Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Wachsthum und Anpassung bei Krystallen und bei Organismen.
Materie von außen her zunehmen. Jndeß ist dieser wichtige Unter-
schied des Wachsthums durch Jntussusception und durch Apposition
augenscheinlich nur die nothwendige und unmittelbare Folge des ver-
schiedenen Dichtigkeitszustandes oder Aggregatzustandes der Organis-
men und der Anorgane.

Jch kann hier an dieser Stelle leider nicht näher die mancherlei
höchst interessanten Parallelen und Analogien verfolgen, welche sich
zwischen der Bildung der vollkommensten Anorgane, der Krystalle,
und der Bildung der einfachsten Organismen, der Moneren und der
nächst verwandten Formen, vorfinden. Jch muß Sie in dieser Be-
ziehung auf die eingehende Vergleichung der Organismen und der
Anorgane verweisen, welche ich im fünften Capitel meiner generellen
Morphologie durchgeführt habe (Gen. Morph. I, 111--166). Dort
habe ich ausführlich bewiesen, daß durchgreifende Unterschiede zwi-
schen den organischen und anorganischen Naturkörpern weder in Be-
zug auf Form und Structur, noch in Bezug auf Stoff und Kraft
existiren, daß die wirklich vorhandenen Unterschiede von der eigen-
thümlichen Natur des Kohlenstoffs abhängen, und daß keine unüber-
steigliche Kluft zwischen organischer und anorganischer Natur existirt.
Besonders einleuchtend erkennen Sie diese höchst wichtige Thatsache,
wenn Sie die Entstehung der Formen bei den Krystallen und bei den
einfachsten organischen Jndividuen vergleichend untersuchen. Auch bei
der Bildung der Krystallindividuen treten zweierlei verschiedene, ein-
ander entgegenwirkende Bildungstriebe in Wirksamkeit. Die innere
Gestaltungskraft
oder der innere Bildungstrieb, welcher der
Erblichkeit der Organismen entspricht, ist bei dem Krystalle der un-
mittelbare Ausfluß seiner materiellen Constitution oder seiner chemi-
schen Zusammensetzung. Die Form des Krystalles, soweit sie durch
diesen inneren, ureigenen Bildungstrieb bestimmt wird, ist das Re-
sultat der specifisch bestimmten Art und Weise, in welcher sich die
kleinsten Theilchen der krystallisirenden Materie nach verschiedenen Rich-
tungen hin gesetzmäßig an einander lagern. Dieser selbstständigen
inneren Bildungskraft, welche der Materie selbst unmittelbar anhaftet,

Wachsthum und Anpaſſung bei Kryſtallen und bei Organismen.
Materie von außen her zunehmen. Jndeß iſt dieſer wichtige Unter-
ſchied des Wachsthums durch Jntusſusception und durch Appoſition
augenſcheinlich nur die nothwendige und unmittelbare Folge des ver-
ſchiedenen Dichtigkeitszuſtandes oder Aggregatzuſtandes der Organis-
men und der Anorgane.

Jch kann hier an dieſer Stelle leider nicht naͤher die mancherlei
hoͤchſt intereſſanten Parallelen und Analogien verfolgen, welche ſich
zwiſchen der Bildung der vollkommenſten Anorgane, der Kryſtalle,
und der Bildung der einfachſten Organismen, der Moneren und der
naͤchſt verwandten Formen, vorfinden. Jch muß Sie in dieſer Be-
ziehung auf die eingehende Vergleichung der Organismen und der
Anorgane verweiſen, welche ich im fuͤnften Capitel meiner generellen
Morphologie durchgefuͤhrt habe (Gen. Morph. I, 111—166). Dort
habe ich ausfuͤhrlich bewieſen, daß durchgreifende Unterſchiede zwi-
ſchen den organiſchen und anorganiſchen Naturkoͤrpern weder in Be-
zug auf Form und Structur, noch in Bezug auf Stoff und Kraft
exiſtiren, daß die wirklich vorhandenen Unterſchiede von der eigen-
thuͤmlichen Natur des Kohlenſtoffs abhaͤngen, und daß keine unuͤber-
ſteigliche Kluft zwiſchen organiſcher und anorganiſcher Natur exiſtirt.
Beſonders einleuchtend erkennen Sie dieſe hoͤchſt wichtige Thatſache,
wenn Sie die Entſtehung der Formen bei den Kryſtallen und bei den
einfachſten organiſchen Jndividuen vergleichend unterſuchen. Auch bei
der Bildung der Kryſtallindividuen treten zweierlei verſchiedene, ein-
ander entgegenwirkende Bildungstriebe in Wirkſamkeit. Die innere
Geſtaltungskraft
oder der innere Bildungstrieb, welcher der
Erblichkeit der Organismen entſpricht, iſt bei dem Kryſtalle der un-
mittelbare Ausfluß ſeiner materiellen Conſtitution oder ſeiner chemi-
ſchen Zuſammenſetzung. Die Form des Kryſtalles, ſoweit ſie durch
dieſen inneren, ureigenen Bildungstrieb beſtimmt wird, iſt das Re-
ſultat der ſpecifiſch beſtimmten Art und Weiſe, in welcher ſich die
kleinſten Theilchen der kryſtalliſirenden Materie nach verſchiedenen Rich-
tungen hin geſetzmaͤßig an einander lagern. Dieſer ſelbſtſtaͤndigen
inneren Bildungskraft, welche der Materie ſelbſt unmittelbar anhaftet,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0302" n="277"/><fw place="top" type="header">Wachsthum und Anpa&#x017F;&#x017F;ung bei Kry&#x017F;tallen und bei Organismen.</fw><lb/>
Materie von außen her zunehmen. Jndeß i&#x017F;t die&#x017F;er wichtige Unter-<lb/>
&#x017F;chied des Wachsthums durch Jntus&#x017F;usception und durch Appo&#x017F;ition<lb/>
augen&#x017F;cheinlich nur die nothwendige und unmittelbare Folge des ver-<lb/>
&#x017F;chiedenen Dichtigkeitszu&#x017F;tandes oder Aggregatzu&#x017F;tandes der Organis-<lb/>
men und der Anorgane.</p><lb/>
        <p>Jch kann hier an die&#x017F;er Stelle leider nicht na&#x0364;her die mancherlei<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;t intere&#x017F;&#x017F;anten Parallelen und Analogien verfolgen, welche &#x017F;ich<lb/>
zwi&#x017F;chen der Bildung der vollkommen&#x017F;ten Anorgane, der Kry&#x017F;talle,<lb/>
und der Bildung der einfach&#x017F;ten Organismen, der Moneren und der<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;t verwandten Formen, vorfinden. Jch muß Sie in die&#x017F;er Be-<lb/>
ziehung auf die eingehende Vergleichung der Organismen und der<lb/>
Anorgane verwei&#x017F;en, welche ich im fu&#x0364;nften Capitel meiner generellen<lb/>
Morphologie durchgefu&#x0364;hrt habe (Gen. Morph. <hi rendition="#aq">I,</hi> 111&#x2014;166). Dort<lb/>
habe ich ausfu&#x0364;hrlich bewie&#x017F;en, daß durchgreifende Unter&#x017F;chiede zwi-<lb/>
&#x017F;chen den organi&#x017F;chen und anorgani&#x017F;chen Naturko&#x0364;rpern weder in Be-<lb/>
zug auf Form und Structur, noch in Bezug auf Stoff und Kraft<lb/>
exi&#x017F;tiren, daß die wirklich vorhandenen Unter&#x017F;chiede von der eigen-<lb/>
thu&#x0364;mlichen Natur des Kohlen&#x017F;toffs abha&#x0364;ngen, und daß keine unu&#x0364;ber-<lb/>
&#x017F;teigliche Kluft zwi&#x017F;chen organi&#x017F;cher und anorgani&#x017F;cher Natur exi&#x017F;tirt.<lb/>
Be&#x017F;onders einleuchtend erkennen Sie die&#x017F;e ho&#x0364;ch&#x017F;t wichtige That&#x017F;ache,<lb/>
wenn Sie die Ent&#x017F;tehung der Formen bei den Kry&#x017F;tallen und bei den<lb/>
einfach&#x017F;ten organi&#x017F;chen Jndividuen vergleichend unter&#x017F;uchen. Auch bei<lb/>
der Bildung der Kry&#x017F;tallindividuen treten zweierlei ver&#x017F;chiedene, ein-<lb/>
ander entgegenwirkende Bildungstriebe in Wirk&#x017F;amkeit. Die <hi rendition="#g">innere<lb/>
Ge&#x017F;taltungskraft</hi> oder der innere Bildungstrieb, welcher der<lb/>
Erblichkeit der Organismen ent&#x017F;pricht, i&#x017F;t bei dem Kry&#x017F;talle der un-<lb/>
mittelbare Ausfluß &#x017F;einer materiellen Con&#x017F;titution oder &#x017F;einer chemi-<lb/>
&#x017F;chen Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung. Die Form des Kry&#x017F;talles, &#x017F;oweit &#x017F;ie durch<lb/>
die&#x017F;en inneren, ureigenen Bildungstrieb be&#x017F;timmt wird, i&#x017F;t das Re-<lb/>
&#x017F;ultat der &#x017F;pecifi&#x017F;ch be&#x017F;timmten Art und Wei&#x017F;e, in welcher &#x017F;ich die<lb/>
klein&#x017F;ten Theilchen der kry&#x017F;talli&#x017F;irenden Materie nach ver&#x017F;chiedenen Rich-<lb/>
tungen hin ge&#x017F;etzma&#x0364;ßig an einander lagern. Die&#x017F;er &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndigen<lb/>
inneren Bildungskraft, welche der Materie &#x017F;elb&#x017F;t unmittelbar anhaftet,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[277/0302] Wachsthum und Anpaſſung bei Kryſtallen und bei Organismen. Materie von außen her zunehmen. Jndeß iſt dieſer wichtige Unter- ſchied des Wachsthums durch Jntusſusception und durch Appoſition augenſcheinlich nur die nothwendige und unmittelbare Folge des ver- ſchiedenen Dichtigkeitszuſtandes oder Aggregatzuſtandes der Organis- men und der Anorgane. Jch kann hier an dieſer Stelle leider nicht naͤher die mancherlei hoͤchſt intereſſanten Parallelen und Analogien verfolgen, welche ſich zwiſchen der Bildung der vollkommenſten Anorgane, der Kryſtalle, und der Bildung der einfachſten Organismen, der Moneren und der naͤchſt verwandten Formen, vorfinden. Jch muß Sie in dieſer Be- ziehung auf die eingehende Vergleichung der Organismen und der Anorgane verweiſen, welche ich im fuͤnften Capitel meiner generellen Morphologie durchgefuͤhrt habe (Gen. Morph. I, 111—166). Dort habe ich ausfuͤhrlich bewieſen, daß durchgreifende Unterſchiede zwi- ſchen den organiſchen und anorganiſchen Naturkoͤrpern weder in Be- zug auf Form und Structur, noch in Bezug auf Stoff und Kraft exiſtiren, daß die wirklich vorhandenen Unterſchiede von der eigen- thuͤmlichen Natur des Kohlenſtoffs abhaͤngen, und daß keine unuͤber- ſteigliche Kluft zwiſchen organiſcher und anorganiſcher Natur exiſtirt. Beſonders einleuchtend erkennen Sie dieſe hoͤchſt wichtige Thatſache, wenn Sie die Entſtehung der Formen bei den Kryſtallen und bei den einfachſten organiſchen Jndividuen vergleichend unterſuchen. Auch bei der Bildung der Kryſtallindividuen treten zweierlei verſchiedene, ein- ander entgegenwirkende Bildungstriebe in Wirkſamkeit. Die innere Geſtaltungskraft oder der innere Bildungstrieb, welcher der Erblichkeit der Organismen entſpricht, iſt bei dem Kryſtalle der un- mittelbare Ausfluß ſeiner materiellen Conſtitution oder ſeiner chemi- ſchen Zuſammenſetzung. Die Form des Kryſtalles, ſoweit ſie durch dieſen inneren, ureigenen Bildungstrieb beſtimmt wird, iſt das Re- ſultat der ſpecifiſch beſtimmten Art und Weiſe, in welcher ſich die kleinſten Theilchen der kryſtalliſirenden Materie nach verſchiedenen Rich- tungen hin geſetzmaͤßig an einander lagern. Dieſer ſelbſtſtaͤndigen inneren Bildungskraft, welche der Materie ſelbſt unmittelbar anhaftet,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/302
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/302>, abgerufen am 24.11.2024.