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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Entstehung der Seesterne aus Stöcken von Gliedwürmern.
Hier haben sie sich eine gemeinschaftliche Mundöffnung und eine ge-
meinsame Verdauungshöhle (Magen) gebildet, die in der mittleren
Körperscheibe liegen. Das verwachsene Ende, welches in die ge-
meinsame Mittelscheibe mündet, ist wahrscheinlich das Hinterende
der ursprünglichen selbstständigen Würmer; denn das entgegengesetzte
freie Ende trägt zusammengesetzte Augen, wie sie außerdem nur noch
an dem Kopfe der Gliedfüßer (Arthropoden) vorkommen.

Jn ganz ähnlicher Weise sind auch bei den ungegliederten Wür-
mern bisweilen mehrere Jndividuen zur Bildung eines sternförmigen
Stockes vereinigt. Das ist namentlich bei den Botrylliden der
Fall, zusammengesetzten Seescheiden oder Ascidien, welche zur Klasse
der Mantelthiere (Tunicaten) gehören. Auch hier sind die einzelnen
Würmer mit ihrem hinteren Ende, wie ein Rattenkönig, verwachsen,
und haben sich hier eine gemeinsame Auswurfsöffnung, eine Central-
kloake gebildet, während am vorderen Ende noch jeder Wurm seine
eigene Mundöffnung besitzt. Bei den Seesternen würde die letztere
im Laufe der historischen Stockentwickelung zugewachsen sein, während
sich die Centralkloake zu einem gemeinsamen Mund für den ganzen
Stock ausbildete.

Die Seesterne würden demnach Würmerstöcke sein, welche sich
entweder durch sternförmige Knospenbildung oder durch sternförmige
Verwachsung aus echten gegliederten Würmern oder Colelminthen
entwickelt haben. Diese Hypothese wird auf das Stärkste durch die
vergleichende Anatomie und Ontogenie der gegliederten Seesterne
(Colastra) und der gegliederten Würmer (Colelminthes) gestützt.
Unter den letzteren stehen in Bezug auf den inneren Bau einerseits
die Sternwürmer (Gephyrea), andrerseits die Ringelwürmer
(Annelida) den einzelnen Armen oder Strahltheilen der Seesterne,
d. h. den ursprünglichen Einzelwürmern, ganz nahe. Was aber das
Wichtigste ist, aus den Eiern der Echinodermen entwickeln sich be-
wimperte Larven, welche nicht die geringste Aehnlichkeit mit den erwach-
senen Sternthieren zeigen, dagegen den Larven gewisser Sternwürmer
und mancher Ringelwürmer höchst ähnlich sind. Diese bilateral-sym-

Entſtehung der Seeſterne aus Stoͤcken von Gliedwuͤrmern.
Hier haben ſie ſich eine gemeinſchaftliche Mundoͤffnung und eine ge-
meinſame Verdauungshoͤhle (Magen) gebildet, die in der mittleren
Koͤrperſcheibe liegen. Das verwachſene Ende, welches in die ge-
meinſame Mittelſcheibe muͤndet, iſt wahrſcheinlich das Hinterende
der urſpruͤnglichen ſelbſtſtaͤndigen Wuͤrmer; denn das entgegengeſetzte
freie Ende traͤgt zuſammengeſetzte Augen, wie ſie außerdem nur noch
an dem Kopfe der Gliedfuͤßer (Arthropoden) vorkommen.

Jn ganz aͤhnlicher Weiſe ſind auch bei den ungegliederten Wuͤr-
mern bisweilen mehrere Jndividuen zur Bildung eines ſternfoͤrmigen
Stockes vereinigt. Das iſt namentlich bei den Botrylliden der
Fall, zuſammengeſetzten Seeſcheiden oder Aſcidien, welche zur Klaſſe
der Mantelthiere (Tunicaten) gehoͤren. Auch hier ſind die einzelnen
Wuͤrmer mit ihrem hinteren Ende, wie ein Rattenkoͤnig, verwachſen,
und haben ſich hier eine gemeinſame Auswurfsoͤffnung, eine Central-
kloake gebildet, waͤhrend am vorderen Ende noch jeder Wurm ſeine
eigene Mundoͤffnung beſitzt. Bei den Seeſternen wuͤrde die letztere
im Laufe der hiſtoriſchen Stockentwickelung zugewachſen ſein, waͤhrend
ſich die Centralkloake zu einem gemeinſamen Mund fuͤr den ganzen
Stock ausbildete.

Die Seeſterne wuͤrden demnach Wuͤrmerſtoͤcke ſein, welche ſich
entweder durch ſternfoͤrmige Knospenbildung oder durch ſternfoͤrmige
Verwachſung aus echten gegliederten Wuͤrmern oder Colelminthen
entwickelt haben. Dieſe Hypotheſe wird auf das Staͤrkſte durch die
vergleichende Anatomie und Ontogenie der gegliederten Seeſterne
(Colastra) und der gegliederten Wuͤrmer (Colelminthes) geſtuͤtzt.
Unter den letzteren ſtehen in Bezug auf den inneren Bau einerſeits
die Sternwuͤrmer (Gephyrea), andrerſeits die Ringelwuͤrmer
(Annelida) den einzelnen Armen oder Strahltheilen der Seeſterne,
d. h. den urſpruͤnglichen Einzelwuͤrmern, ganz nahe. Was aber das
Wichtigſte iſt, aus den Eiern der Echinodermen entwickeln ſich be-
wimperte Larven, welche nicht die geringſte Aehnlichkeit mit den erwach-
ſenen Sternthieren zeigen, dagegen den Larven gewiſſer Sternwuͤrmer
und mancher Ringelwuͤrmer hoͤchſt aͤhnlich ſind. Dieſe bilateral-ſym-

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[418/0443] Entſtehung der Seeſterne aus Stoͤcken von Gliedwuͤrmern. Hier haben ſie ſich eine gemeinſchaftliche Mundoͤffnung und eine ge- meinſame Verdauungshoͤhle (Magen) gebildet, die in der mittleren Koͤrperſcheibe liegen. Das verwachſene Ende, welches in die ge- meinſame Mittelſcheibe muͤndet, iſt wahrſcheinlich das Hinterende der urſpruͤnglichen ſelbſtſtaͤndigen Wuͤrmer; denn das entgegengeſetzte freie Ende traͤgt zuſammengeſetzte Augen, wie ſie außerdem nur noch an dem Kopfe der Gliedfuͤßer (Arthropoden) vorkommen. Jn ganz aͤhnlicher Weiſe ſind auch bei den ungegliederten Wuͤr- mern bisweilen mehrere Jndividuen zur Bildung eines ſternfoͤrmigen Stockes vereinigt. Das iſt namentlich bei den Botrylliden der Fall, zuſammengeſetzten Seeſcheiden oder Aſcidien, welche zur Klaſſe der Mantelthiere (Tunicaten) gehoͤren. Auch hier ſind die einzelnen Wuͤrmer mit ihrem hinteren Ende, wie ein Rattenkoͤnig, verwachſen, und haben ſich hier eine gemeinſame Auswurfsoͤffnung, eine Central- kloake gebildet, waͤhrend am vorderen Ende noch jeder Wurm ſeine eigene Mundoͤffnung beſitzt. Bei den Seeſternen wuͤrde die letztere im Laufe der hiſtoriſchen Stockentwickelung zugewachſen ſein, waͤhrend ſich die Centralkloake zu einem gemeinſamen Mund fuͤr den ganzen Stock ausbildete. Die Seeſterne wuͤrden demnach Wuͤrmerſtoͤcke ſein, welche ſich entweder durch ſternfoͤrmige Knospenbildung oder durch ſternfoͤrmige Verwachſung aus echten gegliederten Wuͤrmern oder Colelminthen entwickelt haben. Dieſe Hypotheſe wird auf das Staͤrkſte durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie der gegliederten Seeſterne (Colastra) und der gegliederten Wuͤrmer (Colelminthes) geſtuͤtzt. Unter den letzteren ſtehen in Bezug auf den inneren Bau einerſeits die Sternwuͤrmer (Gephyrea), andrerſeits die Ringelwuͤrmer (Annelida) den einzelnen Armen oder Strahltheilen der Seeſterne, d. h. den urſpruͤnglichen Einzelwuͤrmern, ganz nahe. Was aber das Wichtigſte iſt, aus den Eiern der Echinodermen entwickeln ſich be- wimperte Larven, welche nicht die geringſte Aehnlichkeit mit den erwach- ſenen Sternthieren zeigen, dagegen den Larven gewiſſer Sternwuͤrmer und mancher Ringelwuͤrmer hoͤchſt aͤhnlich ſind. Dieſe bilateral-ſym-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/443>, abgerufen am 22.11.2024.