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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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III. Anatomie und Systematik.
III. Anatomie und Systematik.

Bevor wir die Disciplinen der Tectologie und der Promorphologie
näher ins Auge fassen, erscheint es nothwendig, uns über das Ver-
hältniss der Morphologie und insbesondere der Anatomie zu einigen
Disciplinen zu verständigen, welche theils der Anatomie entgegenge-
setzt, theils derselben untergeordnet werden; dahin gehört insbesondere
die Systematik, die Organologie und die Histologie. Auch die ge-
bräuchliche Bezeichnung der Anatomie, welche wir im Folgenden als
allgemeinen Ausdruck für unsere gesammten Kenntnisse von der voll-
endeten organischen Form beibehalten werden, bedarf einer gewissen
Erläuterung und Rechtfertigung. Es werden nämlich die Ausdrücke
der Anatomie und Morphologie auf den nächstverwandten und unmittel-
bar sich berührenden Gebieten der Zoologie und Botanik in einem so
gänzlich verschiedenen Sinne und so wechselnd gebraucht, dass es durch-
aus nothwendig erscheint, diese Begriffe scharf zu definiren und ihnen
eine bestimmte und bleibende Bedeutung beizulegen.

Die Zoologie (als Biologie der Thiere) gebraucht das Wort Anatomie
meistentheils zur Bezeichnung der gesammten Structurverhältnisse des zu
untersuchenden Organismus. Ursprünglich nur "Zergliederungskunde" und
die daraus folgende Erkenntniss des inneren Baues der Organismen be-
deutend, hat sich späterhin der Begriff der Anatomie dahin erweitert,
dass man darunter die gesammte Lehre von den Form-Verhältnissen des
entwickelten Organismus versteht, also nicht nur die Lehre von der inneren
Zusammensetzung, sondern auch von der äusseren Form. Dabei ist jedoch
zu bemerken, dass die meisten sogenannten Zoologen mehr oder minder
ausgesprochen einen Gegensatz von Systematik und Anatomie schon
seit langer Zeit ausgebildet haben, und in der Praxis ist dieser Gegensatz
so exclusiv geworden, dass die "reinen Systematiker" die Anatomie als
gar nicht zur Zoologie gehörig betrachten und ebenso die "reinen Ana-
tomen" die Systematik als eine ihnen fremde Wissenschaft ansehen. So
stehen sich in der Anschauung sehr vieler Naturforscher (und nicht bloss
vieler Zoologen) diese beiden Disciplinen ganz fremdartig einander ge-
genüber.

Dieses seltsame Verhältniss rührt daher, dass die grosse Mehrzahl
aller Zoologen, die seit Linne und seit der durch diesen erfolgten Neube-
gründung der Zoologie als besonderer Wissenschaft sich deren Dienste ge-
widmet haben, von den eigentlichen Aufgaben der Zoologie entweder gar
keine oder nur eine ganz dunkle Ahnung haben. Der allgemeine und schnelle
Aufschwung, den Zoologie und Botanik durch Linne's ausserordentliche
formelle Verdienste um die "systematische" Kenntniss der Thiere und Pflan-
zen, durch die von ihm eingeführte binäre Nomenclatur und systematische
Ordnung nahmen, die Leichtigkeit nach einem auf kurze bündige Beschrei-
bung gegründeten künstlichen Systeme sich in dem Chaos der zahllosen
Gestalten zurecht zu flnden, führte zu dem Irrthum, dass dieses System

III. Anatomie und Systematik.
III. Anatomie und Systematik.

Bevor wir die Disciplinen der Tectologie und der Promorphologie
näher ins Auge fassen, erscheint es nothwendig, uns über das Ver-
hältniss der Morphologie und insbesondere der Anatomie zu einigen
Disciplinen zu verständigen, welche theils der Anatomie entgegenge-
setzt, theils derselben untergeordnet werden; dahin gehört insbesondere
die Systematik, die Organologie und die Histologie. Auch die ge-
bräuchliche Bezeichnung der Anatomie, welche wir im Folgenden als
allgemeinen Ausdruck für unsere gesammten Kenntnisse von der voll-
endeten organischen Form beibehalten werden, bedarf einer gewissen
Erläuterung und Rechtfertigung. Es werden nämlich die Ausdrücke
der Anatomie und Morphologie auf den nächstverwandten und unmittel-
bar sich berührenden Gebieten der Zoologie und Botanik in einem so
gänzlich verschiedenen Sinne und so wechselnd gebraucht, dass es durch-
aus nothwendig erscheint, diese Begriffe scharf zu definiren und ihnen
eine bestimmte und bleibende Bedeutung beizulegen.

Die Zoologie (als Biologie der Thiere) gebraucht das Wort Anatomie
meistentheils zur Bezeichnung der gesammten Structurverhältnisse des zu
untersuchenden Organismus. Ursprünglich nur „Zergliederungskunde“ und
die daraus folgende Erkenntniss des inneren Baues der Organismen be-
deutend, hat sich späterhin der Begriff der Anatomie dahin erweitert,
dass man darunter die gesammte Lehre von den Form-Verhältnissen des
entwickelten Organismus versteht, also nicht nur die Lehre von der inneren
Zusammensetzung, sondern auch von der äusseren Form. Dabei ist jedoch
zu bemerken, dass die meisten sogenannten Zoologen mehr oder minder
ausgesprochen einen Gegensatz von Systematik und Anatomie schon
seit langer Zeit ausgebildet haben, und in der Praxis ist dieser Gegensatz
so exclusiv geworden, dass die „reinen Systematiker“ die Anatomie als
gar nicht zur Zoologie gehörig betrachten und ebenso die „reinen Ana-
tomen“ die Systematik als eine ihnen fremde Wissenschaft ansehen. So
stehen sich in der Anschauung sehr vieler Naturforscher (und nicht bloss
vieler Zoologen) diese beiden Disciplinen ganz fremdartig einander ge-
genüber.

Dieses seltsame Verhältniss rührt daher, dass die grosse Mehrzahl
aller Zoologen, die seit Linné und seit der durch diesen erfolgten Neube-
gründung der Zoologie als besonderer Wissenschaft sich deren Dienste ge-
widmet haben, von den eigentlichen Aufgaben der Zoologie entweder gar
keine oder nur eine ganz dunkle Ahnung haben. Der allgemeine und schnelle
Aufschwung, den Zoologie und Botanik durch Linné’s ausserordentliche
formelle Verdienste um die „systematische“ Kenntniss der Thiere und Pflan-
zen, durch die von ihm eingeführte binäre Nomenclatur und systematische
Ordnung nahmen, die Leichtigkeit nach einem auf kurze bündige Beschrei-
bung gegründeten künstlichen Systeme sich in dem Chaos der zahllosen
Gestalten zurecht zu flnden, führte zu dem Irrthum, dass dieses System

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[31/0070] III. Anatomie und Systematik. III. Anatomie und Systematik. Bevor wir die Disciplinen der Tectologie und der Promorphologie näher ins Auge fassen, erscheint es nothwendig, uns über das Ver- hältniss der Morphologie und insbesondere der Anatomie zu einigen Disciplinen zu verständigen, welche theils der Anatomie entgegenge- setzt, theils derselben untergeordnet werden; dahin gehört insbesondere die Systematik, die Organologie und die Histologie. Auch die ge- bräuchliche Bezeichnung der Anatomie, welche wir im Folgenden als allgemeinen Ausdruck für unsere gesammten Kenntnisse von der voll- endeten organischen Form beibehalten werden, bedarf einer gewissen Erläuterung und Rechtfertigung. Es werden nämlich die Ausdrücke der Anatomie und Morphologie auf den nächstverwandten und unmittel- bar sich berührenden Gebieten der Zoologie und Botanik in einem so gänzlich verschiedenen Sinne und so wechselnd gebraucht, dass es durch- aus nothwendig erscheint, diese Begriffe scharf zu definiren und ihnen eine bestimmte und bleibende Bedeutung beizulegen. Die Zoologie (als Biologie der Thiere) gebraucht das Wort Anatomie meistentheils zur Bezeichnung der gesammten Structurverhältnisse des zu untersuchenden Organismus. Ursprünglich nur „Zergliederungskunde“ und die daraus folgende Erkenntniss des inneren Baues der Organismen be- deutend, hat sich späterhin der Begriff der Anatomie dahin erweitert, dass man darunter die gesammte Lehre von den Form-Verhältnissen des entwickelten Organismus versteht, also nicht nur die Lehre von der inneren Zusammensetzung, sondern auch von der äusseren Form. Dabei ist jedoch zu bemerken, dass die meisten sogenannten Zoologen mehr oder minder ausgesprochen einen Gegensatz von Systematik und Anatomie schon seit langer Zeit ausgebildet haben, und in der Praxis ist dieser Gegensatz so exclusiv geworden, dass die „reinen Systematiker“ die Anatomie als gar nicht zur Zoologie gehörig betrachten und ebenso die „reinen Ana- tomen“ die Systematik als eine ihnen fremde Wissenschaft ansehen. So stehen sich in der Anschauung sehr vieler Naturforscher (und nicht bloss vieler Zoologen) diese beiden Disciplinen ganz fremdartig einander ge- genüber. Dieses seltsame Verhältniss rührt daher, dass die grosse Mehrzahl aller Zoologen, die seit Linné und seit der durch diesen erfolgten Neube- gründung der Zoologie als besonderer Wissenschaft sich deren Dienste ge- widmet haben, von den eigentlichen Aufgaben der Zoologie entweder gar keine oder nur eine ganz dunkle Ahnung haben. Der allgemeine und schnelle Aufschwung, den Zoologie und Botanik durch Linné’s ausserordentliche formelle Verdienste um die „systematische“ Kenntniss der Thiere und Pflan- zen, durch die von ihm eingeführte binäre Nomenclatur und systematische Ordnung nahmen, die Leichtigkeit nach einem auf kurze bündige Beschrei- bung gegründeten künstlichen Systeme sich in dem Chaos der zahllosen Gestalten zurecht zu flnden, führte zu dem Irrthum, dass dieses System

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/70>, abgerufen am 25.11.2024.