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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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III. Anatomie und Systematik.
und classificirt, als die Sammlungen von Schneckenschalen, Muschelschalen,
Vogelbälgen u. s. w., deren Liebhaber "Zoologen" zu sein glauben. Man
frage nur die sogenannten Ornithologen, die jede Vogel-Species mit Namen
kennen, ob sie vom Bau der Federn, oder gar von der Structur des Ge-
hirns und des Auges irgend eines Vogels, von der Entwickelungsgeschichte
des Hühnchens im Ei, von den innigen Verwandtschaftsverhältnissen der
Vögel zu den nächststehenden Reptilien irgend welche eingehende Kennt-
nisse besitzen? Oder man frage die Entomologen, die sich mit ihren kost-
baren Käfer- und Schmetterlings-Sammlungen brüsten, ob sie den Bau und
die Entwickelung der Chitinausscheidungen, mit deren Form sie sich aus-
schliesslich beschäftigen, kennen, ob sie die Entwickelungsgeschichte einer
einzigen Form von Anfang an verfolgt haben, ob sie von den fossilen Insec-
ten oder von den den Insecten nächstverwandten Spinnen etwas wissen? Lei-
der wird man in den allermeisten Fällen auf die erstaunlichste Beschränkt-
heit und auf die gröbste Unwissenheit in den wichtigsten Zweigen der
Zoologie selbst auf dem kleinen und engbegränzten Felde stossen, welches
diese "Systematiker" für ihr Specialfach ausgeben. So lange dieser syste-
matische Dilettantismus, der mit der Heraldik und der Briefmarkologie voll-
kommen auf einer Stufe der "Wissenschaft" steht, nichts Anderes sein will,
als eine harmlose Gemüths- und Augen-Ergötzung, kann man ihn ruhig ge-
währen lassen. Von logos ist in der einen Logie so viel als in der anderen.
Sobald er aber den Anspruch macht, "Zoologie" oder "Phytologie" zu
sein, muss er auf den ihm gebührenden Platz aufmerksam gemacht werden.

Nur durch das Ueberwuchern dieser ganz oberflächlichen Systematik,
welche sich mit der Betrachtung der äusserlichsten und oberflächlichsten
Formverhältnisse begnügte, und dennoch sich für die "eigentliche Zoologie"
ausgab, war es möglich, dass der Gegensatz zwischen Systematik
und Anatomie in der Weise sich ausbildete, wie er noch heutzutage von
sehr vielen Seiten festgehalten wird. Diese Systematik, die sich so scharf
der Anatomie gegenübersetzt, ist selbst nur ein ganz kleines und unbedeu-
tendes Bruchstück derselben. Denn die Anatomie kann sich nicht be-
gnügen mit der Erkenntniss bloss des inneren Baues, der Structur und Ver-
bindungsweise der Organe, sondern sie muss zugleich stets die äussere
Form mit in Betracht ziehen. Die Anatomie hat demnach die gröberen
und feineren Form- und Structur-Verhältnisse des ganzen Körpers zu er-
mitteln. Jeder Zweifel an dieser Nothwendigkeit muss schwinden beim
Studium der niedersten Organismen-Gruppen. Während es bei den höheren
Thieren und Pflanzen wenigstens möglich ist, die Trennung zwischen
"Systematik" als Lehre von der äusseren Form, und "Anatomie" als Lehre
vom inneren Bau durchzuführen, so stösst diese künstliche Trennung da-
gegen bei den niederen Pflanzen und Thieren überall auf unüberwindliche
Schwierigkeiten.

Anders als in der Zoologie hat sich der Begriff der Anatomie und ihr
Gegensatz zur Systematik in der Botanik (als Biologie der Pflanzen)
gestaltet. Da nämlich vorwiegend, vorzüglich wenn man die höheren For-
men beider Reiche vergleicht, die Organ-Entwickelung bei den frei beweg-
lichen Thieren im Innern des Körpers, bei den festsitzenden Pflanzen da-

Haeckel, Generelle Morphologie. 3

III. Anatomie und Systematik.
und classificirt, als die Sammlungen von Schneckenschalen, Muschelschalen,
Vogelbälgen u. s. w., deren Liebhaber „Zoologen“ zu sein glauben. Man
frage nur die sogenannten Ornithologen, die jede Vogel-Species mit Namen
kennen, ob sie vom Bau der Federn, oder gar von der Structur des Ge-
hirns und des Auges irgend eines Vogels, von der Entwickelungsgeschichte
des Hühnchens im Ei, von den innigen Verwandtschaftsverhältnissen der
Vögel zu den nächststehenden Reptilien irgend welche eingehende Kennt-
nisse besitzen? Oder man frage die Entomologen, die sich mit ihren kost-
baren Käfer- und Schmetterlings-Sammlungen brüsten, ob sie den Bau und
die Entwickelung der Chitinausscheidungen, mit deren Form sie sich aus-
schliesslich beschäftigen, kennen, ob sie die Entwickelungsgeschichte einer
einzigen Form von Anfang an verfolgt haben, ob sie von den fossilen Insec-
ten oder von den den Insecten nächstverwandten Spinnen etwas wissen? Lei-
der wird man in den allermeisten Fällen auf die erstaunlichste Beschränkt-
heit und auf die gröbste Unwissenheit in den wichtigsten Zweigen der
Zoologie selbst auf dem kleinen und engbegränzten Felde stossen, welches
diese „Systematiker“ für ihr Specialfach ausgeben. So lange dieser syste-
matische Dilettantismus, der mit der Heraldik und der Briefmarkologie voll-
kommen auf einer Stufe der „Wissenschaft“ steht, nichts Anderes sein will,
als eine harmlose Gemüths- und Augen-Ergötzung, kann man ihn ruhig ge-
währen lassen. Von λόγος ist in der einen Logie so viel als in der anderen.
Sobald er aber den Anspruch macht, „Zoologie“ oder „Phytologie“ zu
sein, muss er auf den ihm gebührenden Platz aufmerksam gemacht werden.

Nur durch das Ueberwuchern dieser ganz oberflächlichen Systematik,
welche sich mit der Betrachtung der äusserlichsten und oberflächlichsten
Formverhältnisse begnügte, und dennoch sich für die „eigentliche Zoologie“
ausgab, war es möglich, dass der Gegensatz zwischen Systematik
und Anatomie in der Weise sich ausbildete, wie er noch heutzutage von
sehr vielen Seiten festgehalten wird. Diese Systematik, die sich so scharf
der Anatomie gegenübersetzt, ist selbst nur ein ganz kleines und unbedeu-
tendes Bruchstück derselben. Denn die Anatomie kann sich nicht be-
gnügen mit der Erkenntniss bloss des inneren Baues, der Structur und Ver-
bindungsweise der Organe, sondern sie muss zugleich stets die äussere
Form mit in Betracht ziehen. Die Anatomie hat demnach die gröberen
und feineren Form- und Structur-Verhältnisse des ganzen Körpers zu er-
mitteln. Jeder Zweifel an dieser Nothwendigkeit muss schwinden beim
Studium der niedersten Organismen-Gruppen. Während es bei den höheren
Thieren und Pflanzen wenigstens möglich ist, die Trennung zwischen
„Systematik“ als Lehre von der äusseren Form, und „Anatomie“ als Lehre
vom inneren Bau durchzuführen, so stösst diese künstliche Trennung da-
gegen bei den niederen Pflanzen und Thieren überall auf unüberwindliche
Schwierigkeiten.

Anders als in der Zoologie hat sich der Begriff der Anatomie und ihr
Gegensatz zur Systematik in der Botanik (als Biologie der Pflanzen)
gestaltet. Da nämlich vorwiegend, vorzüglich wenn man die höheren For-
men beider Reiche vergleicht, die Organ-Entwickelung bei den frei beweg-
lichen Thieren im Innern des Körpers, bei den festsitzenden Pflanzen da-

Haeckel, Generelle Morphologie. 3
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[33/0072] III. Anatomie und Systematik. und classificirt, als die Sammlungen von Schneckenschalen, Muschelschalen, Vogelbälgen u. s. w., deren Liebhaber „Zoologen“ zu sein glauben. Man frage nur die sogenannten Ornithologen, die jede Vogel-Species mit Namen kennen, ob sie vom Bau der Federn, oder gar von der Structur des Ge- hirns und des Auges irgend eines Vogels, von der Entwickelungsgeschichte des Hühnchens im Ei, von den innigen Verwandtschaftsverhältnissen der Vögel zu den nächststehenden Reptilien irgend welche eingehende Kennt- nisse besitzen? Oder man frage die Entomologen, die sich mit ihren kost- baren Käfer- und Schmetterlings-Sammlungen brüsten, ob sie den Bau und die Entwickelung der Chitinausscheidungen, mit deren Form sie sich aus- schliesslich beschäftigen, kennen, ob sie die Entwickelungsgeschichte einer einzigen Form von Anfang an verfolgt haben, ob sie von den fossilen Insec- ten oder von den den Insecten nächstverwandten Spinnen etwas wissen? Lei- der wird man in den allermeisten Fällen auf die erstaunlichste Beschränkt- heit und auf die gröbste Unwissenheit in den wichtigsten Zweigen der Zoologie selbst auf dem kleinen und engbegränzten Felde stossen, welches diese „Systematiker“ für ihr Specialfach ausgeben. So lange dieser syste- matische Dilettantismus, der mit der Heraldik und der Briefmarkologie voll- kommen auf einer Stufe der „Wissenschaft“ steht, nichts Anderes sein will, als eine harmlose Gemüths- und Augen-Ergötzung, kann man ihn ruhig ge- währen lassen. Von λόγος ist in der einen Logie so viel als in der anderen. Sobald er aber den Anspruch macht, „Zoologie“ oder „Phytologie“ zu sein, muss er auf den ihm gebührenden Platz aufmerksam gemacht werden. Nur durch das Ueberwuchern dieser ganz oberflächlichen Systematik, welche sich mit der Betrachtung der äusserlichsten und oberflächlichsten Formverhältnisse begnügte, und dennoch sich für die „eigentliche Zoologie“ ausgab, war es möglich, dass der Gegensatz zwischen Systematik und Anatomie in der Weise sich ausbildete, wie er noch heutzutage von sehr vielen Seiten festgehalten wird. Diese Systematik, die sich so scharf der Anatomie gegenübersetzt, ist selbst nur ein ganz kleines und unbedeu- tendes Bruchstück derselben. Denn die Anatomie kann sich nicht be- gnügen mit der Erkenntniss bloss des inneren Baues, der Structur und Ver- bindungsweise der Organe, sondern sie muss zugleich stets die äussere Form mit in Betracht ziehen. Die Anatomie hat demnach die gröberen und feineren Form- und Structur-Verhältnisse des ganzen Körpers zu er- mitteln. Jeder Zweifel an dieser Nothwendigkeit muss schwinden beim Studium der niedersten Organismen-Gruppen. Während es bei den höheren Thieren und Pflanzen wenigstens möglich ist, die Trennung zwischen „Systematik“ als Lehre von der äusseren Form, und „Anatomie“ als Lehre vom inneren Bau durchzuführen, so stösst diese künstliche Trennung da- gegen bei den niederen Pflanzen und Thieren überall auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Anders als in der Zoologie hat sich der Begriff der Anatomie und ihr Gegensatz zur Systematik in der Botanik (als Biologie der Pflanzen) gestaltet. Da nämlich vorwiegend, vorzüglich wenn man die höheren For- men beider Reiche vergleicht, die Organ-Entwickelung bei den frei beweg- lichen Thieren im Innern des Körpers, bei den festsitzenden Pflanzen da- Haeckel, Generelle Morphologie. 3

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/72>, abgerufen am 22.11.2024.