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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
weder bereits das Junge oder der jugendliche Organismus selbst
(wenn er durch blosses Wachsthum zum erwachsenen und geschlechts-
reifen Organismus wird), oder eine Larve (wenn noch eine Reihe von
Formveränderungen mit dem Wachsthum verbunden ist), oder eine
Amme (wenn er mittelbar erst, durch Dazwischentreten einer zweiten
oder mehrerer Generationen, in die Form des geschlechtsreifen erwach-
senen Organismus zurückkehrt). Unter Embryologie können wir da-
her, wenn dieser Ausdruck einen bestimmten Sinn haben soll, nur
die Wissenschaft von denjenigen Formveränderungen und Formen-
reihen verstehen, welche der Organismus innerhalb der Eihüllen
durchläuft.

Die Bezeichnung "Embryologie" ist der Entwickelungsgeschichte
der Wirbelthiere entnommen, bei denen fast immer (nur die Amphibien,
Cyclostomen und einige Fische ausgenommen), sämmtliche wesent-
liche Formveränderungen des Körpers innerhalb der Eihüllen durch-
laufen werden. Hier kann daher der Ausdruck Embryologie mit
einigem Rechte zur Bezeichnung der gesammten Entwickelungsge-
schichte des Organismus verwandt werden, zumal die späteren oder
postembryonalen Formveränderungen (z. B. diejenigen, welche die
Senilität einleiten und die Decrescenz begleiten) in der Regel nicht von
der Morphologie in Betracht gezogen werden (obschon sie es verdien-
ten). Ganz anders gestaltet sich aber die Bedeutung der Embryologie
bei den wirbellosen Thieren, bei denen, gleichwie bei den Amphibien,
Cyclostomen etc. bedeutende Formveränderungen, und zwar häufig
die grössten und wichtigsten, erst in der Periode des Larvenlebens
eintreten, wenn der Embryo die Eihüllen verlassen und damit seinen
embryonalen Character aufgegeben hat. Wollen wir bei diesen Or-
ganismen, welche also eine "Metamorphose" durchlaufen, für die Er-
kenntniss der embryonalen Formveränderungen die Bezeichnung der
Embryologie beibehalten, so können wir diese nur als einen Zweig
ihrer Entwickelungsgeschichte ansehen, und müssen diesem den anderen
Zweig der Wissenschaft von den postembryonalen Formveränderungen
(Metamorphosen etc.) entgegen setzen; dieser liesse sich dann passend
als Metamorphologie (Metamorphosenlehre) oder als Schadonologie 1)
(Larvenlehre) bezeichnen.

Die gesammte Entwickelungsgeschichte der Individuen würde dem-
nach in zwei Theile zerfallen, die Embryologie oder Entwickelungs-
geschichte des Organismus innerhalb der Eihüllen, und die Schadono-
logie
oder Entwickelungsgeschichte des Organismus ausserhalb der
Eihüllen. Für die gesammte Entwickelungsgeschichte des Individuums,
welche sich aus diesen beiden Disciplinen zusammensetzt, würden wir,

1) skhadon, e, die Larve, besonders die Insecten-Larve (Aristoteles).

Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.
weder bereits das Junge oder der jugendliche Organismus selbst
(wenn er durch blosses Wachsthum zum erwachsenen und geschlechts-
reifen Organismus wird), oder eine Larve (wenn noch eine Reihe von
Formveränderungen mit dem Wachsthum verbunden ist), oder eine
Amme (wenn er mittelbar erst, durch Dazwischentreten einer zweiten
oder mehrerer Generationen, in die Form des geschlechtsreifen erwach-
senen Organismus zurückkehrt). Unter Embryologie können wir da-
her, wenn dieser Ausdruck einen bestimmten Sinn haben soll, nur
die Wissenschaft von denjenigen Formveränderungen und Formen-
reihen verstehen, welche der Organismus innerhalb der Eihüllen
durchläuft.

Die Bezeichnung „Embryologie“ ist der Entwickelungsgeschichte
der Wirbelthiere entnommen, bei denen fast immer (nur die Amphibien,
Cyclostomen und einige Fische ausgenommen), sämmtliche wesent-
liche Formveränderungen des Körpers innerhalb der Eihüllen durch-
laufen werden. Hier kann daher der Ausdruck Embryologie mit
einigem Rechte zur Bezeichnung der gesammten Entwickelungsge-
schichte des Organismus verwandt werden, zumal die späteren oder
postembryonalen Formveränderungen (z. B. diejenigen, welche die
Senilität einleiten und die Decrescenz begleiten) in der Regel nicht von
der Morphologie in Betracht gezogen werden (obschon sie es verdien-
ten). Ganz anders gestaltet sich aber die Bedeutung der Embryologie
bei den wirbellosen Thieren, bei denen, gleichwie bei den Amphibien,
Cyclostomen etc. bedeutende Formveränderungen, und zwar häufig
die grössten und wichtigsten, erst in der Periode des Larvenlebens
eintreten, wenn der Embryo die Eihüllen verlassen und damit seinen
embryonalen Character aufgegeben hat. Wollen wir bei diesen Or-
ganismen, welche also eine „Metamorphose“ durchlaufen, für die Er-
kenntniss der embryonalen Formveränderungen die Bezeichnung der
Embryologie beibehalten, so können wir diese nur als einen Zweig
ihrer Entwickelungsgeschichte ansehen, und müssen diesem den anderen
Zweig der Wissenschaft von den postembryonalen Formveränderungen
(Metamorphosen etc.) entgegen setzen; dieser liesse sich dann passend
als Metamorphologie (Metamorphosenlehre) oder als Schadonologie 1)
(Larvenlehre) bezeichnen.

Die gesammte Entwickelungsgeschichte der Individuen würde dem-
nach in zwei Theile zerfallen, die Embryologie oder Entwickelungs-
geschichte des Organismus innerhalb der Eihüllen, und die Schadono-
logie
oder Entwickelungsgeschichte des Organismus ausserhalb der
Eihüllen. Für die gesammte Entwickelungsgeschichte des Individuums,
welche sich aus diesen beiden Disciplinen zusammensetzt, würden wir,

1) σχαδών, ἡ, die Larve, besonders die Insecten-Larve (Aristoteles).
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[54/0093] Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften. weder bereits das Junge oder der jugendliche Organismus selbst (wenn er durch blosses Wachsthum zum erwachsenen und geschlechts- reifen Organismus wird), oder eine Larve (wenn noch eine Reihe von Formveränderungen mit dem Wachsthum verbunden ist), oder eine Amme (wenn er mittelbar erst, durch Dazwischentreten einer zweiten oder mehrerer Generationen, in die Form des geschlechtsreifen erwach- senen Organismus zurückkehrt). Unter Embryologie können wir da- her, wenn dieser Ausdruck einen bestimmten Sinn haben soll, nur die Wissenschaft von denjenigen Formveränderungen und Formen- reihen verstehen, welche der Organismus innerhalb der Eihüllen durchläuft. Die Bezeichnung „Embryologie“ ist der Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere entnommen, bei denen fast immer (nur die Amphibien, Cyclostomen und einige Fische ausgenommen), sämmtliche wesent- liche Formveränderungen des Körpers innerhalb der Eihüllen durch- laufen werden. Hier kann daher der Ausdruck Embryologie mit einigem Rechte zur Bezeichnung der gesammten Entwickelungsge- schichte des Organismus verwandt werden, zumal die späteren oder postembryonalen Formveränderungen (z. B. diejenigen, welche die Senilität einleiten und die Decrescenz begleiten) in der Regel nicht von der Morphologie in Betracht gezogen werden (obschon sie es verdien- ten). Ganz anders gestaltet sich aber die Bedeutung der Embryologie bei den wirbellosen Thieren, bei denen, gleichwie bei den Amphibien, Cyclostomen etc. bedeutende Formveränderungen, und zwar häufig die grössten und wichtigsten, erst in der Periode des Larvenlebens eintreten, wenn der Embryo die Eihüllen verlassen und damit seinen embryonalen Character aufgegeben hat. Wollen wir bei diesen Or- ganismen, welche also eine „Metamorphose“ durchlaufen, für die Er- kenntniss der embryonalen Formveränderungen die Bezeichnung der Embryologie beibehalten, so können wir diese nur als einen Zweig ihrer Entwickelungsgeschichte ansehen, und müssen diesem den anderen Zweig der Wissenschaft von den postembryonalen Formveränderungen (Metamorphosen etc.) entgegen setzen; dieser liesse sich dann passend als Metamorphologie (Metamorphosenlehre) oder als Schadonologie 1) (Larvenlehre) bezeichnen. Die gesammte Entwickelungsgeschichte der Individuen würde dem- nach in zwei Theile zerfallen, die Embryologie oder Entwickelungs- geschichte des Organismus innerhalb der Eihüllen, und die Schadono- logie oder Entwickelungsgeschichte des Organismus ausserhalb der Eihüllen. Für die gesammte Entwickelungsgeschichte des Individuums, welche sich aus diesen beiden Disciplinen zusammensetzt, würden wir, 1) σχαδών, ἡ, die Larve, besonders die Insecten-Larve (Aristoteles).

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/93>, abgerufen am 24.11.2024.