Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Entstehung der Arten aus Varietäten durch Divergenz. in der Mitbewerbung um dieselben am meisten zu kämpfen haben undam gefährlichsten bedroht sein. Wenn also zahlreiche Varietäten oder Spielarten einer Species auf einem und demselben Fleck der Erde mit einander leben, so können viel eher die Extreme, die am meisten abwei- chenden Formen, neben einander fort bestehen, als die vermittelnden Zwischenformen, welche mit jedem der verschiedenen Extreme zu käm- pfen haben. Die letzteren werden auf die Dauer den feindlichen Ein- flüssen nicht widerstehen können, welche die ersteren siegreich überwin- den. Diese allein erhalten sich, pflanzen sich fort, und sind nun nicht mehr durch vermittelnde Uebergangsformen mit der ursprünglichen Stammart verbunden. So entstehen aus Varietäten "gute Arten." Der Kampf um's Dasein begünstigt nothwendig die allgemeine Di- vergenz oder das Auseinandergehen der organischen Formen, die be- ständige Neigung der Organismen, neue Arten zu bilden. Diese be- ruht nicht auf einer mystischen Eigenschaft, auf einem unbekannten Bildungstrieb der Organismen, sondern auf der Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung im Kampfe um's Dasein. Jndem von den Varietäten einer jeden Species die vermittelnden Zwischenformen erlöschen und die Uebergangsglieder aussterben, geht der Divergenz- proceß immer weiter, und bildet in den Extremen Gestalten aus, die wir als neue Arten unterscheiden. Obgleich alle Naturforscher die Variabilität oder Veränderlichkeit Entſtehung der Arten aus Varietaͤten durch Divergenz. in der Mitbewerbung um dieſelben am meiſten zu kaͤmpfen haben undam gefaͤhrlichſten bedroht ſein. Wenn alſo zahlreiche Varietaͤten oder Spielarten einer Species auf einem und demſelben Fleck der Erde mit einander leben, ſo koͤnnen viel eher die Extreme, die am meiſten abwei- chenden Formen, neben einander fort beſtehen, als die vermittelnden Zwiſchenformen, welche mit jedem der verſchiedenen Extreme zu kaͤm- pfen haben. Die letzteren werden auf die Dauer den feindlichen Ein- fluͤſſen nicht widerſtehen koͤnnen, welche die erſteren ſiegreich uͤberwin- den. Dieſe allein erhalten ſich, pflanzen ſich fort, und ſind nun nicht mehr durch vermittelnde Uebergangsformen mit der urſpruͤnglichen Stammart verbunden. So entſtehen aus Varietaͤten „gute Arten.“ Der Kampf um’s Daſein beguͤnſtigt nothwendig die allgemeine Di- vergenz oder das Auseinandergehen der organiſchen Formen, die be- ſtaͤndige Neigung der Organismen, neue Arten zu bilden. Dieſe be- ruht nicht auf einer myſtiſchen Eigenſchaft, auf einem unbekannten Bildungstrieb der Organismen, ſondern auf der Wechſelwirkung der Vererbung und Anpaſſung im Kampfe um’s Daſein. Jndem von den Varietaͤten einer jeden Species die vermittelnden Zwiſchenformen erloͤſchen und die Uebergangsglieder ausſterben, geht der Divergenz- proceß immer weiter, und bildet in den Extremen Geſtalten aus, die wir als neue Arten unterſcheiden. Obgleich alle Naturforſcher die Variabilitaͤt oder Veraͤnderlichkeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0241" n="220"/><fw place="top" type="header">Entſtehung der Arten aus Varietaͤten durch Divergenz.</fw><lb/> in der Mitbewerbung um dieſelben am meiſten zu kaͤmpfen haben und<lb/> am gefaͤhrlichſten bedroht ſein. 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Entſtehung der Arten aus Varietaͤten durch Divergenz.
in der Mitbewerbung um dieſelben am meiſten zu kaͤmpfen haben und
am gefaͤhrlichſten bedroht ſein. Wenn alſo zahlreiche Varietaͤten oder
Spielarten einer Species auf einem und demſelben Fleck der Erde mit
einander leben, ſo koͤnnen viel eher die Extreme, die am meiſten abwei-
chenden Formen, neben einander fort beſtehen, als die vermittelnden
Zwiſchenformen, welche mit jedem der verſchiedenen Extreme zu kaͤm-
pfen haben. Die letzteren werden auf die Dauer den feindlichen Ein-
fluͤſſen nicht widerſtehen koͤnnen, welche die erſteren ſiegreich uͤberwin-
den. Dieſe allein erhalten ſich, pflanzen ſich fort, und ſind nun nicht
mehr durch vermittelnde Uebergangsformen mit der urſpruͤnglichen
Stammart verbunden. So entſtehen aus Varietaͤten „gute Arten.“
Der Kampf um’s Daſein beguͤnſtigt nothwendig die allgemeine Di-
vergenz oder das Auseinandergehen der organiſchen Formen, die be-
ſtaͤndige Neigung der Organismen, neue Arten zu bilden. Dieſe be-
ruht nicht auf einer myſtiſchen Eigenſchaft, auf einem unbekannten
Bildungstrieb der Organismen, ſondern auf der Wechſelwirkung der
Vererbung und Anpaſſung im Kampfe um’s Daſein. Jndem von
den Varietaͤten einer jeden Species die vermittelnden Zwiſchenformen
erloͤſchen und die Uebergangsglieder ausſterben, geht der Divergenz-
proceß immer weiter, und bildet in den Extremen Geſtalten aus,
die wir als neue Arten unterſcheiden.
Obgleich alle Naturforſcher die Variabilitaͤt oder Veraͤnderlichkeit
aller Thier- und Pflanzenarten zugeben muͤſſen, haben doch die mei-
ſten bisher beſtritten, daß die Abaͤnderung oder Umbildung der orga-
niſchen Form die urſpruͤngliche Grenze des Speziescharakters uͤber-
ſchreite. Unſere Gegner halten an dem Satze feſt: „Soweit auch eine
Art in Varietaͤtenbuͤſchel aus einander gehen mag, ſo ſind die Spiel-
arten oder Varietaͤten derſelben doch niemals in dem Grade von ein-
ander unterſchieden, wie zwei wirkliche gute Arten.“ Dieſe Behaup-
tung, die gewoͤhnlich von Darwin’s Gegnern an die Spitze ihrer
Beweisfuͤhrung geſtellt wird, iſt vollkommen unhaltbar und unbe-
gruͤndet. Dies wird Jhnen ſofort klar, ſobald Sie kritiſch die ver-
ſchiedenen Verſuche vergleichen, den Begriff der Species oder
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