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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Vererbung durch geschlechtliche und ungeschlechtliche Fortpflanzung.
in ihrer Art einzige Erscheinungen mit dem hohlen Gepränge schwerer
und tönender Worte zu überziehen, so wäre hier der Ort dazu; denn
wir sind an eines der großen Mysterien der thierischen Natur getreten,
welche die Stellung des Thieres gegenüber der ganzen übrigen Er-
scheinungswelt enthalten. Die Frage von der Zellenbildung, die Frage
von der Erregung anhaltender gleichartiger Bewegung, endlich die
Fragen von der Selbstständigkeit des Nervensystems und der Seele --
das sind die großen Aufgaben, an denen der Menschengeist seine Kraft
mißt. Die Beziehung des Mannes und des Weibes zur Eizelle zu er-
kennen, heißt fast so viel, als alle jene Mysterien lösen. Die Entste-
hung und Entwickelung der Eizelle im mütterlichen Körper, die Ueber-
tragung körperlicher und geistiger Eigenthümlichkeiten des Vaters durch
den Samen auf dieselbe, berühren alle Fragen, welche der Menschen-
geist je über des Menschen Sein aufgeworfen hat 12)." Und, fügen
wir hinzu, sie lösen diese höchsten Fragen mittelst der Descendenztheorie
in rein mechanischem, rein monistischem Sinne!

Daß also auch bei der geschlechtlichen Fortpflanzung des Men-
schen und aller höheren Organismen die Vererbung, ein rein mechani-
scher Vorgang, unmittelbar durch den materiellen Zusammenhang des
zeugenden und des gezeugten Organismus bedingt ist, ebenso wie bei
der einfachsten ungeschlechtlichen Fortpflanzung der niederen Organis-
men, darüber kann kein Zweifel mehr sein. Doch will ich Sie bei
dieser Gelegenheit sogleich auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam
machen, welchen die Vererbung bei der geschlechtlichen und bei der un-
geschlechtlichen Fortpflanzung darbietet. Es ist eine längst bekannte
Thatsache, daß die individuellen Eigenthümlichkeiten des zeugenden
Organismus viel genauer durch die ungeschlechtliche als durch die ge-
schlechtliche Fortpflanzung auf das erzeugte Jndividuum übertragen
werden. Die Gärtner machen von dieser Thatsache schon lange vielfach
Gebrauch. Wenn z. B. in einem Garten zufällig ein einzelnes Jndi-
viduum von einer Baumart, welche sonst steife, aufrecht stehende Aeste
und Zweige trägt, herabhängende Zweige bekömmt, so kann der
Gärtner in der Regel diese Eigenthümlichkeit nicht durch geschlechtliche,

Vererbung durch geſchlechtliche und ungeſchlechtliche Fortpflanzung.
in ihrer Art einzige Erſcheinungen mit dem hohlen Gepraͤnge ſchwerer
und toͤnender Worte zu uͤberziehen, ſo waͤre hier der Ort dazu; denn
wir ſind an eines der großen Myſterien der thieriſchen Natur getreten,
welche die Stellung des Thieres gegenuͤber der ganzen uͤbrigen Er-
ſcheinungswelt enthalten. Die Frage von der Zellenbildung, die Frage
von der Erregung anhaltender gleichartiger Bewegung, endlich die
Fragen von der Selbſtſtaͤndigkeit des Nervenſyſtems und der Seele —
das ſind die großen Aufgaben, an denen der Menſchengeiſt ſeine Kraft
mißt. Die Beziehung des Mannes und des Weibes zur Eizelle zu er-
kennen, heißt faſt ſo viel, als alle jene Myſterien loͤſen. Die Entſte-
hung und Entwickelung der Eizelle im muͤtterlichen Koͤrper, die Ueber-
tragung koͤrperlicher und geiſtiger Eigenthuͤmlichkeiten des Vaters durch
den Samen auf dieſelbe, beruͤhren alle Fragen, welche der Menſchen-
geiſt je uͤber des Menſchen Sein aufgeworfen hat 12).“ Und, fuͤgen
wir hinzu, ſie loͤſen dieſe hoͤchſten Fragen mittelſt der Deſcendenztheorie
in rein mechaniſchem, rein moniſtiſchem Sinne!

Daß alſo auch bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung des Men-
ſchen und aller hoͤheren Organismen die Vererbung, ein rein mechani-
ſcher Vorgang, unmittelbar durch den materiellen Zuſammenhang des
zeugenden und des gezeugten Organismus bedingt iſt, ebenſo wie bei
der einfachſten ungeſchlechtlichen Fortpflanzung der niederen Organis-
men, daruͤber kann kein Zweifel mehr ſein. Doch will ich Sie bei
dieſer Gelegenheit ſogleich auf einen wichtigen Unterſchied aufmerkſam
machen, welchen die Vererbung bei der geſchlechtlichen und bei der un-
geſchlechtlichen Fortpflanzung darbietet. Es iſt eine laͤngſt bekannte
Thatſache, daß die individuellen Eigenthuͤmlichkeiten des zeugenden
Organismus viel genauer durch die ungeſchlechtliche als durch die ge-
ſchlechtliche Fortpflanzung auf das erzeugte Jndividuum uͤbertragen
werden. Die Gaͤrtner machen von dieſer Thatſache ſchon lange vielfach
Gebrauch. Wenn z. B. in einem Garten zufaͤllig ein einzelnes Jndi-
viduum von einer Baumart, welche ſonſt ſteife, aufrecht ſtehende Aeſte
und Zweige traͤgt, herabhaͤngende Zweige bekoͤmmt, ſo kann der
Gaͤrtner in der Regel dieſe Eigenthuͤmlichkeit nicht durch geſchlechtliche,

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[156/0177] Vererbung durch geſchlechtliche und ungeſchlechtliche Fortpflanzung. in ihrer Art einzige Erſcheinungen mit dem hohlen Gepraͤnge ſchwerer und toͤnender Worte zu uͤberziehen, ſo waͤre hier der Ort dazu; denn wir ſind an eines der großen Myſterien der thieriſchen Natur getreten, welche die Stellung des Thieres gegenuͤber der ganzen uͤbrigen Er- ſcheinungswelt enthalten. Die Frage von der Zellenbildung, die Frage von der Erregung anhaltender gleichartiger Bewegung, endlich die Fragen von der Selbſtſtaͤndigkeit des Nervenſyſtems und der Seele — das ſind die großen Aufgaben, an denen der Menſchengeiſt ſeine Kraft mißt. Die Beziehung des Mannes und des Weibes zur Eizelle zu er- kennen, heißt faſt ſo viel, als alle jene Myſterien loͤſen. Die Entſte- hung und Entwickelung der Eizelle im muͤtterlichen Koͤrper, die Ueber- tragung koͤrperlicher und geiſtiger Eigenthuͤmlichkeiten des Vaters durch den Samen auf dieſelbe, beruͤhren alle Fragen, welche der Menſchen- geiſt je uͤber des Menſchen Sein aufgeworfen hat 12).“ Und, fuͤgen wir hinzu, ſie loͤſen dieſe hoͤchſten Fragen mittelſt der Deſcendenztheorie in rein mechaniſchem, rein moniſtiſchem Sinne! Daß alſo auch bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung des Men- ſchen und aller hoͤheren Organismen die Vererbung, ein rein mechani- ſcher Vorgang, unmittelbar durch den materiellen Zuſammenhang des zeugenden und des gezeugten Organismus bedingt iſt, ebenſo wie bei der einfachſten ungeſchlechtlichen Fortpflanzung der niederen Organis- men, daruͤber kann kein Zweifel mehr ſein. Doch will ich Sie bei dieſer Gelegenheit ſogleich auf einen wichtigen Unterſchied aufmerkſam machen, welchen die Vererbung bei der geſchlechtlichen und bei der un- geſchlechtlichen Fortpflanzung darbietet. Es iſt eine laͤngſt bekannte Thatſache, daß die individuellen Eigenthuͤmlichkeiten des zeugenden Organismus viel genauer durch die ungeſchlechtliche als durch die ge- ſchlechtliche Fortpflanzung auf das erzeugte Jndividuum uͤbertragen werden. Die Gaͤrtner machen von dieſer Thatſache ſchon lange vielfach Gebrauch. Wenn z. B. in einem Garten zufaͤllig ein einzelnes Jndi- viduum von einer Baumart, welche ſonſt ſteife, aufrecht ſtehende Aeſte und Zweige traͤgt, herabhaͤngende Zweige bekoͤmmt, ſo kann der Gaͤrtner in der Regel dieſe Eigenthuͤmlichkeit nicht durch geſchlechtliche,

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/177>, abgerufen am 25.11.2024.