ren die Augen, welche nicht sehen. Solche finden sich bei sehr vielen Thieren, welche im Dunkeln: z. B. in Höhlen, unter der Erde leben. Die Augen sind hier oft wirklich in ausgebildetem Zustande vorhanden; aber sie sind von der Haut bedeckt, so daß kein Lichtstrahl in sie hin- einfallen kann, und sie also auch niemals sehen können. Solche Augen ohne Gesichtsfunktion besitzen z. B. mehrere Arten von unterir- disch lebenden Maulwürfen und Blindmäusen, von Schlangen und Eidechsen, von Amphibien (Proteus, Caecilia) und von Fischen; ferner zahlreiche wirbellose Thiere, die im Dunkeln ihr Leben zubringen: viele Käfer, Krebsthiere, Schnecken, Würmer u. s. w.
Eine Fülle der interessantesten Beispiele von rudimentären Orga- nen liefert die vergleichende Osteologie oder Skeletlehre der Wirbelthiere, einer der anziehendsten Zweige der vergleichenden Anatomie. Bei den allermeisten Wirbelthieren finden wir zwei Paar Gliedmaaßen am Rumpf, ein Paar Vorderbeine und ein Paar Hinterbeine. Sehr häufig ist jedoch das eine oder das andere Paar derselben verkümmert, seltener beide, wie bei den Schlangen und einigen aalartigen Fischen. Aber einige Schlangen, z. B. die Riesenschlangen (Boa, Python) ha- ben hinten noch einige unnütze Knochenstückchen im Leibe, welche die Reste der verloren gegangenen Hinterbeine sind. Ebenso haben die wallfischartigen Säugethiere (Cetaceen), welche nur entwickelte Vor- derbeine (Brustflossen) besitzen, hinten im Fleische noch ein Paar ganz überflüssige Knochen, welche ebenfalls Ueberbleibsel der verkümmerten Hinterbeine sind. Dasselbe gilt von vielen echten Fischen, bei denen in gleicher Weise die Hinterbeine (Bauchflossen) verloren gegangen sind. Umgekehrt besitzen unsere Blindschleichen (Anguis) und einige andere Eidechsen inwendig ein vollständiges Schultergerüste, obwohl die Vor- derbeine, zu deren Befestigung dasselbe dient, nicht mehr vorhanden sind. Ferner finden sich bei verschiedenen Wirbelthieren die einzelnen Knochen der beiden Beinpaare in allen verschiedenen Stufen der Verkümmerung, und oft die rückgebildeten Knochen und die zugehöri- gen Muskeln stückweise erhalten, ohne doch irgendwie eine Verrichtung
Rudimentaͤre oder unzweckmaͤßige Organe.
ren die Augen, welche nicht ſehen. Solche finden ſich bei ſehr vielen Thieren, welche im Dunkeln: z. B. in Hoͤhlen, unter der Erde leben. Die Augen ſind hier oft wirklich in ausgebildetem Zuſtande vorhanden; aber ſie ſind von der Haut bedeckt, ſo daß kein Lichtſtrahl in ſie hin- einfallen kann, und ſie alſo auch niemals ſehen koͤnnen. Solche Augen ohne Geſichtsfunktion beſitzen z. B. mehrere Arten von unterir- diſch lebenden Maulwuͤrfen und Blindmaͤuſen, von Schlangen und Eidechſen, von Amphibien (Proteus, Caecilia) und von Fiſchen; ferner zahlreiche wirbelloſe Thiere, die im Dunkeln ihr Leben zubringen: viele Kaͤfer, Krebsthiere, Schnecken, Wuͤrmer u. ſ. w.
Eine Fuͤlle der intereſſanteſten Beiſpiele von rudimentaͤren Orga- nen liefert die vergleichende Oſteologie oder Skeletlehre der Wirbelthiere, einer der anziehendſten Zweige der vergleichenden Anatomie. Bei den allermeiſten Wirbelthieren finden wir zwei Paar Gliedmaaßen am Rumpf, ein Paar Vorderbeine und ein Paar Hinterbeine. Sehr haͤufig iſt jedoch das eine oder das andere Paar derſelben verkuͤmmert, ſeltener beide, wie bei den Schlangen und einigen aalartigen Fiſchen. Aber einige Schlangen, z. B. die Rieſenſchlangen (Boa, Python) ha- ben hinten noch einige unnuͤtze Knochenſtuͤckchen im Leibe, welche die Reſte der verloren gegangenen Hinterbeine ſind. Ebenſo haben die wallfiſchartigen Saͤugethiere (Cetaceen), welche nur entwickelte Vor- derbeine (Bruſtfloſſen) beſitzen, hinten im Fleiſche noch ein Paar ganz uͤberfluͤſſige Knochen, welche ebenfalls Ueberbleibſel der verkuͤmmerten Hinterbeine ſind. Daſſelbe gilt von vielen echten Fiſchen, bei denen in gleicher Weiſe die Hinterbeine (Bauchfloſſen) verloren gegangen ſind. Umgekehrt beſitzen unſere Blindſchleichen (Anguis) und einige andere Eidechſen inwendig ein vollſtaͤndiges Schultergeruͤſte, obwohl die Vor- derbeine, zu deren Befeſtigung daſſelbe dient, nicht mehr vorhanden ſind. Ferner finden ſich bei verſchiedenen Wirbelthieren die einzelnen Knochen der beiden Beinpaare in allen verſchiedenen Stufen der Verkuͤmmerung, und oft die ruͤckgebildeten Knochen und die zugehoͤri- gen Muskeln ſtuͤckweiſe erhalten, ohne doch irgendwie eine Verrichtung
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Rudimentaͤre oder unzweckmaͤßige Organe.
ren die Augen, welche nicht ſehen. Solche finden ſich bei ſehr vielen
Thieren, welche im Dunkeln: z. B. in Hoͤhlen, unter der Erde leben.
Die Augen ſind hier oft wirklich in ausgebildetem Zuſtande vorhanden;
aber ſie ſind von der Haut bedeckt, ſo daß kein Lichtſtrahl in ſie hin-
einfallen kann, und ſie alſo auch niemals ſehen koͤnnen. Solche
Augen ohne Geſichtsfunktion beſitzen z. B. mehrere Arten von unterir-
diſch lebenden Maulwuͤrfen und Blindmaͤuſen, von Schlangen und
Eidechſen, von Amphibien (Proteus, Caecilia) und von Fiſchen; ferner
zahlreiche wirbelloſe Thiere, die im Dunkeln ihr Leben zubringen: viele
Kaͤfer, Krebsthiere, Schnecken, Wuͤrmer u. ſ. w.
Eine Fuͤlle der intereſſanteſten Beiſpiele von rudimentaͤren Orga-
nen liefert die vergleichende Oſteologie oder Skeletlehre der Wirbelthiere,
einer der anziehendſten Zweige der vergleichenden Anatomie. Bei den
allermeiſten Wirbelthieren finden wir zwei Paar Gliedmaaßen am
Rumpf, ein Paar Vorderbeine und ein Paar Hinterbeine. Sehr
haͤufig iſt jedoch das eine oder das andere Paar derſelben verkuͤmmert,
ſeltener beide, wie bei den Schlangen und einigen aalartigen Fiſchen.
Aber einige Schlangen, z. B. die Rieſenſchlangen (Boa, Python) ha-
ben hinten noch einige unnuͤtze Knochenſtuͤckchen im Leibe, welche die
Reſte der verloren gegangenen Hinterbeine ſind. Ebenſo haben die
wallfiſchartigen Saͤugethiere (Cetaceen), welche nur entwickelte Vor-
derbeine (Bruſtfloſſen) beſitzen, hinten im Fleiſche noch ein Paar ganz
uͤberfluͤſſige Knochen, welche ebenfalls Ueberbleibſel der verkuͤmmerten
Hinterbeine ſind. Daſſelbe gilt von vielen echten Fiſchen, bei denen
in gleicher Weiſe die Hinterbeine (Bauchfloſſen) verloren gegangen ſind.
Umgekehrt beſitzen unſere Blindſchleichen (Anguis) und einige andere
Eidechſen inwendig ein vollſtaͤndiges Schultergeruͤſte, obwohl die Vor-
derbeine, zu deren Befeſtigung daſſelbe dient, nicht mehr vorhanden
ſind. Ferner finden ſich bei verſchiedenen Wirbelthieren die einzelnen
Knochen der beiden Beinpaare in allen verſchiedenen Stufen der
Verkuͤmmerung, und oft die ruͤckgebildeten Knochen und die zugehoͤri-
gen Muskeln ſtuͤckweiſe erhalten, ohne doch irgendwie eine Verrichtung
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/32>, abgerufen am 24.11.2024.
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