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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Flechten (Lichenes) und Pilze (Fungi).
Dammerde, in welcher nachher Mose, Farne und Blüthenpflanzen
festen Fuß fassen können. Auch gegen klimatische Unbilden sind die
zähen Flechten unempfindlicher als alle anderen Pflanzen. Daher
überziehen ihre trockenen Krusten die nackten Felsen noch in den höchsten,
größtentheils mit ewigem Schnee bedeckten Gebirgshöhen, in denen
keine andere Pflanze mehr ausdauern kann. Dürfen wir aus diesen Le-
benseigenthümlichkeiten der Flechten auf ihre geschichtliche Entwickelung
und Bedeutung schließen, so ist es sehr wahrscheinlich, daß Flechten
die ersten landbewohnenden Pflanzen
waren. Aller Wahr-
scheinlichkeit nach entstanden die ersten Flechten im Beginn des primären
Zeitalters, im Anfang der antedevonischen Zeit, dadurch, daß ein-
zelne Urtange oder Archephyten von ihrer ursprünglichen Geburtsstätte,
dem primoridalen Urmeere, auf das eben geborene antedevonische
Festland, auf die ersten Erhebungen der festen Erdrinde über den
Spiegel des silurischen Meeres übersiedelten. Jndem so die Flechten
die nackte Oberfläche der ersten Festlandsfelsen für die nachfolgenden
Mose und Farne eroberten, gewannen sie eine paläontologische Be-
deutung, auf welche wir aus den dürftigen versteinerten Bruchstücken
derselben, und aus ihrem unansehnlichen Aeußeren keineswegs schlie-
ßen könnten.

Die zweite Klasse der Faserpflanzen, die Pilze (Fungi) werden
irrthümlich oft Schwämme genannt und daher mit den echten thieri-
schen Schwämmen oder Spongien verwechselt. Sie zeigen einerseits so
viele Verwandtschaftsbeziehungen zu den Flechten und sind durch so
viele Uebergangsformen (namentlich die Kernschwämme oder Pyreno-
myceten) mit denselben verbunden, daß man beide Klassen kaum tren-
nen kann, und es für das Natürlichste halten dürfte, eine Abstammung
der Pilze von den Flechten anzunehmen. Andrerseits aber haben die
meisten Pilze so viel Eigenthümliches und weichen namentlich durch ihre
eigenthümliche Ernährungsweise so sehr von allen übrigen Pflanzen
ab, daß man sie als eine ganz besondere Hauptgruppe des Pflanzen-
reichs betrachten könnte. Die übrigen Pflanzen leben größtentheils von
anorganischer Nahrung, d. h. von einfachen und festen Kohlenstoff-

Flechten (Lichenes) und Pilze (Fungi).
Dammerde, in welcher nachher Moſe, Farne und Bluͤthenpflanzen
feſten Fuß faſſen koͤnnen. Auch gegen klimatiſche Unbilden ſind die
zaͤhen Flechten unempfindlicher als alle anderen Pflanzen. Daher
uͤberziehen ihre trockenen Kruſten die nackten Felſen noch in den hoͤchſten,
groͤßtentheils mit ewigem Schnee bedeckten Gebirgshoͤhen, in denen
keine andere Pflanze mehr ausdauern kann. Duͤrfen wir aus dieſen Le-
benseigenthuͤmlichkeiten der Flechten auf ihre geſchichtliche Entwickelung
und Bedeutung ſchließen, ſo iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß Flechten
die erſten landbewohnenden Pflanzen
waren. Aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach entſtanden die erſten Flechten im Beginn des primaͤren
Zeitalters, im Anfang der antedevoniſchen Zeit, dadurch, daß ein-
zelne Urtange oder Archephyten von ihrer urſpruͤnglichen Geburtsſtaͤtte,
dem primoridalen Urmeere, auf das eben geborene antedevoniſche
Feſtland, auf die erſten Erhebungen der feſten Erdrinde uͤber den
Spiegel des ſiluriſchen Meeres uͤberſiedelten. Jndem ſo die Flechten
die nackte Oberflaͤche der erſten Feſtlandsfelſen fuͤr die nachfolgenden
Moſe und Farne eroberten, gewannen ſie eine palaͤontologiſche Be-
deutung, auf welche wir aus den duͤrftigen verſteinerten Bruchſtuͤcken
derſelben, und aus ihrem unanſehnlichen Aeußeren keineswegs ſchlie-
ßen koͤnnten.

Die zweite Klaſſe der Faſerpflanzen, die Pilze (Fungi) werden
irrthuͤmlich oft Schwaͤmme genannt und daher mit den echten thieri-
ſchen Schwaͤmmen oder Spongien verwechſelt. Sie zeigen einerſeits ſo
viele Verwandtſchaftsbeziehungen zu den Flechten und ſind durch ſo
viele Uebergangsformen (namentlich die Kernſchwaͤmme oder Pyreno-
myceten) mit denſelben verbunden, daß man beide Klaſſen kaum tren-
nen kann, und es fuͤr das Natuͤrlichſte halten duͤrfte, eine Abſtammung
der Pilze von den Flechten anzunehmen. Andrerſeits aber haben die
meiſten Pilze ſo viel Eigenthuͤmliches und weichen namentlich durch ihre
eigenthuͤmliche Ernaͤhrungsweiſe ſo ſehr von allen uͤbrigen Pflanzen
ab, daß man ſie als eine ganz beſondere Hauptgruppe des Pflanzen-
reichs betrachten koͤnnte. Die uͤbrigen Pflanzen leben groͤßtentheils von
anorganiſcher Nahrung, d. h. von einfachen und feſten Kohlenſtoff-

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[361/0386] Flechten (Lichenes) und Pilze (Fungi). Dammerde, in welcher nachher Moſe, Farne und Bluͤthenpflanzen feſten Fuß faſſen koͤnnen. Auch gegen klimatiſche Unbilden ſind die zaͤhen Flechten unempfindlicher als alle anderen Pflanzen. Daher uͤberziehen ihre trockenen Kruſten die nackten Felſen noch in den hoͤchſten, groͤßtentheils mit ewigem Schnee bedeckten Gebirgshoͤhen, in denen keine andere Pflanze mehr ausdauern kann. Duͤrfen wir aus dieſen Le- benseigenthuͤmlichkeiten der Flechten auf ihre geſchichtliche Entwickelung und Bedeutung ſchließen, ſo iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß Flechten die erſten landbewohnenden Pflanzen waren. Aller Wahr- ſcheinlichkeit nach entſtanden die erſten Flechten im Beginn des primaͤren Zeitalters, im Anfang der antedevoniſchen Zeit, dadurch, daß ein- zelne Urtange oder Archephyten von ihrer urſpruͤnglichen Geburtsſtaͤtte, dem primoridalen Urmeere, auf das eben geborene antedevoniſche Feſtland, auf die erſten Erhebungen der feſten Erdrinde uͤber den Spiegel des ſiluriſchen Meeres uͤberſiedelten. Jndem ſo die Flechten die nackte Oberflaͤche der erſten Feſtlandsfelſen fuͤr die nachfolgenden Moſe und Farne eroberten, gewannen ſie eine palaͤontologiſche Be- deutung, auf welche wir aus den duͤrftigen verſteinerten Bruchſtuͤcken derſelben, und aus ihrem unanſehnlichen Aeußeren keineswegs ſchlie- ßen koͤnnten. Die zweite Klaſſe der Faſerpflanzen, die Pilze (Fungi) werden irrthuͤmlich oft Schwaͤmme genannt und daher mit den echten thieri- ſchen Schwaͤmmen oder Spongien verwechſelt. Sie zeigen einerſeits ſo viele Verwandtſchaftsbeziehungen zu den Flechten und ſind durch ſo viele Uebergangsformen (namentlich die Kernſchwaͤmme oder Pyreno- myceten) mit denſelben verbunden, daß man beide Klaſſen kaum tren- nen kann, und es fuͤr das Natuͤrlichſte halten duͤrfte, eine Abſtammung der Pilze von den Flechten anzunehmen. Andrerſeits aber haben die meiſten Pilze ſo viel Eigenthuͤmliches und weichen namentlich durch ihre eigenthuͤmliche Ernaͤhrungsweiſe ſo ſehr von allen uͤbrigen Pflanzen ab, daß man ſie als eine ganz beſondere Hauptgruppe des Pflanzen- reichs betrachten koͤnnte. Die uͤbrigen Pflanzen leben groͤßtentheils von anorganiſcher Nahrung, d. h. von einfachen und feſten Kohlenſtoff-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/386>, abgerufen am 24.11.2024.