Untersuchung der Strahlthier-Personen, sowohl der Echinodermen als der Coelenteraten. Und doch ist selbst hier den trefflichsten Morpho- logen die pyramidale Grundform verborgen geblieben.
Nichts ist vielleicht in dieser Beziehung bezeichnender, als die kritische Betrachtung der andauernden Bemühungen des grossen Johannes Müller, die Grundformen und die Homologieen der Echino- dermen zu verstehen. Trotz seiner unübertroffenen Kenntniss dieser ebenso interessanten als schwierigen Thiergruppe, trotz seiner exten- siv und intensiv bewundernswürdigen Anstrengungen, das morpholo- gische Verständniss derselben zu begründen, und eine wahre "Philo- sophie der Echinodermen" zu gewinnen, gelang es ihm dennoch nicht, den Schlüssel zur Lösung des Räthsels zu finden. Dieser Schlüssel liegt eben in der Erkenntniss, dass die Grundform der regulären Echinodermen eine fünfseitige reguläre Pyramide, diejenige der "bilateral-symmetrischen" Echinodermen dagegen die Hälfte einer zehnseitigen amphithecten Pyramide ist. 1) Sobald man von dieser Erkenntniss ausgeht, so lösen sich die schwierigen Homologieen der Echinodermen in einer ebenso klaren als überraschend einfachen Weise, wie wir an einem anderen Orte ausführlich zeigen werden.
Das Wichtigste und Erste muss auch hier, wie bei allen promor- phologischen Untersuchungen, die Erkenntniss der maassgebenden Axen und ihrer Pole sein, und dann die Untersuchung der Differen- zirungs-Verhältnisse zwischen den verschiedenen Axen und ihren Polen, woraus sich dann die Construction der Pyramiden-Seiten von selbst ergiebt. Nichts ist aber gefährlicher und weniger erspriesslich, als von der Oberflächen-Betrachtung auszugehen und diese, ohne Rücksicht auf die Axen und ihre Pole, zur Basis der promorpholo- gischen Reduction zu machen. Sucht man die Grundform von Per- sonen oder Metameren (Form-Individuen fünfter oder vierter Ordnung) auf, so ist zunächst das Wichtigste die Erkenntniss ihrer Zusammen- setzung aus Antimeren, und dann deren Differenzirung. Ist dagegen ein Antimer selbst das promorphologische Object, so müssen zunächst die Epimeren und Parameren, welche dasselbe constituiren, erkannt werden. Das letztere gilt auch, wenn es sich um Form-Individuen zweiter und erster Ordnung (Organe und Plastiden) handelt.
1)Johannes Müller stellte statt der fünfseitigen regulären Pyramide, die er nicht erkannte, als Grundform der Echinodermen eine Kugel mit einer be- stimmten Axe auf, deren beide Pole (Mundpol und Apical-Pol) verschieden sind, und von deren Mundpol fünf Radien ausstrahlen, die als mehr oder minder voll- ständige Meridiane zum Apical-Pol verlaufen. Eine solche "Kugel" ist aber in der That nichts Anderes als eine fünfseitige reguläre Pyramide, und die fünf "Meridiane" oder Oberflächen-Radien (Ambulacra) sind die fünf Kanten der Pyramide.
System der organischen Grundformen.
Untersuchung der Strahlthier-Personen, sowohl der Echinodermen als der Coelenteraten. Und doch ist selbst hier den trefflichsten Morpho- logen die pyramidale Grundform verborgen geblieben.
Nichts ist vielleicht in dieser Beziehung bezeichnender, als die kritische Betrachtung der andauernden Bemühungen des grossen Johannes Müller, die Grundformen und die Homologieen der Echino- dermen zu verstehen. Trotz seiner unübertroffenen Kenntniss dieser ebenso interessanten als schwierigen Thiergruppe, trotz seiner exten- siv und intensiv bewundernswürdigen Anstrengungen, das morpholo- gische Verständniss derselben zu begründen, und eine wahre „Philo- sophie der Echinodermen“ zu gewinnen, gelang es ihm dennoch nicht, den Schlüssel zur Lösung des Räthsels zu finden. Dieser Schlüssel liegt eben in der Erkenntniss, dass die Grundform der regulären Echinodermen eine fünfseitige reguläre Pyramide, diejenige der „bilateral-symmetrischen“ Echinodermen dagegen die Hälfte einer zehnseitigen amphithecten Pyramide ist. 1) Sobald man von dieser Erkenntniss ausgeht, so lösen sich die schwierigen Homologieen der Echinodermen in einer ebenso klaren als überraschend einfachen Weise, wie wir an einem anderen Orte ausführlich zeigen werden.
Das Wichtigste und Erste muss auch hier, wie bei allen promor- phologischen Untersuchungen, die Erkenntniss der maassgebenden Axen und ihrer Pole sein, und dann die Untersuchung der Differen- zirungs-Verhältnisse zwischen den verschiedenen Axen und ihren Polen, woraus sich dann die Construction der Pyramiden-Seiten von selbst ergiebt. Nichts ist aber gefährlicher und weniger erspriesslich, als von der Oberflächen-Betrachtung auszugehen und diese, ohne Rücksicht auf die Axen und ihre Pole, zur Basis der promorpholo- gischen Reduction zu machen. Sucht man die Grundform von Per- sonen oder Metameren (Form-Individuen fünfter oder vierter Ordnung) auf, so ist zunächst das Wichtigste die Erkenntniss ihrer Zusammen- setzung aus Antimeren, und dann deren Differenzirung. Ist dagegen ein Antimer selbst das promorphologische Object, so müssen zunächst die Epimeren und Parameren, welche dasselbe constituiren, erkannt werden. Das letztere gilt auch, wenn es sich um Form-Individuen zweiter und erster Ordnung (Organe und Plastiden) handelt.
1)Johannes Müller stellte statt der fünfseitigen regulären Pyramide, die er nicht erkannte, als Grundform der Echinodermen eine Kugel mit einer be- stimmten Axe auf, deren beide Pole (Mundpol und Apical-Pol) verschieden sind, und von deren Mundpol fünf Radien ausstrahlen, die als mehr oder minder voll- ständige Meridiane zum Apical-Pol verlaufen. Eine solche „Kugel“ ist aber in der That nichts Anderes als eine fünfseitige reguläre Pyramide, und die fünf „Meridiane“ oder Oberflächen-Radien (Ambulacra) sind die fünf Kanten der Pyramide.
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System der organischen Grundformen.
Untersuchung der Strahlthier-Personen, sowohl der Echinodermen als
der Coelenteraten. Und doch ist selbst hier den trefflichsten Morpho-
logen die pyramidale Grundform verborgen geblieben.
Nichts ist vielleicht in dieser Beziehung bezeichnender, als die
kritische Betrachtung der andauernden Bemühungen des grossen
Johannes Müller, die Grundformen und die Homologieen der Echino-
dermen zu verstehen. Trotz seiner unübertroffenen Kenntniss dieser
ebenso interessanten als schwierigen Thiergruppe, trotz seiner exten-
siv und intensiv bewundernswürdigen Anstrengungen, das morpholo-
gische Verständniss derselben zu begründen, und eine wahre „Philo-
sophie der Echinodermen“ zu gewinnen, gelang es ihm dennoch
nicht, den Schlüssel zur Lösung des Räthsels zu finden. Dieser
Schlüssel liegt eben in der Erkenntniss, dass die Grundform der
regulären Echinodermen eine fünfseitige reguläre Pyramide, diejenige
der „bilateral-symmetrischen“ Echinodermen dagegen die Hälfte einer
zehnseitigen amphithecten Pyramide ist. 1) Sobald man von dieser
Erkenntniss ausgeht, so lösen sich die schwierigen Homologieen der
Echinodermen in einer ebenso klaren als überraschend einfachen
Weise, wie wir an einem anderen Orte ausführlich zeigen werden.
Das Wichtigste und Erste muss auch hier, wie bei allen promor-
phologischen Untersuchungen, die Erkenntniss der maassgebenden
Axen und ihrer Pole sein, und dann die Untersuchung der Differen-
zirungs-Verhältnisse zwischen den verschiedenen Axen und ihren
Polen, woraus sich dann die Construction der Pyramiden-Seiten von
selbst ergiebt. Nichts ist aber gefährlicher und weniger erspriesslich,
als von der Oberflächen-Betrachtung auszugehen und diese, ohne
Rücksicht auf die Axen und ihre Pole, zur Basis der promorpholo-
gischen Reduction zu machen. Sucht man die Grundform von Per-
sonen oder Metameren (Form-Individuen fünfter oder vierter Ordnung)
auf, so ist zunächst das Wichtigste die Erkenntniss ihrer Zusammen-
setzung aus Antimeren, und dann deren Differenzirung. Ist dagegen
ein Antimer selbst das promorphologische Object, so müssen zunächst
die Epimeren und Parameren, welche dasselbe constituiren, erkannt
werden. Das letztere gilt auch, wenn es sich um Form-Individuen
zweiter und erster Ordnung (Organe und Plastiden) handelt.
1) Johannes Müller stellte statt der fünfseitigen regulären Pyramide, die
er nicht erkannte, als Grundform der Echinodermen eine Kugel mit einer be-
stimmten Axe auf, deren beide Pole (Mundpol und Apical-Pol) verschieden sind,
und von deren Mundpol fünf Radien ausstrahlen, die als mehr oder minder voll-
ständige Meridiane zum Apical-Pol verlaufen. Eine solche „Kugel“ ist aber in
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„Meridiane“ oder Oberflächen-Radien (Ambulacra) sind die fünf Kanten der
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/497>, abgerufen am 16.07.2024.
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