Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Mantelthiere oder Tunikaten.

Jn ganz ähnlicher Beziehung wie die Mosthiere zu den Weich-
thieren, steht die zweite Klasse der Sackwürmer, die Mantelthiere
(Tunicata), zu den Wirbelthieren. Diese höchst merkwürdige Thier-
klasse lebt im Meere, wo die einen (die Seescheiden oder Chthonasci-
dien) auf dem Boden festsitzen, die anderen (die Seetonnen oder
Nektascidien) frei umherschwimmen. Bei allen besitzt der ungegliederte
Körper die Gestalt eines einfachen tonnenförmigen Sackes, welcher
von einem dicken knorpelähnlichen Mantel eng umschlossen ist. Dieser
Mantel besteht aus derselben stickstofflosen Kohlenstoffverbindung, welche
im Pflanzenreich als "Cellulose" eine so große Rolle spielt und den
größten Theil der pflanzlichen Zellmembranen und somit auch des
Holzes bildet. Gewöhnlich besitzt der tonnenförmige Körper keinerlei
äußere Anhänge. Niemand würde darin irgend eine Spur von Ver-
wandtschaft mit den hoch differenzirten Wirbelthieren erkennen. Und
doch kann diese nicht mehr zweifelhaft sein, seitdem vor zwei Jahren
die Untersuchungen von Kowalewsky plötzlich darüber ein höchst
überraschendes und merkwürdiges Licht verbreitet haben. Aus diesen
hat sich nämlich ergeben, daß die individuelle Entwickelung der fest-
sitzenden einfachen Seescheiden (Ascidia, Phallusia) in den wichtigsten
Beziehungen mit derjenigen des niedersten Wirbelthieres, des Lanzet-
thieres (Amphioxus lanceolatus) übereinstimmt. Jnsbesondere be-
sitzen die Jugendzustände der Ascidien die Anlage des Rückenmarks
und des darunter gelegenen Rückenstrangs (Chorda dorsalis)
d. h. die beiden wichtigsten und am meisten charakteristischen Organe
des Wirbelthierkörpers. Unter allen uns bekannten wirbellosen Thieren
besitzen demnach die Mantelthiere zweifelsohne die nächste
Blutsverwandtschaft mit den Wirbelthieren,
und sind
als nächste Verwandte derjenigen Würmer zu betrachten, aus denen
sich dieser letztere Stamm entwickelt hat.

Die vierte und letzte Hauptklasse des Würmerstammes, die der
Gliedwürmer (Colelminthes) zeichnet sich vor den drei übrigen
Klassen durch die deutliche Gliederung des Körpers aus, d. h. durch
die Zusammensetzung desselben aus mehreren, in der Längsaxe hinter

Mantelthiere oder Tunikaten.

Jn ganz aͤhnlicher Beziehung wie die Mosthiere zu den Weich-
thieren, ſteht die zweite Klaſſe der Sackwuͤrmer, die Mantelthiere
(Tunicata), zu den Wirbelthieren. Dieſe hoͤchſt merkwuͤrdige Thier-
klaſſe lebt im Meere, wo die einen (die Seeſcheiden oder Chthonasci-
dien) auf dem Boden feſtſitzen, die anderen (die Seetonnen oder
Nektascidien) frei umherſchwimmen. Bei allen beſitzt der ungegliederte
Koͤrper die Geſtalt eines einfachen tonnenfoͤrmigen Sackes, welcher
von einem dicken knorpelaͤhnlichen Mantel eng umſchloſſen iſt. Dieſer
Mantel beſteht aus derſelben ſtickſtoffloſen Kohlenſtoffverbindung, welche
im Pflanzenreich als „Celluloſe“ eine ſo große Rolle ſpielt und den
groͤßten Theil der pflanzlichen Zellmembranen und ſomit auch des
Holzes bildet. Gewoͤhnlich beſitzt der tonnenfoͤrmige Koͤrper keinerlei
aͤußere Anhaͤnge. Niemand wuͤrde darin irgend eine Spur von Ver-
wandtſchaft mit den hoch differenzirten Wirbelthieren erkennen. Und
doch kann dieſe nicht mehr zweifelhaft ſein, ſeitdem vor zwei Jahren
die Unterſuchungen von Kowalewsky ploͤtzlich daruͤber ein hoͤchſt
uͤberraſchendes und merkwuͤrdiges Licht verbreitet haben. Aus dieſen
hat ſich naͤmlich ergeben, daß die individuelle Entwickelung der feſt-
ſitzenden einfachen Seeſcheiden (Ascidia, Phallusia) in den wichtigſten
Beziehungen mit derjenigen des niederſten Wirbelthieres, des Lanzet-
thieres (Amphioxus lanceolatus) uͤbereinſtimmt. Jnsbeſondere be-
ſitzen die Jugendzuſtaͤnde der Ascidien die Anlage des Ruͤckenmarks
und des darunter gelegenen Ruͤckenſtrangs (Chorda dorsalis)
d. h. die beiden wichtigſten und am meiſten charakteriſtiſchen Organe
des Wirbelthierkoͤrpers. Unter allen uns bekannten wirbelloſen Thieren
beſitzen demnach die Mantelthiere zweifelsohne die naͤchſte
Blutsverwandtſchaft mit den Wirbelthieren,
und ſind
als naͤchſte Verwandte derjenigen Wuͤrmer zu betrachten, aus denen
ſich dieſer letztere Stamm entwickelt hat.

Die vierte und letzte Hauptklaſſe des Wuͤrmerſtammes, die der
Gliedwuͤrmer (Colelminthes) zeichnet ſich vor den drei uͤbrigen
Klaſſen durch die deutliche Gliederung des Koͤrpers aus, d. h. durch
die Zuſammenſetzung deſſelben aus mehreren, in der Laͤngsaxe hinter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0434" n="409"/>
        <fw place="top" type="header">Mantelthiere oder Tunikaten.</fw><lb/>
        <p>Jn ganz a&#x0364;hnlicher Beziehung wie die Mosthiere zu den Weich-<lb/>
thieren, &#x017F;teht die zweite Kla&#x017F;&#x017F;e der Sackwu&#x0364;rmer, die <hi rendition="#g">Mantelthiere</hi><lb/><hi rendition="#aq">(Tunicata),</hi> zu den Wirbelthieren. Die&#x017F;e ho&#x0364;ch&#x017F;t merkwu&#x0364;rdige Thier-<lb/>
kla&#x017F;&#x017F;e lebt im Meere, wo die einen (die See&#x017F;cheiden oder Chthonasci-<lb/>
dien) auf dem Boden fe&#x017F;t&#x017F;itzen, die anderen (die Seetonnen oder<lb/>
Nektascidien) frei umher&#x017F;chwimmen. Bei allen be&#x017F;itzt der ungegliederte<lb/>
Ko&#x0364;rper die Ge&#x017F;talt eines einfachen tonnenfo&#x0364;rmigen Sackes, welcher<lb/>
von einem dicken knorpela&#x0364;hnlichen Mantel eng um&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t. Die&#x017F;er<lb/>
Mantel be&#x017F;teht aus der&#x017F;elben &#x017F;tick&#x017F;tofflo&#x017F;en Kohlen&#x017F;toffverbindung, welche<lb/>
im Pflanzenreich als &#x201E;Cellulo&#x017F;e&#x201C; eine &#x017F;o große Rolle &#x017F;pielt und den<lb/>
gro&#x0364;ßten Theil der pflanzlichen Zellmembranen und &#x017F;omit auch des<lb/>
Holzes bildet. Gewo&#x0364;hnlich be&#x017F;itzt der tonnenfo&#x0364;rmige Ko&#x0364;rper keinerlei<lb/>
a&#x0364;ußere Anha&#x0364;nge. Niemand wu&#x0364;rde darin irgend eine Spur von Ver-<lb/>
wandt&#x017F;chaft mit den hoch differenzirten Wirbelthieren erkennen. Und<lb/>
doch kann die&#x017F;e nicht mehr zweifelhaft &#x017F;ein, &#x017F;eitdem vor zwei Jahren<lb/>
die Unter&#x017F;uchungen von <hi rendition="#g">Kowalewsky</hi> plo&#x0364;tzlich daru&#x0364;ber ein ho&#x0364;ch&#x017F;t<lb/>
u&#x0364;berra&#x017F;chendes und merkwu&#x0364;rdiges Licht verbreitet haben. Aus die&#x017F;en<lb/>
hat &#x017F;ich na&#x0364;mlich ergeben, daß die individuelle Entwickelung der fe&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;itzenden einfachen See&#x017F;cheiden <hi rendition="#aq">(Ascidia, Phallusia)</hi> in den wichtig&#x017F;ten<lb/>
Beziehungen mit derjenigen des nieder&#x017F;ten Wirbelthieres, des Lanzet-<lb/>
thieres <hi rendition="#aq">(Amphioxus lanceolatus)</hi> u&#x0364;berein&#x017F;timmt. Jnsbe&#x017F;ondere be-<lb/>
&#x017F;itzen die Jugendzu&#x017F;ta&#x0364;nde der Ascidien die Anlage des <hi rendition="#g">Ru&#x0364;ckenmarks</hi><lb/>
und des darunter gelegenen <hi rendition="#g">Ru&#x0364;cken&#x017F;trangs</hi> <hi rendition="#aq">(Chorda dorsalis)</hi><lb/>
d. h. die beiden wichtig&#x017F;ten und am mei&#x017F;ten charakteri&#x017F;ti&#x017F;chen Organe<lb/>
des Wirbelthierko&#x0364;rpers. Unter allen uns bekannten wirbello&#x017F;en Thieren<lb/>
be&#x017F;itzen demnach <hi rendition="#g">die Mantelthiere zweifelsohne die na&#x0364;ch&#x017F;te<lb/>
Blutsverwandt&#x017F;chaft mit den Wirbelthieren,</hi> und &#x017F;ind<lb/>
als na&#x0364;ch&#x017F;te Verwandte derjenigen Wu&#x0364;rmer zu betrachten, aus denen<lb/>
&#x017F;ich die&#x017F;er letztere Stamm entwickelt hat.</p><lb/>
        <p>Die vierte und letzte Hauptkla&#x017F;&#x017F;e des Wu&#x0364;rmer&#x017F;tammes, die der<lb/><hi rendition="#g">Gliedwu&#x0364;rmer</hi> <hi rendition="#aq">(Colelminthes)</hi> zeichnet &#x017F;ich vor den drei u&#x0364;brigen<lb/>
Kla&#x017F;&#x017F;en durch die deutliche Gliederung des Ko&#x0364;rpers aus, d. h. durch<lb/>
die Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung de&#x017F;&#x017F;elben aus mehreren, in der La&#x0364;ngsaxe hinter<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[409/0434] Mantelthiere oder Tunikaten. Jn ganz aͤhnlicher Beziehung wie die Mosthiere zu den Weich- thieren, ſteht die zweite Klaſſe der Sackwuͤrmer, die Mantelthiere (Tunicata), zu den Wirbelthieren. Dieſe hoͤchſt merkwuͤrdige Thier- klaſſe lebt im Meere, wo die einen (die Seeſcheiden oder Chthonasci- dien) auf dem Boden feſtſitzen, die anderen (die Seetonnen oder Nektascidien) frei umherſchwimmen. Bei allen beſitzt der ungegliederte Koͤrper die Geſtalt eines einfachen tonnenfoͤrmigen Sackes, welcher von einem dicken knorpelaͤhnlichen Mantel eng umſchloſſen iſt. Dieſer Mantel beſteht aus derſelben ſtickſtoffloſen Kohlenſtoffverbindung, welche im Pflanzenreich als „Celluloſe“ eine ſo große Rolle ſpielt und den groͤßten Theil der pflanzlichen Zellmembranen und ſomit auch des Holzes bildet. Gewoͤhnlich beſitzt der tonnenfoͤrmige Koͤrper keinerlei aͤußere Anhaͤnge. Niemand wuͤrde darin irgend eine Spur von Ver- wandtſchaft mit den hoch differenzirten Wirbelthieren erkennen. Und doch kann dieſe nicht mehr zweifelhaft ſein, ſeitdem vor zwei Jahren die Unterſuchungen von Kowalewsky ploͤtzlich daruͤber ein hoͤchſt uͤberraſchendes und merkwuͤrdiges Licht verbreitet haben. Aus dieſen hat ſich naͤmlich ergeben, daß die individuelle Entwickelung der feſt- ſitzenden einfachen Seeſcheiden (Ascidia, Phallusia) in den wichtigſten Beziehungen mit derjenigen des niederſten Wirbelthieres, des Lanzet- thieres (Amphioxus lanceolatus) uͤbereinſtimmt. Jnsbeſondere be- ſitzen die Jugendzuſtaͤnde der Ascidien die Anlage des Ruͤckenmarks und des darunter gelegenen Ruͤckenſtrangs (Chorda dorsalis) d. h. die beiden wichtigſten und am meiſten charakteriſtiſchen Organe des Wirbelthierkoͤrpers. Unter allen uns bekannten wirbelloſen Thieren beſitzen demnach die Mantelthiere zweifelsohne die naͤchſte Blutsverwandtſchaft mit den Wirbelthieren, und ſind als naͤchſte Verwandte derjenigen Wuͤrmer zu betrachten, aus denen ſich dieſer letztere Stamm entwickelt hat. Die vierte und letzte Hauptklaſſe des Wuͤrmerſtammes, die der Gliedwuͤrmer (Colelminthes) zeichnet ſich vor den drei uͤbrigen Klaſſen durch die deutliche Gliederung des Koͤrpers aus, d. h. durch die Zuſammenſetzung deſſelben aus mehreren, in der Laͤngsaxe hinter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/434
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/434>, abgerufen am 24.07.2024.