Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.Materielle Vererbung geistiger Eigenschaften. organe und des Nervensystems, welche sich sehr leicht erblich übertragen.Sehr häufig tritt plötzlich in einer sonst gesunden Familie eine derselben bisher unbekannte Erkrankung auf; sie wird erworben durch äußere Ursachen, durch krankmachende Lebensbedingungen. Diese Krankheit, welche bei einem einzelnen Jndividuum durch äußere Ursachen bewirkt wurde, pflanzt sich von diesem auf seine Nachkommen fort, und diese haben nun alle oder zum Theil an derselben Krankheit zu leiden. Bei Lungenkrankheiten, z. B. Schwindsucht, ist dieses traurige Verhältniß der Erblichkeit allbekannt, ebenso bei Leberkrankheiten, bei Geistes- krankheiten. Diese letzteren sind von ganz besonderem Jnteresse. Ebenso wie besondere Characterzüge des Menschen, Stolz, Ehrgeiz, Dummheit, Leichtsinn u. s. w. streng durch die Vererbung auf die Nachkommenschaft übertragen werden, so gilt das auch von den be- sonderen, abnormen Aeußerungen der Seelenthätigkeit, welche man als fixe Jdeen, Schwermuth, Blödsinn und überhaupt als Geistes- krankheiten bezeichnet. Es zeigt sich hier deutlich und unwiderleglich, daß die Seele des Menschen, ebenso wie die Seele der Thiere, eine rein mechanische Thätigkeit, eine physiologische Bewegungserscheinung der Gehirntheilchen ist, und daß sie mit ihrem Substrate, ebenso wie jede andere Körpereigenschaft, durch die Fortpflanzung materiell über- tragen, vererbt wird. Diese äußerst wichtige und unleugbare Thatsache erregt, wenn man Materielle Vererbung geiſtiger Eigenſchaften. organe und des Nervenſyſtems, welche ſich ſehr leicht erblich uͤbertragen.Sehr haͤufig tritt ploͤtzlich in einer ſonſt geſunden Familie eine derſelben bisher unbekannte Erkrankung auf; ſie wird erworben durch aͤußere Urſachen, durch krankmachende Lebensbedingungen. Dieſe Krankheit, welche bei einem einzelnen Jndividuum durch aͤußere Urſachen bewirkt wurde, pflanzt ſich von dieſem auf ſeine Nachkommen fort, und dieſe haben nun alle oder zum Theil an derſelben Krankheit zu leiden. Bei Lungenkrankheiten, z. B. Schwindſucht, iſt dieſes traurige Verhaͤltniß der Erblichkeit allbekannt, ebenſo bei Leberkrankheiten, bei Geiſtes- krankheiten. Dieſe letzteren ſind von ganz beſonderem Jntereſſe. Ebenſo wie beſondere Characterzuͤge des Menſchen, Stolz, Ehrgeiz, Dummheit, Leichtſinn u. ſ. w. ſtreng durch die Vererbung auf die Nachkommenſchaft uͤbertragen werden, ſo gilt das auch von den be- ſonderen, abnormen Aeußerungen der Seelenthaͤtigkeit, welche man als fixe Jdeen, Schwermuth, Bloͤdſinn und uͤberhaupt als Geiſtes- krankheiten bezeichnet. Es zeigt ſich hier deutlich und unwiderleglich, daß die Seele des Menſchen, ebenſo wie die Seele der Thiere, eine rein mechaniſche Thaͤtigkeit, eine phyſiologiſche Bewegungserſcheinung der Gehirntheilchen iſt, und daß ſie mit ihrem Subſtrate, ebenſo wie jede andere Koͤrpereigenſchaft, durch die Fortpflanzung materiell uͤber- tragen, vererbt wird. Dieſe aͤußerſt wichtige und unleugbare Thatſache erregt, wenn man <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0159" n="138"/><fw place="top" type="header">Materielle Vererbung geiſtiger Eigenſchaften.</fw><lb/> organe und des Nervenſyſtems, welche ſich ſehr leicht erblich uͤbertragen.<lb/> Sehr haͤufig tritt ploͤtzlich in einer ſonſt geſunden Familie eine derſelben<lb/> bisher unbekannte Erkrankung auf; ſie wird erworben durch aͤußere<lb/> Urſachen, durch krankmachende Lebensbedingungen. Dieſe Krankheit,<lb/> welche bei einem einzelnen Jndividuum durch aͤußere Urſachen bewirkt<lb/> wurde, pflanzt ſich von dieſem auf ſeine Nachkommen fort, und dieſe<lb/> haben nun alle oder zum Theil an derſelben Krankheit zu leiden. Bei<lb/> Lungenkrankheiten, z. B. Schwindſucht, iſt dieſes traurige Verhaͤltniß<lb/> der Erblichkeit allbekannt, ebenſo bei Leberkrankheiten, bei Geiſtes-<lb/> krankheiten. 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Materielle Vererbung geiſtiger Eigenſchaften.
organe und des Nervenſyſtems, welche ſich ſehr leicht erblich uͤbertragen.
Sehr haͤufig tritt ploͤtzlich in einer ſonſt geſunden Familie eine derſelben
bisher unbekannte Erkrankung auf; ſie wird erworben durch aͤußere
Urſachen, durch krankmachende Lebensbedingungen. Dieſe Krankheit,
welche bei einem einzelnen Jndividuum durch aͤußere Urſachen bewirkt
wurde, pflanzt ſich von dieſem auf ſeine Nachkommen fort, und dieſe
haben nun alle oder zum Theil an derſelben Krankheit zu leiden. Bei
Lungenkrankheiten, z. B. Schwindſucht, iſt dieſes traurige Verhaͤltniß
der Erblichkeit allbekannt, ebenſo bei Leberkrankheiten, bei Geiſtes-
krankheiten. Dieſe letzteren ſind von ganz beſonderem Jntereſſe.
Ebenſo wie beſondere Characterzuͤge des Menſchen, Stolz, Ehrgeiz,
Dummheit, Leichtſinn u. ſ. w. ſtreng durch die Vererbung auf die
Nachkommenſchaft uͤbertragen werden, ſo gilt das auch von den be-
ſonderen, abnormen Aeußerungen der Seelenthaͤtigkeit, welche man
als fixe Jdeen, Schwermuth, Bloͤdſinn und uͤberhaupt als Geiſtes-
krankheiten bezeichnet. Es zeigt ſich hier deutlich und unwiderleglich,
daß die Seele des Menſchen, ebenſo wie die Seele der Thiere, eine rein
mechaniſche Thaͤtigkeit, eine phyſiologiſche Bewegungserſcheinung der
Gehirntheilchen iſt, und daß ſie mit ihrem Subſtrate, ebenſo wie
jede andere Koͤrpereigenſchaft, durch die Fortpflanzung materiell uͤber-
tragen, vererbt wird.
Dieſe aͤußerſt wichtige und unleugbare Thatſache erregt, wenn man
ſie ausſpricht, gewoͤhnlich großes Aergerniß, und doch wird ſie eigent-
lich ſtillſchweigend allgemein anerkannt. Denn worauf beruhen die
Vorſtellungen von der „Erbſuͤnde“, der „Erbweisheit“, dem „Erb-
adel“ u. ſ. w. Anders, als auf der Ueberzeugung, daß die menſchliche
Geiſtesbeſchaffenheit durch die Fortpflanzung — alſo durch einen
rein materiellen Vorgang! — koͤrperlich von den Eltern auf
die Nachkommen uͤbertragen wird? — Die Anerkennung dieſer gro-
ßen Bedeutung der Erblichkeit aͤußert ſich in einer Menge von menſch-
lichen Einrichtungen, wie z. B. in der Kaſteneintheilung vieler Voͤlker
in Kriegerkaſten, Prieſterkaſten, Arbeiterkaſten u. ſ. w. Offenbar be-
ruht urſpruͤnglich die Einrichtung ſolcher Kaſten auf der Vorſtellung
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Zitationshilfe: | Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/159>, abgerufen am 23.07.2024. |