Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Anpassung und Veränderlichkeit. Functionen beständig in Wechselwirkung zu einander stehen, ist es fürden Systematiker außerordentlich schwer, den Antheil jeder der beiden Functionen an der speciellen Bildung der einzelnen Form zu erkennen. Dies ist gegenwärtig um so schwieriger, als man sich noch kaum der ungeheuren Bedeutung dieser Thatsache bewußt geworden ist, und als die meisten Naturforscher die Theorie der Anpassung ebenso wie die der Vererbung vernachlässigt haben. Die soeben aufgestellten Vererbungs- gesetze, wie die sogleich anzuführenden Gesetze der Anpassung, bilden gewiß nur einen kleinen Bruchtheil der vorhandenen, meist noch nicht untersuchten Erscheinungen dieses Gebietes; und da jedes dieser Ge- setze mit jedem anderen in Wechselbeziehung treten kann, so geht da- raus die unendliche Verwickelung von physiologischen Thätigkeiten her- vor, die bei der Formbildung der Organismen in der That wirk- sam sind. Was nun die Erscheinung der Abänderung oder Anpassung im Die unleugbare Thatsache der organischen Anpassung oder Ab- Anpaſſung und Veraͤnderlichkeit. Functionen beſtaͤndig in Wechſelwirkung zu einander ſtehen, iſt es fuͤrden Syſtematiker außerordentlich ſchwer, den Antheil jeder der beiden Functionen an der ſpeciellen Bildung der einzelnen Form zu erkennen. Dies iſt gegenwaͤrtig um ſo ſchwieriger, als man ſich noch kaum der ungeheuren Bedeutung dieſer Thatſache bewußt geworden iſt, und als die meiſten Naturforſcher die Theorie der Anpaſſung ebenſo wie die der Vererbung vernachlaͤſſigt haben. Die ſoeben aufgeſtellten Vererbungs- geſetze, wie die ſogleich anzufuͤhrenden Geſetze der Anpaſſung, bilden gewiß nur einen kleinen Bruchtheil der vorhandenen, meiſt noch nicht unterſuchten Erſcheinungen dieſes Gebietes; und da jedes dieſer Ge- ſetze mit jedem anderen in Wechſelbeziehung treten kann, ſo geht da- raus die unendliche Verwickelung von phyſiologiſchen Thaͤtigkeiten her- vor, die bei der Formbildung der Organismen in der That wirk- ſam ſind. Was nun die Erſcheinung der Abaͤnderung oder Anpaſſung im Die unleugbare Thatſache der organiſchen Anpaſſung oder Ab- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0194" n="173"/><fw place="top" type="header">Anpaſſung und Veraͤnderlichkeit.</fw><lb/> Functionen beſtaͤndig in Wechſelwirkung zu einander ſtehen, iſt es fuͤr<lb/> den Syſtematiker außerordentlich ſchwer, den Antheil jeder der beiden<lb/> Functionen an der ſpeciellen Bildung der einzelnen Form zu erkennen.<lb/> Dies iſt gegenwaͤrtig um ſo ſchwieriger, als man ſich noch kaum der<lb/> ungeheuren Bedeutung dieſer Thatſache bewußt geworden iſt, und als<lb/> die meiſten Naturforſcher die Theorie der Anpaſſung ebenſo wie die der<lb/> Vererbung vernachlaͤſſigt haben. Die ſoeben aufgeſtellten Vererbungs-<lb/> geſetze, wie die ſogleich anzufuͤhrenden Geſetze der Anpaſſung, bilden<lb/> gewiß nur einen kleinen Bruchtheil der vorhandenen, meiſt noch nicht<lb/> unterſuchten Erſcheinungen dieſes Gebietes; und da jedes dieſer Ge-<lb/> ſetze mit jedem anderen in Wechſelbeziehung treten kann, ſo geht da-<lb/> raus die unendliche Verwickelung von phyſiologiſchen Thaͤtigkeiten her-<lb/> vor, die bei der Formbildung der Organismen in der That wirk-<lb/> ſam ſind.</p><lb/> <p>Was nun die Erſcheinung der Abaͤnderung oder Anpaſſung im<lb/> Allgemeinen betrifft, ſo muͤſſen wir dieſelbe, ebenſo wie die Thatſache<lb/> der Vererbung, als eine ganz allgemeine phyſiologiſche Grundeigen-<lb/> ſchaft aller Organismen ohne Ausnahme hinſtellen, als eine Lebens-<lb/> aͤußerung, welche von dem Begriffe des Organismus gar nicht zu<lb/> trennen iſt. Streng genommen muͤſſen wir auch hier, wie bei der<lb/> Vererbung, unterſcheiden zwiſchen der Anpaſſung ſelbſt und der An-<lb/> paſſungsfaͤhigkeit. Unter <hi rendition="#g">Anpaſſung</hi> <hi rendition="#aq">(Adaptatio)</hi> oder <hi rendition="#g">Abaͤn-<lb/> derung</hi> <hi rendition="#aq">(Variatio)</hi> verſtehen wir die <hi rendition="#g">Thatſache,</hi> daß der Orga-<lb/> nismus in Folge von Einwirkungen der umgebenden Außenwelt ge-<lb/> wiſſe neue Eigenthuͤmlichkeiten in ſeiner Lebensthaͤtigkeit, Miſchung<lb/> und Form annimmt, welche er nicht von ſeinen Eltern geerbt hat; dieſe<lb/><hi rendition="#g">erworbenen</hi> individuellen Eigenſchaften ſtehen den <hi rendition="#g">ererbten</hi> ge-<lb/> genuͤber, welche ſeine Eltern und Voreltern auf ihn uͤbertragen haben.<lb/> Dagegen nennen wir <hi rendition="#g">Anpaſſungsfaͤhigkeit</hi> <hi rendition="#aq">(Adaptabilitas)</hi><lb/> oder <hi rendition="#g">Veraͤnderlichkeit</hi> <hi rendition="#aq">(Variabilitas)</hi> die allen Organismen inne<lb/> wohnende <hi rendition="#g">Faͤhigkeit,</hi> derartige neue Eigenſchaften unter dem Ein-<lb/> fluſſe der Außenwelt zu erwerben. (Gen. Morph. <hi rendition="#aq">II,</hi> 191).</p><lb/> <p>Die unleugbare Thatſache der organiſchen Anpaſſung oder Ab-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [173/0194]
Anpaſſung und Veraͤnderlichkeit.
Functionen beſtaͤndig in Wechſelwirkung zu einander ſtehen, iſt es fuͤr
den Syſtematiker außerordentlich ſchwer, den Antheil jeder der beiden
Functionen an der ſpeciellen Bildung der einzelnen Form zu erkennen.
Dies iſt gegenwaͤrtig um ſo ſchwieriger, als man ſich noch kaum der
ungeheuren Bedeutung dieſer Thatſache bewußt geworden iſt, und als
die meiſten Naturforſcher die Theorie der Anpaſſung ebenſo wie die der
Vererbung vernachlaͤſſigt haben. Die ſoeben aufgeſtellten Vererbungs-
geſetze, wie die ſogleich anzufuͤhrenden Geſetze der Anpaſſung, bilden
gewiß nur einen kleinen Bruchtheil der vorhandenen, meiſt noch nicht
unterſuchten Erſcheinungen dieſes Gebietes; und da jedes dieſer Ge-
ſetze mit jedem anderen in Wechſelbeziehung treten kann, ſo geht da-
raus die unendliche Verwickelung von phyſiologiſchen Thaͤtigkeiten her-
vor, die bei der Formbildung der Organismen in der That wirk-
ſam ſind.
Was nun die Erſcheinung der Abaͤnderung oder Anpaſſung im
Allgemeinen betrifft, ſo muͤſſen wir dieſelbe, ebenſo wie die Thatſache
der Vererbung, als eine ganz allgemeine phyſiologiſche Grundeigen-
ſchaft aller Organismen ohne Ausnahme hinſtellen, als eine Lebens-
aͤußerung, welche von dem Begriffe des Organismus gar nicht zu
trennen iſt. Streng genommen muͤſſen wir auch hier, wie bei der
Vererbung, unterſcheiden zwiſchen der Anpaſſung ſelbſt und der An-
paſſungsfaͤhigkeit. Unter Anpaſſung (Adaptatio) oder Abaͤn-
derung (Variatio) verſtehen wir die Thatſache, daß der Orga-
nismus in Folge von Einwirkungen der umgebenden Außenwelt ge-
wiſſe neue Eigenthuͤmlichkeiten in ſeiner Lebensthaͤtigkeit, Miſchung
und Form annimmt, welche er nicht von ſeinen Eltern geerbt hat; dieſe
erworbenen individuellen Eigenſchaften ſtehen den ererbten ge-
genuͤber, welche ſeine Eltern und Voreltern auf ihn uͤbertragen haben.
Dagegen nennen wir Anpaſſungsfaͤhigkeit (Adaptabilitas)
oder Veraͤnderlichkeit (Variabilitas) die allen Organismen inne
wohnende Faͤhigkeit, derartige neue Eigenſchaften unter dem Ein-
fluſſe der Außenwelt zu erwerben. (Gen. Morph. II, 191).
Die unleugbare Thatſache der organiſchen Anpaſſung oder Ab-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |