganz entſprechende oder analoge Um-
bildungen der urſpruͤnglichen Grundform bewirkt. Man kann in dieſer
Hinſicht ungefaͤhr acht Ordnungen von Beutelthieren unterſcheiden,
von denen die eine Haͤlfte die Hauptgruppe oder Legion der pflanzen-
freſſenden, die andere Haͤlfte die Legion der fleiſchfreſſenden Marſu-
pialien bildet. Von beiden Legionen finden ſich (falls man nicht auch
den vorher erwaͤhnten Mikroleſtes und das Dromatherium der Trias
hierher ziehen will) die aͤlteſten foſſilen Reſte im Jura vor, und zwar
in den Schiefern von Stonesfield, bei Oxford in England. Dieſe

Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 30
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[465/0490] Beutelthiere oder Marſupialien. Die Beutelthiere fuͤhren ihren Namen von der bei den meiſten wohl entwickelten beutelfoͤrmigen Taſche (Marsupium), welche ſich an der Bauchſeite der weiblichen Thiere vorfindet, und in welcher die Mutter ihre Jungen noch eine geraume Zeit lang nach der Geburt um- hertraͤgt. Dieſer Beutel wird durch zwei charakteriſtiſche Beutelknochen geſtuͤtzt, welche auch den Schnabelthieren zukommen, den Placental- thieren dagegen fehlen. Das junge Beutelthier wird in viel unvoll- kommener Geſtalt geboren, als das junge Placentalthier, und erreicht erſt, nachdem es einige Zeit im Beutel ſich entwickelt hat, denjenigen Grad der Ausbildung, welchen das letztere ſchon gleich bei ſeiner Ge- burt beſitzt. Bei dem Rieſenkaͤnguruh, welches Mannshoͤhe erreicht, iſt das neugeborene Junge, welches nicht viel uͤber fuͤnf Wochen von der Mutter im Fruchtbehaͤlter getragen wurde, nicht mehr als zolllang, und erreicht ſeine weſentliche Ausbildung erſt in dem Beutel der Mutter, wo es gegen neun Monate, an der Zitze der Milchdruͤſe feſtgeſaugt, haͤngen bleibt. Die verſchiedenen Abtheilungen, welche man gewoͤhnlich als ſo- genannte Familien in der Unterklaſſe der Beutelthiere unterſcheidet, ver- dienen eigentlich den Rang von ſelbſtſtaͤndigen Ordnungen, da ſie ſich in der mannichfaltigen Differenzirung des Gebiſſes und der Gliedmaßen in aͤhnlicher Weiſe, wenn auch nicht ſo ſcharf, von einander unter- ſcheiden, wie die verſchiedenen Ordnungen der Placentalthiere. Zum Theil entſprechen ſie den letzteren vollkommen. Offenbar hat die An- paſſung an aͤhnliche Lebensverhaͤltniſſe in den beiden Unterklaſſen der Marſupialien und Placentalien ganz entſprechende oder analoge Um- bildungen der urſpruͤnglichen Grundform bewirkt. Man kann in dieſer Hinſicht ungefaͤhr acht Ordnungen von Beutelthieren unterſcheiden, von denen die eine Haͤlfte die Hauptgruppe oder Legion der pflanzen- freſſenden, die andere Haͤlfte die Legion der fleiſchfreſſenden Marſu- pialien bildet. Von beiden Legionen finden ſich (falls man nicht auch den vorher erwaͤhnten Mikroleſtes und das Dromatherium der Trias hierher ziehen will) die aͤlteſten foſſilen Reſte im Jura vor, und zwar in den Schiefern von Stonesfield, bei Oxford in England. Dieſe Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 30

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/490>, abgerufen am 24.11.2024.