Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Ei des Menschen.

Da die Absicht dieser Vorträge lediglich ist, die allgemeine Kennt-
niß der natürlichen Wahrheiten zu fördern, und eine naturgemäße An-
schauung von den Beziehungen des Menschen zur übrigen Natur in
weiteren Kreisen zu verbreiten, so werden Sie es hier gewiß gerecht-
fertigt finden, wenn ich jene weit verbreiteten Vorurtheile von einer
privilegirten Ausnahmestellung des Menschen in der Schöpfung nicht
berücksichtige, und Jhnen einfach die embryologischen Thatsachen vor-
führe, aus denen Sie selbst sich die Schlüsse von der Grundlosigkeit
jener Vorurtheile bilden können. Jch möchte Sie um so mehr bitten,
über diese Thatsachen der Ontogenie eingehend nachzudenken, als es
meine feste Ueberzeugung ist, daß die allgemeine Kenntniß derselben
nur die Veredelung und die Vervollkommnung des Menschenge-
schlechts fördern kann.

Aus dem unendlich reichen und interessanten Erfahrungsmaterial,
welches in der Ontogenie oder individuellen Entwickelungsgeschichte
der Wirbelthiere vorliegt, beschränke ich mich hier darauf, Jhnen einige
von denjenigen Thatsachen vorzuführen, welche sowohl für die Descen-
denztheorie im Allgemeinen, als für deren besondere Anwendung auf
den Menschen von der höchsten Bedeutung sind. Der Mensch ist im
Beginn seiner individuellen Existenz ein einfaches Ei, eine einzige kleine
Zelle, so gut wie jeder andere thierische Organismus, welcher auf dem
Wege der geschlechtlichen Zeugung entsteht. Das menschliche Ei ist
wesentlich demjenigen aller anderen Säugethiere gleich, und höchstens
durch seine Größe um ein Geringes davon verschieden. Vergleichen
Sie das Ei des Menschen (Fig. 5) mit demjenigen des Affen (Fig. 6)
und des Hundes (Fig. 7), und Sie werden keinerlei Unterschied da-
ran wahrnehmen können. Auch die Größe des Eies ist bei den mei-
sten Säugethieren dieselbe wie beim Menschen, nämlich ungefähr
''' Durchmesser, der 120ste Theil eines Zolles, so daß man das Ei
unter günstigen Umständen mit bloßem Auge eben als ein feines
Pünktchen wahrnehmen kann. Die Unterschiede, welche zwischen den
Eiern der verschiedenen Säugethiere und Menschen wirklich vorhan-
den sind, bestehen nicht in der Formbildung, sondern in der chemischen

Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. 16
Das Ei des Menſchen.

Da die Abſicht dieſer Vortraͤge lediglich iſt, die allgemeine Kennt-
niß der natuͤrlichen Wahrheiten zu foͤrdern, und eine naturgemaͤße An-
ſchauung von den Beziehungen des Menſchen zur uͤbrigen Natur in
weiteren Kreiſen zu verbreiten, ſo werden Sie es hier gewiß gerecht-
fertigt finden, wenn ich jene weit verbreiteten Vorurtheile von einer
privilegirten Ausnahmeſtellung des Menſchen in der Schoͤpfung nicht
beruͤckſichtige, und Jhnen einfach die embryologiſchen Thatſachen vor-
fuͤhre, aus denen Sie ſelbſt ſich die Schluͤſſe von der Grundloſigkeit
jener Vorurtheile bilden koͤnnen. Jch moͤchte Sie um ſo mehr bitten,
uͤber dieſe Thatſachen der Ontogenie eingehend nachzudenken, als es
meine feſte Ueberzeugung iſt, daß die allgemeine Kenntniß derſelben
nur die Veredelung und die Vervollkommnung des Menſchenge-
ſchlechts foͤrdern kann.

Aus dem unendlich reichen und intereſſanten Erfahrungsmaterial,
welches in der Ontogenie oder individuellen Entwickelungsgeſchichte
der Wirbelthiere vorliegt, beſchraͤnke ich mich hier darauf, Jhnen einige
von denjenigen Thatſachen vorzufuͤhren, welche ſowohl fuͤr die Deſcen-
denztheorie im Allgemeinen, als fuͤr deren beſondere Anwendung auf
den Menſchen von der hoͤchſten Bedeutung ſind. Der Menſch iſt im
Beginn ſeiner individuellen Exiſtenz ein einfaches Ei, eine einzige kleine
Zelle, ſo gut wie jeder andere thieriſche Organismus, welcher auf dem
Wege der geſchlechtlichen Zeugung entſteht. Das menſchliche Ei iſt
weſentlich demjenigen aller anderen Saͤugethiere gleich, und hoͤchſtens
durch ſeine Groͤße um ein Geringes davon verſchieden. Vergleichen
Sie das Ei des Menſchen (Fig. 5) mit demjenigen des Affen (Fig. 6)
und des Hundes (Fig. 7), und Sie werden keinerlei Unterſchied da-
ran wahrnehmen koͤnnen. Auch die Groͤße des Eies iſt bei den mei-
ſten Saͤugethieren dieſelbe wie beim Menſchen, naͤmlich ungefaͤhr
⅒‴ Durchmeſſer, der 120ſte Theil eines Zolles, ſo daß man das Ei
unter guͤnſtigen Umſtaͤnden mit bloßem Auge eben als ein feines
Puͤnktchen wahrnehmen kann. Die Unterſchiede, welche zwiſchen den
Eiern der verſchiedenen Saͤugethiere und Menſchen wirklich vorhan-
den ſind, beſtehen nicht in der Formbildung, ſondern in der chemiſchen

Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 16
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0266" n="241"/>
        <fw place="top" type="header">Das Ei des Men&#x017F;chen.</fw><lb/>
        <p>Da die Ab&#x017F;icht die&#x017F;er Vortra&#x0364;ge lediglich i&#x017F;t, die allgemeine Kennt-<lb/>
niß der natu&#x0364;rlichen Wahrheiten zu fo&#x0364;rdern, und eine naturgema&#x0364;ße An-<lb/>
&#x017F;chauung von den Beziehungen des Men&#x017F;chen zur u&#x0364;brigen Natur in<lb/>
weiteren Krei&#x017F;en zu verbreiten, &#x017F;o werden Sie es hier gewiß gerecht-<lb/>
fertigt finden, wenn ich jene weit verbreiteten Vorurtheile von einer<lb/>
privilegirten Ausnahme&#x017F;tellung des Men&#x017F;chen in der Scho&#x0364;pfung nicht<lb/>
beru&#x0364;ck&#x017F;ichtige, und Jhnen einfach die embryologi&#x017F;chen That&#x017F;achen vor-<lb/>
fu&#x0364;hre, aus denen Sie &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich die Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e von der Grundlo&#x017F;igkeit<lb/>
jener Vorurtheile bilden ko&#x0364;nnen. Jch mo&#x0364;chte Sie um &#x017F;o mehr bitten,<lb/>
u&#x0364;ber die&#x017F;e That&#x017F;achen der Ontogenie eingehend nachzudenken, als es<lb/>
meine fe&#x017F;te Ueberzeugung i&#x017F;t, daß die allgemeine Kenntniß der&#x017F;elben<lb/>
nur die Veredelung und die Vervollkommnung des Men&#x017F;chenge-<lb/>
&#x017F;chlechts fo&#x0364;rdern kann.</p><lb/>
        <p>Aus dem unendlich reichen und intere&#x017F;&#x017F;anten Erfahrungsmaterial,<lb/>
welches in der Ontogenie oder individuellen Entwickelungsge&#x017F;chichte<lb/>
der Wirbelthiere vorliegt, be&#x017F;chra&#x0364;nke ich mich hier darauf, Jhnen einige<lb/>
von denjenigen That&#x017F;achen vorzufu&#x0364;hren, welche &#x017F;owohl fu&#x0364;r die De&#x017F;cen-<lb/>
denztheorie im Allgemeinen, als fu&#x0364;r deren be&#x017F;ondere Anwendung auf<lb/>
den Men&#x017F;chen von der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Bedeutung &#x017F;ind. Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t im<lb/>
Beginn &#x017F;einer individuellen Exi&#x017F;tenz ein einfaches Ei, eine einzige kleine<lb/>
Zelle, &#x017F;o gut wie jeder andere thieri&#x017F;che Organismus, welcher auf dem<lb/>
Wege der ge&#x017F;chlechtlichen Zeugung ent&#x017F;teht. Das men&#x017F;chliche Ei i&#x017F;t<lb/>
we&#x017F;entlich demjenigen aller anderen Sa&#x0364;ugethiere gleich, und ho&#x0364;ch&#x017F;tens<lb/>
durch &#x017F;eine Gro&#x0364;ße um ein Geringes davon ver&#x017F;chieden. Vergleichen<lb/>
Sie das Ei des Men&#x017F;chen (Fig. 5) mit demjenigen des Affen (Fig. 6)<lb/>
und des Hundes (Fig. 7), und Sie werden keinerlei Unter&#x017F;chied da-<lb/>
ran wahrnehmen ko&#x0364;nnen. Auch die Gro&#x0364;ße des Eies i&#x017F;t bei den mei-<lb/>
&#x017F;ten Sa&#x0364;ugethieren die&#x017F;elbe wie beim Men&#x017F;chen, na&#x0364;mlich ungefa&#x0364;hr<lb/>
&#x2152;&#x2034; Durchme&#x017F;&#x017F;er, der 120&#x017F;te Theil eines Zolles, &#x017F;o daß man das Ei<lb/>
unter gu&#x0364;n&#x017F;tigen Um&#x017F;ta&#x0364;nden mit bloßem Auge eben als ein feines<lb/>
Pu&#x0364;nktchen wahrnehmen kann. Die Unter&#x017F;chiede, welche zwi&#x017F;chen den<lb/>
Eiern der ver&#x017F;chiedenen Sa&#x0364;ugethiere und Men&#x017F;chen wirklich vorhan-<lb/>
den &#x017F;ind, be&#x017F;tehen nicht in der Formbildung, &#x017F;ondern in der chemi&#x017F;chen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Haeckel, Natu&#x0364;rliche Scho&#x0364;pfungsge&#x017F;chichte. 16</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[241/0266] Das Ei des Menſchen. Da die Abſicht dieſer Vortraͤge lediglich iſt, die allgemeine Kennt- niß der natuͤrlichen Wahrheiten zu foͤrdern, und eine naturgemaͤße An- ſchauung von den Beziehungen des Menſchen zur uͤbrigen Natur in weiteren Kreiſen zu verbreiten, ſo werden Sie es hier gewiß gerecht- fertigt finden, wenn ich jene weit verbreiteten Vorurtheile von einer privilegirten Ausnahmeſtellung des Menſchen in der Schoͤpfung nicht beruͤckſichtige, und Jhnen einfach die embryologiſchen Thatſachen vor- fuͤhre, aus denen Sie ſelbſt ſich die Schluͤſſe von der Grundloſigkeit jener Vorurtheile bilden koͤnnen. Jch moͤchte Sie um ſo mehr bitten, uͤber dieſe Thatſachen der Ontogenie eingehend nachzudenken, als es meine feſte Ueberzeugung iſt, daß die allgemeine Kenntniß derſelben nur die Veredelung und die Vervollkommnung des Menſchenge- ſchlechts foͤrdern kann. Aus dem unendlich reichen und intereſſanten Erfahrungsmaterial, welches in der Ontogenie oder individuellen Entwickelungsgeſchichte der Wirbelthiere vorliegt, beſchraͤnke ich mich hier darauf, Jhnen einige von denjenigen Thatſachen vorzufuͤhren, welche ſowohl fuͤr die Deſcen- denztheorie im Allgemeinen, als fuͤr deren beſondere Anwendung auf den Menſchen von der hoͤchſten Bedeutung ſind. Der Menſch iſt im Beginn ſeiner individuellen Exiſtenz ein einfaches Ei, eine einzige kleine Zelle, ſo gut wie jeder andere thieriſche Organismus, welcher auf dem Wege der geſchlechtlichen Zeugung entſteht. Das menſchliche Ei iſt weſentlich demjenigen aller anderen Saͤugethiere gleich, und hoͤchſtens durch ſeine Groͤße um ein Geringes davon verſchieden. Vergleichen Sie das Ei des Menſchen (Fig. 5) mit demjenigen des Affen (Fig. 6) und des Hundes (Fig. 7), und Sie werden keinerlei Unterſchied da- ran wahrnehmen koͤnnen. Auch die Groͤße des Eies iſt bei den mei- ſten Saͤugethieren dieſelbe wie beim Menſchen, naͤmlich ungefaͤhr ⅒‴ Durchmeſſer, der 120ſte Theil eines Zolles, ſo daß man das Ei unter guͤnſtigen Umſtaͤnden mit bloßem Auge eben als ein feines Puͤnktchen wahrnehmen kann. Die Unterſchiede, welche zwiſchen den Eiern der verſchiedenen Saͤugethiere und Menſchen wirklich vorhan- den ſind, beſtehen nicht in der Formbildung, ſondern in der chemiſchen Haeckel, Natuͤrliche Schoͤpfungsgeſchichte. 16

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/266
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/266>, abgerufen am 24.11.2024.