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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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IV. Morphologie und Physiologie.
biologische und die abiologische Chemie, die Physiologie und die Phy-
sik der Anorgane, die Morphologie der Organismen und der Anorgane,
können in der That als sechs vollkommen coordinirte Naturwissen-
schaften angesehen werden.

Dieses Resultat ist für uns insofern von grosser Bedeutung, als
dadurch die coordinirte Stellung der organischen Morphologie
gegenüber und neben der Physiologie
fest bestimmt wird. Die-
ses nebengeordnete Verhältniss der beiden gleichwerthigen biologischen
Disciplinen ist gerade in neuerer Zeit sehr oft völlig verkannt worden.
Indem nämlich die Physiologie sich in den beiden letzten Decennien
als exacte "Physik der Organismen" oder als (unpassend) sogenannte
"physikalische Physiologie" ungemein rasch und vielseitig zu einer
ganz selbstständigen Disciplin entwickelt hat, während sie vorher in
scheinbar untergeordnetem Verhältnisse auf das Engste mit der Mor-
phologie verbunden war, ist ihr Selbstbewusstsein dadurch so über-
mässig gestiegen, dass sie nunmehr auf die überwundene Morphologie
stolz herabsieht und diese lediglich als ihre Dienerin, als eine unter-
geordnete Hülfswissenschaft betrachtet. Insbesondere nimmt die Phy-
siologie sehr häufig für sich den höheren Rang einer erklärenden
Naturwissenschaft in Anspruch, während sie der Morphologie bloss
den niederen Rang einer beschreibenden Disciplin zugesteht. Leider
ist freilich diese Selbstüberhebung der Physiologie durch den traurigen
Zustand und den zwar nicht extensiven, wohl aber intensiven Rück-
schritt der Morphologie nur zu sehr gerechtfertigt und begünstigt. Wäh-
rend die Physiologie auf streng naturwissenschaftlicher Basis Schritt
für Schritt vordringt und ihr Ziel fest und klar im Auge behält, ver-
liert die verwildernde Morphologie das Ihrige immer mehr aus dem
Auge, und hat sich ebenso von einer denkenden Behandlung ihres
Gegenstandes, wie von einer strengen Methode stets mehr und mehr
entfernt. Während sie quantitativ immer mächtiger zu wachsen
scheint, schreitet sie qualitativ immer weiter zurück. Aus jeglichem
Mangel an denkender Erforschung und an fester Begriffsbestimmung
dienen die meisten morphologischen Arbeiten mehr dazu, den Bal-
last der Wissenschaft zu häufen, statt ihren wirklichen Fortschritt zu
fördern.

Dieser traurige augenblickliche Zustand unserer morphologischen
Wissenschaft kann ihren Werth zwar zeitweise in den Augen der heu-
tigen Physiologie tief herabdrücken; er vermag aber doch nicht, den
coordinirten Rang, welcher der Morphologie neben der Physiologie
gebührt, auf die Dauer verkennen zu lassen. Vielmehr müssen wir
ausdrücklich behaupten, dass auch die Morphologie der Organismen,
so gut wie ihre coordinirte Schwester, die Physiologie, nicht bloss
eine beschreibende, sondern zugleich eine erklärende Wissenschaft ist,

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IV. Morphologie und Physiologie.
biologische und die abiologische Chemie, die Physiologie und die Phy-
sik der Anorgane, die Morphologie der Organismen und der Anorgane,
können in der That als sechs vollkommen coordinirte Naturwissen-
schaften angesehen werden.

Dieses Resultat ist für uns insofern von grosser Bedeutung, als
dadurch die coordinirte Stellung der organischen Morphologie
gegenüber und neben der Physiologie
fest bestimmt wird. Die-
ses nebengeordnete Verhältniss der beiden gleichwerthigen biologischen
Disciplinen ist gerade in neuerer Zeit sehr oft völlig verkannt worden.
Indem nämlich die Physiologie sich in den beiden letzten Decennien
als exacte „Physik der Organismen“ oder als (unpassend) sogenannte
„physikalische Physiologie“ ungemein rasch und vielseitig zu einer
ganz selbstständigen Disciplin entwickelt hat, während sie vorher in
scheinbar untergeordnetem Verhältnisse auf das Engste mit der Mor-
phologie verbunden war, ist ihr Selbstbewusstsein dadurch so über-
mässig gestiegen, dass sie nunmehr auf die überwundene Morphologie
stolz herabsieht und diese lediglich als ihre Dienerin, als eine unter-
geordnete Hülfswissenschaft betrachtet. Insbesondere nimmt die Phy-
siologie sehr häufig für sich den höheren Rang einer erklärenden
Naturwissenschaft in Anspruch, während sie der Morphologie bloss
den niederen Rang einer beschreibenden Disciplin zugesteht. Leider
ist freilich diese Selbstüberhebung der Physiologie durch den traurigen
Zustand und den zwar nicht extensiven, wohl aber intensiven Rück-
schritt der Morphologie nur zu sehr gerechtfertigt und begünstigt. Wäh-
rend die Physiologie auf streng naturwissenschaftlicher Basis Schritt
für Schritt vordringt und ihr Ziel fest und klar im Auge behält, ver-
liert die verwildernde Morphologie das Ihrige immer mehr aus dem
Auge, und hat sich ebenso von einer denkenden Behandlung ihres
Gegenstandes, wie von einer strengen Methode stets mehr und mehr
entfernt. Während sie quantitativ immer mächtiger zu wachsen
scheint, schreitet sie qualitativ immer weiter zurück. Aus jeglichem
Mangel an denkender Erforschung und an fester Begriffsbestimmung
dienen die meisten morphologischen Arbeiten mehr dazu, den Bal-
last der Wissenschaft zu häufen, statt ihren wirklichen Fortschritt zu
fördern.

Dieser traurige augenblickliche Zustand unserer morphologischen
Wissenschaft kann ihren Werth zwar zeitweise in den Augen der heu-
tigen Physiologie tief herabdrücken; er vermag aber doch nicht, den
coordinirten Rang, welcher der Morphologie neben der Physiologie
gebührt, auf die Dauer verkennen zu lassen. Vielmehr müssen wir
ausdrücklich behaupten, dass auch die Morphologie der Organismen,
so gut wie ihre coordinirte Schwester, die Physiologie, nicht bloss
eine beschreibende, sondern zugleich eine erklärende Wissenschaft ist,

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[19/0058] IV. Morphologie und Physiologie. biologische und die abiologische Chemie, die Physiologie und die Phy- sik der Anorgane, die Morphologie der Organismen und der Anorgane, können in der That als sechs vollkommen coordinirte Naturwissen- schaften angesehen werden. Dieses Resultat ist für uns insofern von grosser Bedeutung, als dadurch die coordinirte Stellung der organischen Morphologie gegenüber und neben der Physiologie fest bestimmt wird. Die- ses nebengeordnete Verhältniss der beiden gleichwerthigen biologischen Disciplinen ist gerade in neuerer Zeit sehr oft völlig verkannt worden. Indem nämlich die Physiologie sich in den beiden letzten Decennien als exacte „Physik der Organismen“ oder als (unpassend) sogenannte „physikalische Physiologie“ ungemein rasch und vielseitig zu einer ganz selbstständigen Disciplin entwickelt hat, während sie vorher in scheinbar untergeordnetem Verhältnisse auf das Engste mit der Mor- phologie verbunden war, ist ihr Selbstbewusstsein dadurch so über- mässig gestiegen, dass sie nunmehr auf die überwundene Morphologie stolz herabsieht und diese lediglich als ihre Dienerin, als eine unter- geordnete Hülfswissenschaft betrachtet. Insbesondere nimmt die Phy- siologie sehr häufig für sich den höheren Rang einer erklärenden Naturwissenschaft in Anspruch, während sie der Morphologie bloss den niederen Rang einer beschreibenden Disciplin zugesteht. Leider ist freilich diese Selbstüberhebung der Physiologie durch den traurigen Zustand und den zwar nicht extensiven, wohl aber intensiven Rück- schritt der Morphologie nur zu sehr gerechtfertigt und begünstigt. Wäh- rend die Physiologie auf streng naturwissenschaftlicher Basis Schritt für Schritt vordringt und ihr Ziel fest und klar im Auge behält, ver- liert die verwildernde Morphologie das Ihrige immer mehr aus dem Auge, und hat sich ebenso von einer denkenden Behandlung ihres Gegenstandes, wie von einer strengen Methode stets mehr und mehr entfernt. Während sie quantitativ immer mächtiger zu wachsen scheint, schreitet sie qualitativ immer weiter zurück. Aus jeglichem Mangel an denkender Erforschung und an fester Begriffsbestimmung dienen die meisten morphologischen Arbeiten mehr dazu, den Bal- last der Wissenschaft zu häufen, statt ihren wirklichen Fortschritt zu fördern. Dieser traurige augenblickliche Zustand unserer morphologischen Wissenschaft kann ihren Werth zwar zeitweise in den Augen der heu- tigen Physiologie tief herabdrücken; er vermag aber doch nicht, den coordinirten Rang, welcher der Morphologie neben der Physiologie gebührt, auf die Dauer verkennen zu lassen. Vielmehr müssen wir ausdrücklich behaupten, dass auch die Morphologie der Organismen, so gut wie ihre coordinirte Schwester, die Physiologie, nicht bloss eine beschreibende, sondern zugleich eine erklärende Wissenschaft ist, 2*

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/58>, abgerufen am 24.11.2024.