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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Andreas Wagner und der Baum des Erkenntnisses.
thiere und Gartenpflanzen, seien Kunstproducte des Menschen, und
deren Bildung und Umbildung könne gar Nichts über das Wesen der
Bildung und über die Entstehung der Formen bei den wilden, im Na-
turzustande lebenden Arten entscheiden.

Diese verkehrte Auffassung ging so weit, daß z. B. ein Münche-
ner Zoologe, Andreas Wagner, alles Ernstes die lächerliche Be-
hauptung aufstellte: Die Thiere und Pflanzen im wilden Zustande sind
vom Schöpfer als bestimmt unterschiedene und unveränderliche Arten
erschaffen worden; allein bei den Hausthieren und Culturpflanzen
war dies deshalb nicht nöthig, weil er dieselben von vornherein für
den Gebrauch des Menschen einrichtete. Der Schöpfer machte also
den Menschen aus einem Erdenkloß, blies ihm lebendigen Odem in
seine Nase und schuf dann für ihn die verschiedenen nützlichen Hausthiere
und Gartenpflanzen, bei denen er sich in der That die Mühe der
Speciesunterscheidung sparen konnte. Ob der Baum des Erkennt-
nisses
im Paradiesgarten eine "gute" wilde Species, oder als
Culturpflanze überhaupt "keine Species" war, erfahren wir leider
durch Andreas Wagner nicht. Da der Baum des Erkenntnisses
vom Schöpfer mitten in den Paradiesgarten gesetzt wurde, möchte
man eher glauben, daß er eine höchst bevorzugte Culturpflanze, also
überhaupt keine Species war. Da aber andrerseits die Früchte vom
Baume des Erkenntnisses dem Menschen verboten waren, und viele
Menschen, wie Wagner's eigenes Beispiel klar zeigt, niemals von die-
sen Früchten gegessen haben, so ist er offenbar nicht für den Gebrauch
des Menschen erschaffen und also wahrscheinlich eine wirkliche Spe-
cies!
Wie Schade daß uns Wagner über diese wichtige und schwie-
rige Frage nicht belehrt hat!

So lächerlich Jhnen nun diese Ansicht auch vorkommen mag, so
ist dieselbe doch nur ein folgerichtiger Auswuchs einer falschen, in der
That aber weit verbreiteten Ansicht von dem besonderen Wesen der
Culturorganismen, und Sie können bisweilen von ganz angesehenen
Naturforschern ähnliche Einwürfe hören. Gegen diese grundfalsche
Auffassung muß ich mich von vornherein ganz bestimmt wenden. Es

Andreas Wagner und der Baum des Erkenntniſſes.
thiere und Gartenpflanzen, ſeien Kunſtproducte des Menſchen, und
deren Bildung und Umbildung koͤnne gar Nichts uͤber das Weſen der
Bildung und uͤber die Entſtehung der Formen bei den wilden, im Na-
turzuſtande lebenden Arten entſcheiden.

Dieſe verkehrte Auffaſſung ging ſo weit, daß z. B. ein Muͤnche-
ner Zoologe, Andreas Wagner, alles Ernſtes die laͤcherliche Be-
hauptung aufſtellte: Die Thiere und Pflanzen im wilden Zuſtande ſind
vom Schoͤpfer als beſtimmt unterſchiedene und unveraͤnderliche Arten
erſchaffen worden; allein bei den Hausthieren und Culturpflanzen
war dies deshalb nicht noͤthig, weil er dieſelben von vornherein fuͤr
den Gebrauch des Menſchen einrichtete. Der Schoͤpfer machte alſo
den Menſchen aus einem Erdenkloß, blies ihm lebendigen Odem in
ſeine Naſe und ſchuf dann fuͤr ihn die verſchiedenen nuͤtzlichen Hausthiere
und Gartenpflanzen, bei denen er ſich in der That die Muͤhe der
Speciesunterſcheidung ſparen konnte. Ob der Baum des Erkennt-
niſſes
im Paradiesgarten eine „gute“ wilde Species, oder als
Culturpflanze uͤberhaupt „keine Species“ war, erfahren wir leider
durch Andreas Wagner nicht. Da der Baum des Erkenntniſſes
vom Schoͤpfer mitten in den Paradiesgarten geſetzt wurde, moͤchte
man eher glauben, daß er eine hoͤchſt bevorzugte Culturpflanze, alſo
uͤberhaupt keine Species war. Da aber andrerſeits die Fruͤchte vom
Baume des Erkenntniſſes dem Menſchen verboten waren, und viele
Menſchen, wie Wagner’s eigenes Beiſpiel klar zeigt, niemals von die-
ſen Fruͤchten gegeſſen haben, ſo iſt er offenbar nicht fuͤr den Gebrauch
des Menſchen erſchaffen und alſo wahrſcheinlich eine wirkliche Spe-
cies!
Wie Schade daß uns Wagner uͤber dieſe wichtige und ſchwie-
rige Frage nicht belehrt hat!

So laͤcherlich Jhnen nun dieſe Anſicht auch vorkommen mag, ſo
iſt dieſelbe doch nur ein folgerichtiger Auswuchs einer falſchen, in der
That aber weit verbreiteten Anſicht von dem beſonderen Weſen der
Culturorganismen, und Sie koͤnnen bisweilen von ganz angeſehenen
Naturforſchern aͤhnliche Einwuͤrfe hoͤren. Gegen dieſe grundfalſche
Auffaſſung muß ich mich von vornherein ganz beſtimmt wenden. Es

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[111/0132] Andreas Wagner und der Baum des Erkenntniſſes. thiere und Gartenpflanzen, ſeien Kunſtproducte des Menſchen, und deren Bildung und Umbildung koͤnne gar Nichts uͤber das Weſen der Bildung und uͤber die Entſtehung der Formen bei den wilden, im Na- turzuſtande lebenden Arten entſcheiden. Dieſe verkehrte Auffaſſung ging ſo weit, daß z. B. ein Muͤnche- ner Zoologe, Andreas Wagner, alles Ernſtes die laͤcherliche Be- hauptung aufſtellte: Die Thiere und Pflanzen im wilden Zuſtande ſind vom Schoͤpfer als beſtimmt unterſchiedene und unveraͤnderliche Arten erſchaffen worden; allein bei den Hausthieren und Culturpflanzen war dies deshalb nicht noͤthig, weil er dieſelben von vornherein fuͤr den Gebrauch des Menſchen einrichtete. Der Schoͤpfer machte alſo den Menſchen aus einem Erdenkloß, blies ihm lebendigen Odem in ſeine Naſe und ſchuf dann fuͤr ihn die verſchiedenen nuͤtzlichen Hausthiere und Gartenpflanzen, bei denen er ſich in der That die Muͤhe der Speciesunterſcheidung ſparen konnte. Ob der Baum des Erkennt- niſſes im Paradiesgarten eine „gute“ wilde Species, oder als Culturpflanze uͤberhaupt „keine Species“ war, erfahren wir leider durch Andreas Wagner nicht. Da der Baum des Erkenntniſſes vom Schoͤpfer mitten in den Paradiesgarten geſetzt wurde, moͤchte man eher glauben, daß er eine hoͤchſt bevorzugte Culturpflanze, alſo uͤberhaupt keine Species war. Da aber andrerſeits die Fruͤchte vom Baume des Erkenntniſſes dem Menſchen verboten waren, und viele Menſchen, wie Wagner’s eigenes Beiſpiel klar zeigt, niemals von die- ſen Fruͤchten gegeſſen haben, ſo iſt er offenbar nicht fuͤr den Gebrauch des Menſchen erſchaffen und alſo wahrſcheinlich eine wirkliche Spe- cies! Wie Schade daß uns Wagner uͤber dieſe wichtige und ſchwie- rige Frage nicht belehrt hat! So laͤcherlich Jhnen nun dieſe Anſicht auch vorkommen mag, ſo iſt dieſelbe doch nur ein folgerichtiger Auswuchs einer falſchen, in der That aber weit verbreiteten Anſicht von dem beſonderen Weſen der Culturorganismen, und Sie koͤnnen bisweilen von ganz angeſehenen Naturforſchern aͤhnliche Einwuͤrfe hoͤren. Gegen dieſe grundfalſche Auffaſſung muß ich mich von vornherein ganz beſtimmt wenden. Es

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/132>, abgerufen am 25.11.2024.