Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Angepaßte oder erworbene Vererbung.
dadurch gezogen, daß man mehrere Generationen hindurch beiden Ge-
schlechtern des Hundes consequent den Schwanz abschnitt. Noch vor
einigen Jahren kam hier in der Nähe von Jena auf einem Gute der
Fall vor, daß beim unvorsichtigen Zuschlagen des Stallthores einem
Zuchtstier der Schwanz an der Wurzel abgequetscht wurde, und die
von diesem Stiere erzeugten Kälber wurden sämmtlich schwanzlos
geboren. Das ist allerdings eine Ausnahme. Es ist aber sehr
wichtig, die Thatsache festzustellen, daß unter gewissen uns unbekann-
ten Bedingungen auch solche gewaltsame Veränderungen erblich über-
tragen werden, in gleicher Weise wie es bei Krankheiten sehr allge-
mein der Fall ist.

Jn sehr vielen Fällen ist die Abänderung, welche durch angepaßte
Vererbung übertragen und erhalten wird, angeboren, so bei dem vor-
her erwähnten Albinismus. Dann beruht die Abänderung auf der-
jenigen Form der Anpassung, welche wir die indirecte oder potentielle
nennen. Ein sehr auffallendes Beispiel dafür liefert das hornlose
Rindvieh von Paraguay in Südamerika. Daselbst wird eine beson-
dere Rindviehrasse gezogen, die ganz der Hörner entbehrt, abstammend
von einem einzigen Stiere, welcher im Jahre 1770 von einem ge-
wöhnlichen gehörnten Elternpaare geboren wurde, und bei welchem
der Mangel der Hörner durch irgendwelche unbekannte Ursache ver-
anlaßt worden war. Alle Nachkommen dieses Stieres, welche er
mit einer gehörnten Kuh erzeugte, entbehrten der Hörner vollständig.
Man fand diese Eigenschaft vortheilhaft, und indem man die unge-
hörnten Rinder unter einander fortpflanzte, erhielt man eine hornlose
Rindviehrasse, welche gegenwärtig die gehörnten Rinder in Paraguay
fast verdrängt hat. Ein ähnliches Beispiel liefern die nordamerikani-
schen Otterschafe. Jm Jahre 1791 lebte in Massachusetts in Nord-
amerika ein Landwirth, Seth Wright mit Namen. Jn seiner
wohlgebildeten Schafheerde wurde auf einmal ein Lamm geboren,
welches einen auffallend langen Leib und ganz kurze und krumme
Beine hatte. Es konnte daher keine großen Sprünge machen und na-
mentlich nicht über den Zaun in des Nachbars Garten springen; eine

Angepaßte oder erworbene Vererbung.
dadurch gezogen, daß man mehrere Generationen hindurch beiden Ge-
ſchlechtern des Hundes conſequent den Schwanz abſchnitt. Noch vor
einigen Jahren kam hier in der Naͤhe von Jena auf einem Gute der
Fall vor, daß beim unvorſichtigen Zuſchlagen des Stallthores einem
Zuchtſtier der Schwanz an der Wurzel abgequetſcht wurde, und die
von dieſem Stiere erzeugten Kaͤlber wurden ſaͤmmtlich ſchwanzlos
geboren. Das iſt allerdings eine Ausnahme. Es iſt aber ſehr
wichtig, die Thatſache feſtzuſtellen, daß unter gewiſſen uns unbekann-
ten Bedingungen auch ſolche gewaltſame Veraͤnderungen erblich uͤber-
tragen werden, in gleicher Weiſe wie es bei Krankheiten ſehr allge-
mein der Fall iſt.

Jn ſehr vielen Faͤllen iſt die Abaͤnderung, welche durch angepaßte
Vererbung uͤbertragen und erhalten wird, angeboren, ſo bei dem vor-
her erwaͤhnten Albinismus. Dann beruht die Abaͤnderung auf der-
jenigen Form der Anpaſſung, welche wir die indirecte oder potentielle
nennen. Ein ſehr auffallendes Beiſpiel dafuͤr liefert das hornloſe
Rindvieh von Paraguay in Suͤdamerika. Daſelbſt wird eine beſon-
dere Rindviehraſſe gezogen, die ganz der Hoͤrner entbehrt, abſtammend
von einem einzigen Stiere, welcher im Jahre 1770 von einem ge-
woͤhnlichen gehoͤrnten Elternpaare geboren wurde, und bei welchem
der Mangel der Hoͤrner durch irgendwelche unbekannte Urſache ver-
anlaßt worden war. Alle Nachkommen dieſes Stieres, welche er
mit einer gehoͤrnten Kuh erzeugte, entbehrten der Hoͤrner vollſtaͤndig.
Man fand dieſe Eigenſchaft vortheilhaft, und indem man die unge-
hoͤrnten Rinder unter einander fortpflanzte, erhielt man eine hornloſe
Rindviehraſſe, welche gegenwaͤrtig die gehoͤrnten Rinder in Paraguay
faſt verdraͤngt hat. Ein aͤhnliches Beiſpiel liefern die nordamerikani-
ſchen Otterſchafe. Jm Jahre 1791 lebte in Maſſachuſetts in Nord-
amerika ein Landwirth, Seth Wright mit Namen. Jn ſeiner
wohlgebildeten Schafheerde wurde auf einmal ein Lamm geboren,
welches einen auffallend langen Leib und ganz kurze und krumme
Beine hatte. Es konnte daher keine großen Spruͤnge machen und na-
mentlich nicht uͤber den Zaun in des Nachbars Garten ſpringen; eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0190" n="169"/><fw place="top" type="header">Angepaßte oder erworbene Vererbung.</fw><lb/>
dadurch gezogen, daß man mehrere Generationen hindurch beiden Ge-<lb/>
&#x017F;chlechtern des Hundes con&#x017F;equent den Schwanz ab&#x017F;chnitt. Noch vor<lb/>
einigen Jahren kam hier in der Na&#x0364;he von Jena auf einem Gute der<lb/>
Fall vor, daß beim unvor&#x017F;ichtigen Zu&#x017F;chlagen des Stallthores einem<lb/>
Zucht&#x017F;tier der Schwanz an der Wurzel abgequet&#x017F;cht wurde, und die<lb/>
von die&#x017F;em Stiere erzeugten Ka&#x0364;lber wurden &#x017F;a&#x0364;mmtlich &#x017F;chwanzlos<lb/>
geboren. Das i&#x017F;t allerdings eine Ausnahme. Es i&#x017F;t aber &#x017F;ehr<lb/>
wichtig, die That&#x017F;ache fe&#x017F;tzu&#x017F;tellen, daß unter gewi&#x017F;&#x017F;en uns unbekann-<lb/>
ten Bedingungen auch &#x017F;olche gewalt&#x017F;ame Vera&#x0364;nderungen erblich u&#x0364;ber-<lb/>
tragen werden, in gleicher Wei&#x017F;e wie es bei Krankheiten &#x017F;ehr allge-<lb/>
mein der Fall i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Jn &#x017F;ehr vielen Fa&#x0364;llen i&#x017F;t die Aba&#x0364;nderung, welche durch angepaßte<lb/>
Vererbung u&#x0364;bertragen und erhalten wird, angeboren, &#x017F;o bei dem vor-<lb/>
her erwa&#x0364;hnten Albinismus. Dann beruht die Aba&#x0364;nderung auf der-<lb/>
jenigen Form der Anpa&#x017F;&#x017F;ung, welche wir die indirecte oder potentielle<lb/>
nennen. Ein &#x017F;ehr auffallendes Bei&#x017F;piel dafu&#x0364;r liefert das hornlo&#x017F;e<lb/>
Rindvieh von Paraguay in Su&#x0364;damerika. Da&#x017F;elb&#x017F;t wird eine be&#x017F;on-<lb/>
dere Rindviehra&#x017F;&#x017F;e gezogen, die ganz der Ho&#x0364;rner entbehrt, ab&#x017F;tammend<lb/>
von einem einzigen Stiere, welcher im Jahre 1770 von einem ge-<lb/>
wo&#x0364;hnlichen geho&#x0364;rnten Elternpaare geboren wurde, und bei welchem<lb/>
der Mangel der Ho&#x0364;rner durch irgendwelche unbekannte Ur&#x017F;ache ver-<lb/>
anlaßt worden war. Alle Nachkommen die&#x017F;es Stieres, welche er<lb/>
mit einer geho&#x0364;rnten Kuh erzeugte, entbehrten der Ho&#x0364;rner voll&#x017F;ta&#x0364;ndig.<lb/>
Man fand die&#x017F;e Eigen&#x017F;chaft vortheilhaft, und indem man die unge-<lb/>
ho&#x0364;rnten Rinder unter einander fortpflanzte, erhielt man eine hornlo&#x017F;e<lb/>
Rindviehra&#x017F;&#x017F;e, welche gegenwa&#x0364;rtig die geho&#x0364;rnten Rinder in Paraguay<lb/>
fa&#x017F;t verdra&#x0364;ngt hat. Ein a&#x0364;hnliches Bei&#x017F;piel liefern die nordamerikani-<lb/>
&#x017F;chen Otter&#x017F;chafe. Jm Jahre 1791 lebte in Ma&#x017F;&#x017F;achu&#x017F;etts in Nord-<lb/>
amerika ein Landwirth, <hi rendition="#g">Seth Wright</hi> mit Namen. Jn &#x017F;einer<lb/>
wohlgebildeten Schafheerde wurde auf einmal ein Lamm geboren,<lb/>
welches einen auffallend langen Leib und ganz kurze und krumme<lb/>
Beine hatte. Es konnte daher keine großen Spru&#x0364;nge machen und na-<lb/>
mentlich nicht u&#x0364;ber den Zaun in des Nachbars Garten &#x017F;pringen; eine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[169/0190] Angepaßte oder erworbene Vererbung. dadurch gezogen, daß man mehrere Generationen hindurch beiden Ge- ſchlechtern des Hundes conſequent den Schwanz abſchnitt. Noch vor einigen Jahren kam hier in der Naͤhe von Jena auf einem Gute der Fall vor, daß beim unvorſichtigen Zuſchlagen des Stallthores einem Zuchtſtier der Schwanz an der Wurzel abgequetſcht wurde, und die von dieſem Stiere erzeugten Kaͤlber wurden ſaͤmmtlich ſchwanzlos geboren. Das iſt allerdings eine Ausnahme. Es iſt aber ſehr wichtig, die Thatſache feſtzuſtellen, daß unter gewiſſen uns unbekann- ten Bedingungen auch ſolche gewaltſame Veraͤnderungen erblich uͤber- tragen werden, in gleicher Weiſe wie es bei Krankheiten ſehr allge- mein der Fall iſt. Jn ſehr vielen Faͤllen iſt die Abaͤnderung, welche durch angepaßte Vererbung uͤbertragen und erhalten wird, angeboren, ſo bei dem vor- her erwaͤhnten Albinismus. Dann beruht die Abaͤnderung auf der- jenigen Form der Anpaſſung, welche wir die indirecte oder potentielle nennen. Ein ſehr auffallendes Beiſpiel dafuͤr liefert das hornloſe Rindvieh von Paraguay in Suͤdamerika. Daſelbſt wird eine beſon- dere Rindviehraſſe gezogen, die ganz der Hoͤrner entbehrt, abſtammend von einem einzigen Stiere, welcher im Jahre 1770 von einem ge- woͤhnlichen gehoͤrnten Elternpaare geboren wurde, und bei welchem der Mangel der Hoͤrner durch irgendwelche unbekannte Urſache ver- anlaßt worden war. Alle Nachkommen dieſes Stieres, welche er mit einer gehoͤrnten Kuh erzeugte, entbehrten der Hoͤrner vollſtaͤndig. Man fand dieſe Eigenſchaft vortheilhaft, und indem man die unge- hoͤrnten Rinder unter einander fortpflanzte, erhielt man eine hornloſe Rindviehraſſe, welche gegenwaͤrtig die gehoͤrnten Rinder in Paraguay faſt verdraͤngt hat. Ein aͤhnliches Beiſpiel liefern die nordamerikani- ſchen Otterſchafe. Jm Jahre 1791 lebte in Maſſachuſetts in Nord- amerika ein Landwirth, Seth Wright mit Namen. Jn ſeiner wohlgebildeten Schafheerde wurde auf einmal ein Lamm geboren, welches einen auffallend langen Leib und ganz kurze und krumme Beine hatte. Es konnte daher keine großen Spruͤnge machen und na- mentlich nicht uͤber den Zaun in des Nachbars Garten ſpringen; eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/190
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/190>, abgerufen am 30.11.2024.