Gemeinsamer Ursprung des Thierreichs aus dem Würmerstamm.
niedersten Formen der bewimperten Strudelwürmer oder Turbellarien, Weichwürmer, welche wir als die gemeinsame Stammgruppe aller übrigen Würmerklassen ansehen können. Viele von den letzteren blieben bis auf den heutigen Tag auf der niederen Entwickelungsstufe des Wurmes stehen. Einige wenige aber entwickelten sich nach verschie- denen Richtungen hin zu höheren Formen, welche die Stammformen für die übrigen, höheren Thierstämme wurden.
Wenn diese Hypothese, wie ich glaube, richtig ist, so würden die sechs Stämme des Thierreichs in genealogischer Beziehung keines- wegs gleichwerthig sein. (Vergl. Taf. III.) Denn der Würmer- stamm würde dann als die gemeinsame Stammgruppe der fünf übrigen Stämme zu betrachten sein. Diese letzteren verhielten sich unter einander wie fünf Geschwister, welche in dem ersteren ihre ge- meinsame Elternform haben. Unter den fünf Geschwisterstämmen selbst würden wir aber wieder den Stamm der Pflanzenthiere oder Coelenteraten in sofern den vier übrigen entgegenstellen müssen, als der erstere einen viel geringeren Grad der Blutsverwandtschaft zu den echten Würmern offenbart, als die vier letzteren. Wahrscheinlich hat sich der erstere in viel früherer Primordialzeit bereits von den tiefsten Stufen des Wurmstammes, von den Urwürmern oder Jnfusorien abgezweigt und selbstständig entwickelt, während die Stammformen der vier übri- gen Stämme noch gar nicht von echten Würmern zu trennen waren. Diese letzteren haben sich wohl erst in viel späterer Zeit von den Wür- mern gesondert, als der Würmertypus längst die niedere und indiffe- rente Stufe der Urwürmer überschritten hatte. Selbst wenn wir für die vier Stämme der Wirbelthiere, Gliedfüßer, Weichthiere und Sternthiere mit Bestimmtheit einen gemeinsamen Ursprung aus ver- schiedenen Zweigen des einheitlichen Würmerstammes annehmen, kön- nen wir doch über die Abstammung der Pflanzenthiere von den Würmern noch sehr in Zweifel bleiben, weil eben die niedersten For- men der letzteren, aus denen die ersten Pflanzenthiere entsprungen sein müßten, nur ganz indifferente und vielleicht ganz selbstständig entstan- dene Urwürmer gewesen sein können. Jch werde diesem genealogischen
Gemeinſamer Urſprung des Thierreichs aus dem Wuͤrmerſtamm.
niederſten Formen der bewimperten Strudelwuͤrmer oder Turbellarien, Weichwuͤrmer, welche wir als die gemeinſame Stammgruppe aller uͤbrigen Wuͤrmerklaſſen anſehen koͤnnen. Viele von den letzteren blieben bis auf den heutigen Tag auf der niederen Entwickelungsſtufe des Wurmes ſtehen. Einige wenige aber entwickelten ſich nach verſchie- denen Richtungen hin zu hoͤheren Formen, welche die Stammformen fuͤr die uͤbrigen, hoͤheren Thierſtaͤmme wurden.
Wenn dieſe Hypotheſe, wie ich glaube, richtig iſt, ſo wuͤrden die ſechs Staͤmme des Thierreichs in genealogiſcher Beziehung keines- wegs gleichwerthig ſein. (Vergl. Taf. III.) Denn der Wuͤrmer- ſtamm wuͤrde dann als die gemeinſame Stammgruppe der fuͤnf uͤbrigen Staͤmme zu betrachten ſein. Dieſe letzteren verhielten ſich unter einander wie fuͤnf Geſchwiſter, welche in dem erſteren ihre ge- meinſame Elternform haben. Unter den fuͤnf Geſchwiſterſtaͤmmen ſelbſt wuͤrden wir aber wieder den Stamm der Pflanzenthiere oder Coelenteraten in ſofern den vier uͤbrigen entgegenſtellen muͤſſen, als der erſtere einen viel geringeren Grad der Blutsverwandtſchaft zu den echten Wuͤrmern offenbart, als die vier letzteren. Wahrſcheinlich hat ſich der erſtere in viel fruͤherer Primordialzeit bereits von den tiefſten Stufen des Wurmſtammes, von den Urwuͤrmern oder Jnfuſorien abgezweigt und ſelbſtſtaͤndig entwickelt, waͤhrend die Stammformen der vier uͤbri- gen Staͤmme noch gar nicht von echten Wuͤrmern zu trennen waren. Dieſe letzteren haben ſich wohl erſt in viel ſpaͤterer Zeit von den Wuͤr- mern geſondert, als der Wuͤrmertypus laͤngſt die niedere und indiffe- rente Stufe der Urwuͤrmer uͤberſchritten hatte. Selbſt wenn wir fuͤr die vier Staͤmme der Wirbelthiere, Gliedfuͤßer, Weichthiere und Sternthiere mit Beſtimmtheit einen gemeinſamen Urſprung aus ver- ſchiedenen Zweigen des einheitlichen Wuͤrmerſtammes annehmen, koͤn- nen wir doch uͤber die Abſtammung der Pflanzenthiere von den Wuͤrmern noch ſehr in Zweifel bleiben, weil eben die niederſten For- men der letzteren, aus denen die erſten Pflanzenthiere entſprungen ſein muͤßten, nur ganz indifferente und vielleicht ganz ſelbſtſtaͤndig entſtan- dene Urwuͤrmer geweſen ſein koͤnnen. Jch werde dieſem genealogiſchen
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0419"n="394"/><fwplace="top"type="header">Gemeinſamer Urſprung des Thierreichs aus dem Wuͤrmerſtamm.</fw><lb/><p>niederſten Formen der bewimperten Strudelwuͤrmer oder Turbellarien,<lb/>
Weichwuͤrmer, welche wir als die gemeinſame Stammgruppe aller<lb/>
uͤbrigen Wuͤrmerklaſſen anſehen koͤnnen. Viele von den letzteren<lb/>
blieben bis auf den heutigen Tag auf der niederen Entwickelungsſtufe<lb/>
des Wurmes ſtehen. Einige wenige aber entwickelten ſich nach verſchie-<lb/>
denen Richtungen hin zu hoͤheren Formen, welche die Stammformen<lb/>
fuͤr die uͤbrigen, hoͤheren Thierſtaͤmme wurden.</p><lb/><p>Wenn dieſe Hypotheſe, wie ich glaube, richtig iſt, ſo wuͤrden<lb/>
die ſechs Staͤmme des Thierreichs in genealogiſcher Beziehung keines-<lb/>
wegs gleichwerthig ſein. (Vergl. Taf. <hirendition="#aq">III.</hi>) Denn der Wuͤrmer-<lb/>ſtamm wuͤrde dann als die gemeinſame Stammgruppe der fuͤnf<lb/>
uͤbrigen Staͤmme zu betrachten ſein. Dieſe letzteren verhielten ſich<lb/>
unter einander wie fuͤnf Geſchwiſter, welche in dem erſteren ihre ge-<lb/>
meinſame Elternform haben. Unter den fuͤnf Geſchwiſterſtaͤmmen<lb/>ſelbſt wuͤrden wir aber wieder den Stamm der Pflanzenthiere oder<lb/>
Coelenteraten in ſofern den vier uͤbrigen entgegenſtellen muͤſſen, als<lb/>
der erſtere einen viel geringeren Grad der Blutsverwandtſchaft zu den<lb/>
echten Wuͤrmern offenbart, als die vier letzteren. Wahrſcheinlich hat ſich<lb/>
der erſtere in viel fruͤherer Primordialzeit bereits von den tiefſten Stufen<lb/>
des Wurmſtammes, von den Urwuͤrmern oder Jnfuſorien abgezweigt<lb/>
und ſelbſtſtaͤndig entwickelt, waͤhrend die Stammformen der vier uͤbri-<lb/>
gen Staͤmme noch gar nicht von echten Wuͤrmern zu trennen waren.<lb/>
Dieſe letzteren haben ſich wohl erſt in viel ſpaͤterer Zeit von den Wuͤr-<lb/>
mern geſondert, als der Wuͤrmertypus laͤngſt die niedere und indiffe-<lb/>
rente Stufe der Urwuͤrmer uͤberſchritten hatte. Selbſt wenn wir fuͤr<lb/>
die vier Staͤmme der Wirbelthiere, Gliedfuͤßer, Weichthiere und<lb/>
Sternthiere mit Beſtimmtheit einen gemeinſamen Urſprung aus ver-<lb/>ſchiedenen Zweigen des einheitlichen Wuͤrmerſtammes annehmen, koͤn-<lb/>
nen wir doch uͤber die Abſtammung der Pflanzenthiere von den<lb/>
Wuͤrmern noch ſehr in Zweifel bleiben, weil eben die niederſten For-<lb/>
men der letzteren, aus denen die erſten Pflanzenthiere entſprungen ſein<lb/>
muͤßten, nur ganz indifferente und vielleicht ganz ſelbſtſtaͤndig entſtan-<lb/>
dene Urwuͤrmer geweſen ſein koͤnnen. Jch werde dieſem genealogiſchen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[394/0419]
Gemeinſamer Urſprung des Thierreichs aus dem Wuͤrmerſtamm.
niederſten Formen der bewimperten Strudelwuͤrmer oder Turbellarien,
Weichwuͤrmer, welche wir als die gemeinſame Stammgruppe aller
uͤbrigen Wuͤrmerklaſſen anſehen koͤnnen. Viele von den letzteren
blieben bis auf den heutigen Tag auf der niederen Entwickelungsſtufe
des Wurmes ſtehen. Einige wenige aber entwickelten ſich nach verſchie-
denen Richtungen hin zu hoͤheren Formen, welche die Stammformen
fuͤr die uͤbrigen, hoͤheren Thierſtaͤmme wurden.
Wenn dieſe Hypotheſe, wie ich glaube, richtig iſt, ſo wuͤrden
die ſechs Staͤmme des Thierreichs in genealogiſcher Beziehung keines-
wegs gleichwerthig ſein. (Vergl. Taf. III.) Denn der Wuͤrmer-
ſtamm wuͤrde dann als die gemeinſame Stammgruppe der fuͤnf
uͤbrigen Staͤmme zu betrachten ſein. Dieſe letzteren verhielten ſich
unter einander wie fuͤnf Geſchwiſter, welche in dem erſteren ihre ge-
meinſame Elternform haben. Unter den fuͤnf Geſchwiſterſtaͤmmen
ſelbſt wuͤrden wir aber wieder den Stamm der Pflanzenthiere oder
Coelenteraten in ſofern den vier uͤbrigen entgegenſtellen muͤſſen, als
der erſtere einen viel geringeren Grad der Blutsverwandtſchaft zu den
echten Wuͤrmern offenbart, als die vier letzteren. Wahrſcheinlich hat ſich
der erſtere in viel fruͤherer Primordialzeit bereits von den tiefſten Stufen
des Wurmſtammes, von den Urwuͤrmern oder Jnfuſorien abgezweigt
und ſelbſtſtaͤndig entwickelt, waͤhrend die Stammformen der vier uͤbri-
gen Staͤmme noch gar nicht von echten Wuͤrmern zu trennen waren.
Dieſe letzteren haben ſich wohl erſt in viel ſpaͤterer Zeit von den Wuͤr-
mern geſondert, als der Wuͤrmertypus laͤngſt die niedere und indiffe-
rente Stufe der Urwuͤrmer uͤberſchritten hatte. Selbſt wenn wir fuͤr
die vier Staͤmme der Wirbelthiere, Gliedfuͤßer, Weichthiere und
Sternthiere mit Beſtimmtheit einen gemeinſamen Urſprung aus ver-
ſchiedenen Zweigen des einheitlichen Wuͤrmerſtammes annehmen, koͤn-
nen wir doch uͤber die Abſtammung der Pflanzenthiere von den
Wuͤrmern noch ſehr in Zweifel bleiben, weil eben die niederſten For-
men der letzteren, aus denen die erſten Pflanzenthiere entſprungen ſein
muͤßten, nur ganz indifferente und vielleicht ganz ſelbſtſtaͤndig entſtan-
dene Urwuͤrmer geweſen ſein koͤnnen. Jch werde dieſem genealogiſchen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/419>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.