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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Rohrherzen oder Schädellose. Lanzetthierchen oder Amphioxus.

Auf der niedrigsten Organisationsstufe von allen uns bekannten
Wirbelthieren steht der einzige noch lebende Vertreter der ersten Klasse,
das Lanzetfischchen oder Lanzetthierchen (Amphioxus lan-
ceolatus).
Dieses höchst interessante und wichtige Thierchen, welches
über die älteren Wurzeln unseres Stammbaumes ein überraschendes
Licht verbreitet, ist offenbar der letzte Mohikaner, der letzte überlebende
Repräsentant einer formenreichen niederen Wirbelthierklasse, welche wäh-
rend der Primordialzeit sehr entwickelt war, uns aber leider wegen des
Mangels aller festen Skelettheile gar keine versteinerten Reste hinter-
lassen konnte. Das kleine Lanzetfischchen lebt heute noch weitver-
breitet in verschiedenen Meeren, z. B. in der Ostsee, Nordsee, im
Mittelmeere, gewöhnlich auf flachem Strande im Sand vergraben.
Der Körper hat, wie der Name sagt, die Gestalt eines schmalen, an
beiden Enden zugespitzten, lanzettförmigen Blattes. Erwachsen ist
dasselbe etwa zwei Zoll lang, und röthlich schimmernd, halb durch-
sichtig. Aeußerlich hat das Lanzetthierchen so wenig Aehnlichkeit mit
einem Wirbelthier, daß sein erster Entdecker, Pallas, es für eine un-
vollkommene Nacktschnecke hielt. Beine besitzt es nicht, und ebenso
wenig Kopf, Schädel und Gehirn. Das vordere Körperende ist äußer-
lich von dem hinteren fast nur durch die Mundöffnung zu unterschei-
den. Aber dennoch besitzt der Amphioxus in seinem inneren Bau die
wichtigsten Merkmale, durch welche sich alle Wirbelthiere von allen
Wirbellosen unterscheiden, vor allen den Rückenstrang und das Rücken-
mark. Der Rückenstrang (Chorda dorsalis) ist ein cylindrischer,
vorn und hinten zugespitzter, grader Knorpelstab, welcher die centrale
Axe des inneren Skelets, und die Grundlage der Wirbelsäule bildet.
Unmittelbar über diesem Rückenstrang, auf der Rückenseite desselben,
liegt das Rückenmark (Medulla spinalis), ebenfalls ursprünglich
ein grader, vorn und hinten zugespitzter, inwendig aber hohler
Strang, welcher das Hauptstück und Centrum des Nervensystems bei
allen Wirbelthieren bildet (Vergl. oben S. 247, 248). Bei allen
Wirbelthieren ohne Ausnahme, auch den Menschen mit inbegriffen,
werden diese wichtigsten Körpertheile während der embryonalen Ent-

Rohrherzen oder Schaͤdelloſe. Lanzetthierchen oder Amphioxus.

Auf der niedrigſten Organiſationsſtufe von allen uns bekannten
Wirbelthieren ſteht der einzige noch lebende Vertreter der erſten Klaſſe,
das Lanzetfiſchchen oder Lanzetthierchen (Amphioxus lan-
ceolatus).
Dieſes hoͤchſt intereſſante und wichtige Thierchen, welches
uͤber die aͤlteren Wurzeln unſeres Stammbaumes ein uͤberraſchendes
Licht verbreitet, iſt offenbar der letzte Mohikaner, der letzte uͤberlebende
Repraͤſentant einer formenreichen niederen Wirbelthierklaſſe, welche waͤh-
rend der Primordialzeit ſehr entwickelt war, uns aber leider wegen des
Mangels aller feſten Skelettheile gar keine verſteinerten Reſte hinter-
laſſen konnte. Das kleine Lanzetfiſchchen lebt heute noch weitver-
breitet in verſchiedenen Meeren, z. B. in der Oſtſee, Nordſee, im
Mittelmeere, gewoͤhnlich auf flachem Strande im Sand vergraben.
Der Koͤrper hat, wie der Name ſagt, die Geſtalt eines ſchmalen, an
beiden Enden zugeſpitzten, lanzettfoͤrmigen Blattes. Erwachſen iſt
daſſelbe etwa zwei Zoll lang, und roͤthlich ſchimmernd, halb durch-
ſichtig. Aeußerlich hat das Lanzetthierchen ſo wenig Aehnlichkeit mit
einem Wirbelthier, daß ſein erſter Entdecker, Pallas, es fuͤr eine un-
vollkommene Nacktſchnecke hielt. Beine beſitzt es nicht, und ebenſo
wenig Kopf, Schaͤdel und Gehirn. Das vordere Koͤrperende iſt aͤußer-
lich von dem hinteren faſt nur durch die Mundoͤffnung zu unterſchei-
den. Aber dennoch beſitzt der Amphioxus in ſeinem inneren Bau die
wichtigſten Merkmale, durch welche ſich alle Wirbelthiere von allen
Wirbelloſen unterſcheiden, vor allen den Ruͤckenſtrang und das Ruͤcken-
mark. Der Ruͤckenſtrang (Chorda dorsalis) iſt ein cylindriſcher,
vorn und hinten zugeſpitzter, grader Knorpelſtab, welcher die centrale
Axe des inneren Skelets, und die Grundlage der Wirbelſaͤule bildet.
Unmittelbar uͤber dieſem Ruͤckenſtrang, auf der Ruͤckenſeite deſſelben,
liegt das Ruͤckenmark (Medulla spinalis), ebenfalls urſpruͤnglich
ein grader, vorn und hinten zugeſpitzter, inwendig aber hohler
Strang, welcher das Hauptſtuͤck und Centrum des Nervenſyſtems bei
allen Wirbelthieren bildet (Vergl. oben S. 247, 248). Bei allen
Wirbelthieren ohne Ausnahme, auch den Menſchen mit inbegriffen,
werden dieſe wichtigſten Koͤrpertheile waͤhrend der embryonalen Ent-

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[437/0462] Rohrherzen oder Schaͤdelloſe. Lanzetthierchen oder Amphioxus. Auf der niedrigſten Organiſationsſtufe von allen uns bekannten Wirbelthieren ſteht der einzige noch lebende Vertreter der erſten Klaſſe, das Lanzetfiſchchen oder Lanzetthierchen (Amphioxus lan- ceolatus). Dieſes hoͤchſt intereſſante und wichtige Thierchen, welches uͤber die aͤlteren Wurzeln unſeres Stammbaumes ein uͤberraſchendes Licht verbreitet, iſt offenbar der letzte Mohikaner, der letzte uͤberlebende Repraͤſentant einer formenreichen niederen Wirbelthierklaſſe, welche waͤh- rend der Primordialzeit ſehr entwickelt war, uns aber leider wegen des Mangels aller feſten Skelettheile gar keine verſteinerten Reſte hinter- laſſen konnte. Das kleine Lanzetfiſchchen lebt heute noch weitver- breitet in verſchiedenen Meeren, z. B. in der Oſtſee, Nordſee, im Mittelmeere, gewoͤhnlich auf flachem Strande im Sand vergraben. Der Koͤrper hat, wie der Name ſagt, die Geſtalt eines ſchmalen, an beiden Enden zugeſpitzten, lanzettfoͤrmigen Blattes. Erwachſen iſt daſſelbe etwa zwei Zoll lang, und roͤthlich ſchimmernd, halb durch- ſichtig. Aeußerlich hat das Lanzetthierchen ſo wenig Aehnlichkeit mit einem Wirbelthier, daß ſein erſter Entdecker, Pallas, es fuͤr eine un- vollkommene Nacktſchnecke hielt. Beine beſitzt es nicht, und ebenſo wenig Kopf, Schaͤdel und Gehirn. Das vordere Koͤrperende iſt aͤußer- lich von dem hinteren faſt nur durch die Mundoͤffnung zu unterſchei- den. Aber dennoch beſitzt der Amphioxus in ſeinem inneren Bau die wichtigſten Merkmale, durch welche ſich alle Wirbelthiere von allen Wirbelloſen unterſcheiden, vor allen den Ruͤckenſtrang und das Ruͤcken- mark. Der Ruͤckenſtrang (Chorda dorsalis) iſt ein cylindriſcher, vorn und hinten zugeſpitzter, grader Knorpelſtab, welcher die centrale Axe des inneren Skelets, und die Grundlage der Wirbelſaͤule bildet. Unmittelbar uͤber dieſem Ruͤckenſtrang, auf der Ruͤckenſeite deſſelben, liegt das Ruͤckenmark (Medulla spinalis), ebenfalls urſpruͤnglich ein grader, vorn und hinten zugeſpitzter, inwendig aber hohler Strang, welcher das Hauptſtuͤck und Centrum des Nervenſyſtems bei allen Wirbelthieren bildet (Vergl. oben S. 247, 248). Bei allen Wirbelthieren ohne Ausnahme, auch den Menſchen mit inbegriffen, werden dieſe wichtigſten Koͤrpertheile waͤhrend der embryonalen Ent-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/462>, abgerufen am 24.11.2024.