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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Lamarck's monistische Entwickelungstheorie.
der höchst zusammengesetzten Organisation. Der Entwickelungsgang
der Erde und ihrer organischen Bevölkerung war ganz continuirlich,
nicht durch gewaltsame Revolutionen unterbrochen. Das Leben ist
nur ein physikalisches Phänomen. Alle Lebenserscheinungen beruhen
auf mechanischen, auf physikalischen und chemischen Ursachen, die in
der Beschaffenheit der organischen Materie selbst liegen. Die einfach-
sten Thiere und die einfachsten Pflanzen, welche auf der tiefsten Stufe
der Organisationsleiter stehen, sind entstanden und entstehen noch
heute durch Urzeugung (Generatio spontanea). Alle lebendigen
Naturkörper oder Organismen sind denselben Naturgesetzen, wie die
leblosen Naturkörper oder die Anorgane unterworfen. Die Jdeen und
Thätigkeiten des Verstandes sind Bewegungserscheinungen des Cen-
tralnervensystems. Der Wille ist in Wahrheit niemals frei. Die Ver-
nunft ist nur ein höherer Grad von Entwickelung und Verbindung der
Urtheile."

Das sind nun in der That erstaunlich kühne, großartige und
weitreichende Ansichten, welche Lamarck vor 60 Jahren in diesen
Sätzen niederlegte, und zwar zu einer Zeit, in welcher deren Begrün-
dung durch massenhafte Thatsachen nicht entfernt so, wie heutzutage,
möglich war. Sie sehen, daß Lamarck's Werk eigentlich ein voll-
ständiges, streng monistisches (mechanisches) Natursystem ist, daß alle
wichtigen allgemeinen Grundsätze der monistischen Biologie bereits von
ihm vertreten werden: Die Einheit der wirkenden Ursachen in der or-
ganischen und anorganischen Natur, der letzte Grund dieser Ursachen
in den chemischen und physikalischen Eigenschaften der Materie, der
Mangel einer besonderen Lebenskraft oder einer organischen Endur-
sache; die Abstammung aller Organismen von einigen wenigen, höchst
einfachen Stammformen oder Urwesen, welche durch Urzeugung aus
anorganischen Materien entstanden sind; der zusammenhängende Ver-
lauf der ganzen Erdgeschichte, und der Mangel der gewaltsamen und
totalen Erdrevolutionen, und überhaupt die Undenkbarkeit jedes Wun-
ders, jedes übernatürlichen Eingriffs in den natürlichen Entwickelungs-
gang der Materie.

Lamarck’s moniſtiſche Entwickelungstheorie.
der hoͤchſt zuſammengeſetzten Organiſation. Der Entwickelungsgang
der Erde und ihrer organiſchen Bevoͤlkerung war ganz continuirlich,
nicht durch gewaltſame Revolutionen unterbrochen. Das Leben iſt
nur ein phyſikaliſches Phaͤnomen. Alle Lebenserſcheinungen beruhen
auf mechaniſchen, auf phyſikaliſchen und chemiſchen Urſachen, die in
der Beſchaffenheit der organiſchen Materie ſelbſt liegen. Die einfach-
ſten Thiere und die einfachſten Pflanzen, welche auf der tiefſten Stufe
der Organiſationsleiter ſtehen, ſind entſtanden und entſtehen noch
heute durch Urzeugung (Generatio spontanea). Alle lebendigen
Naturkoͤrper oder Organismen ſind denſelben Naturgeſetzen, wie die
lebloſen Naturkoͤrper oder die Anorgane unterworfen. Die Jdeen und
Thaͤtigkeiten des Verſtandes ſind Bewegungserſcheinungen des Cen-
tralnervenſyſtems. Der Wille iſt in Wahrheit niemals frei. Die Ver-
nunft iſt nur ein hoͤherer Grad von Entwickelung und Verbindung der
Urtheile.“

Das ſind nun in der That erſtaunlich kuͤhne, großartige und
weitreichende Anſichten, welche Lamarck vor 60 Jahren in dieſen
Saͤtzen niederlegte, und zwar zu einer Zeit, in welcher deren Begruͤn-
dung durch maſſenhafte Thatſachen nicht entfernt ſo, wie heutzutage,
moͤglich war. Sie ſehen, daß Lamarck’s Werk eigentlich ein voll-
ſtaͤndiges, ſtreng moniſtiſches (mechaniſches) Naturſyſtem iſt, daß alle
wichtigen allgemeinen Grundſaͤtze der moniſtiſchen Biologie bereits von
ihm vertreten werden: Die Einheit der wirkenden Urſachen in der or-
ganiſchen und anorganiſchen Natur, der letzte Grund dieſer Urſachen
in den chemiſchen und phyſikaliſchen Eigenſchaften der Materie, der
Mangel einer beſonderen Lebenskraft oder einer organiſchen Endur-
ſache; die Abſtammung aller Organismen von einigen wenigen, hoͤchſt
einfachen Stammformen oder Urweſen, welche durch Urzeugung aus
anorganiſchen Materien entſtanden ſind; der zuſammenhaͤngende Ver-
lauf der ganzen Erdgeſchichte, und der Mangel der gewaltſamen und
totalen Erdrevolutionen, und uͤberhaupt die Undenkbarkeit jedes Wun-
ders, jedes uͤbernatuͤrlichen Eingriffs in den natuͤrlichen Entwickelungs-
gang der Materie.

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[91/0112] Lamarck’s moniſtiſche Entwickelungstheorie. der hoͤchſt zuſammengeſetzten Organiſation. Der Entwickelungsgang der Erde und ihrer organiſchen Bevoͤlkerung war ganz continuirlich, nicht durch gewaltſame Revolutionen unterbrochen. Das Leben iſt nur ein phyſikaliſches Phaͤnomen. Alle Lebenserſcheinungen beruhen auf mechaniſchen, auf phyſikaliſchen und chemiſchen Urſachen, die in der Beſchaffenheit der organiſchen Materie ſelbſt liegen. Die einfach- ſten Thiere und die einfachſten Pflanzen, welche auf der tiefſten Stufe der Organiſationsleiter ſtehen, ſind entſtanden und entſtehen noch heute durch Urzeugung (Generatio spontanea). Alle lebendigen Naturkoͤrper oder Organismen ſind denſelben Naturgeſetzen, wie die lebloſen Naturkoͤrper oder die Anorgane unterworfen. Die Jdeen und Thaͤtigkeiten des Verſtandes ſind Bewegungserſcheinungen des Cen- tralnervenſyſtems. Der Wille iſt in Wahrheit niemals frei. Die Ver- nunft iſt nur ein hoͤherer Grad von Entwickelung und Verbindung der Urtheile.“ Das ſind nun in der That erſtaunlich kuͤhne, großartige und weitreichende Anſichten, welche Lamarck vor 60 Jahren in dieſen Saͤtzen niederlegte, und zwar zu einer Zeit, in welcher deren Begruͤn- dung durch maſſenhafte Thatſachen nicht entfernt ſo, wie heutzutage, moͤglich war. Sie ſehen, daß Lamarck’s Werk eigentlich ein voll- ſtaͤndiges, ſtreng moniſtiſches (mechaniſches) Naturſyſtem iſt, daß alle wichtigen allgemeinen Grundſaͤtze der moniſtiſchen Biologie bereits von ihm vertreten werden: Die Einheit der wirkenden Urſachen in der or- ganiſchen und anorganiſchen Natur, der letzte Grund dieſer Urſachen in den chemiſchen und phyſikaliſchen Eigenſchaften der Materie, der Mangel einer beſonderen Lebenskraft oder einer organiſchen Endur- ſache; die Abſtammung aller Organismen von einigen wenigen, hoͤchſt einfachen Stammformen oder Urweſen, welche durch Urzeugung aus anorganiſchen Materien entſtanden ſind; der zuſammenhaͤngende Ver- lauf der ganzen Erdgeſchichte, und der Mangel der gewaltſamen und totalen Erdrevolutionen, und uͤberhaupt die Undenkbarkeit jedes Wun- ders, jedes uͤbernatuͤrlichen Eingriffs in den natuͤrlichen Entwickelungs- gang der Materie.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/112>, abgerufen am 18.05.2024.