jeder genauen Beschreibung einer organischen Form, die vollständig sein soll, die stereometrische Grundform nicht allein des ganzen Form-Individuums höherer Ordnung, welches das actuelle Bion reprä- sentirt, sondern auch aller subordinirten Individuen, welche dasselbe constituiren, aufzusuchen und dann erst die Beschreibung der Ein- zelnheiten der äusseren Form jedes Individuums anzuschliessen haben.
Ebenso werden wir dann nicht allein, wie es bisher geschehen ist, bloss die Grundform des ausgebildeten actuellen Bion, sondern auch diejenige seiner individuellen Entwickelungsstufen aufzusuchen haben. Erst dadurch wird der volle Einblick in die mathematische Gesetzlichkeit der organischen Form-Entwickelung gewonnen. Die- selben Species, welche als actuelle Bionten eine sehr differenzirte und vollkommene Grundform besitzen, zeigen auf ihren früheren Ent- wickelungs-Zuständen meist eine Reihe von niederen und unvollkom- menen Grundformen. Die Erkenntniss dieser auf einander folgenden Stufenleiter von allmählig sich differenzirenden Formen, ist für das Verständniss der Promorphologie nicht minder lehrreich, als für das der Embryologie und der Ontogenie überhaupt. So finden wir z. B., dass die sogenannten "bilateralen" Seeigel, welche als actuelle Bionten die bilaterale Strahlform (Amphipleuren-Form) besitzen, in früherer Zeit die vollkommen reguläre Strahlform (Homostauren-Form) zeigen, während ihre Larven (Ammen) sich durch die sehr wesentlich ver- schiedene rein bilateral-symmetrische Form (Zygopleuren-Form) aus- zeichnen. Offenbar ist hier das volle Verständniss der Grundform nur dann möglich, wenn man dieselbe durch alle Entwickelungs-Zustände hindurch verfolgt.
Am leichtesten erkennbar und am deutlichsten ausgesprochen ist die stereometrische Grundform der Organismen allerdings meistens in den Personen, den Form-Individuen fünfter Ordnung, welche bei den meisten Thieren als materielles Substrat für das actuelle Bion dienen und bei den meisten Pflanzen den Stock zusammensetzen. Wir wer- den daher diese auch in dem dreizehnten Capitel, welches die stereo- metrischen Grundformen systematisch, gleich den Krystallsystemen, zu ordnen versucht, vorzugsweise berücksichtigen. Doch ist es sehr wichtig, auch alle anderen Individualitäts-Ordnungen promorphologisch zu untersuchen, wie dies im vierzehnten Capitel geschehen wird, und es wird sich dann zeigen, dass die wesentlichen tectologischen Unter- schiede, durch welche wir die sechs Ordnungen der morphologischen Individuen von einander trennen, auch in promorphologischer Beziehung begründet sind. Die tectologische Stufenreihe der organischen Voll- kommenheit ist übrigens von der promorphologischen Scala wohl zu unterscheiden.
V. Grundformen aller Individualitäten.
jeder genauen Beschreibung einer organischen Form, die vollständig sein soll, die stereometrische Grundform nicht allein des ganzen Form-Individuums höherer Ordnung, welches das actuelle Bion reprä- sentirt, sondern auch aller subordinirten Individuen, welche dasselbe constituiren, aufzusuchen und dann erst die Beschreibung der Ein- zelnheiten der äusseren Form jedes Individuums anzuschliessen haben.
Ebenso werden wir dann nicht allein, wie es bisher geschehen ist, bloss die Grundform des ausgebildeten actuellen Bion, sondern auch diejenige seiner individuellen Entwickelungsstufen aufzusuchen haben. Erst dadurch wird der volle Einblick in die mathematische Gesetzlichkeit der organischen Form-Entwickelung gewonnen. Die- selben Species, welche als actuelle Bionten eine sehr differenzirte und vollkommene Grundform besitzen, zeigen auf ihren früheren Ent- wickelungs-Zuständen meist eine Reihe von niederen und unvollkom- menen Grundformen. Die Erkenntniss dieser auf einander folgenden Stufenleiter von allmählig sich differenzirenden Formen, ist für das Verständniss der Promorphologie nicht minder lehrreich, als für das der Embryologie und der Ontogenie überhaupt. So finden wir z. B., dass die sogenannten „bilateralen“ Seeigel, welche als actuelle Bionten die bilaterale Strahlform (Amphipleuren-Form) besitzen, in früherer Zeit die vollkommen reguläre Strahlform (Homostauren-Form) zeigen, während ihre Larven (Ammen) sich durch die sehr wesentlich ver- schiedene rein bilateral-symmetrische Form (Zygopleuren-Form) aus- zeichnen. Offenbar ist hier das volle Verständniss der Grundform nur dann möglich, wenn man dieselbe durch alle Entwickelungs-Zustände hindurch verfolgt.
Am leichtesten erkennbar und am deutlichsten ausgesprochen ist die stereometrische Grundform der Organismen allerdings meistens in den Personen, den Form-Individuen fünfter Ordnung, welche bei den meisten Thieren als materielles Substrat für das actuelle Bion dienen und bei den meisten Pflanzen den Stock zusammensetzen. Wir wer- den daher diese auch in dem dreizehnten Capitel, welches die stereo- metrischen Grundformen systematisch, gleich den Krystallsystemen, zu ordnen versucht, vorzugsweise berücksichtigen. Doch ist es sehr wichtig, auch alle anderen Individualitäts-Ordnungen promorphologisch zu untersuchen, wie dies im vierzehnten Capitel geschehen wird, und es wird sich dann zeigen, dass die wesentlichen tectologischen Unter- schiede, durch welche wir die sechs Ordnungen der morphologischen Individuen von einander trennen, auch in promorphologischer Beziehung begründet sind. Die tectologische Stufenreihe der organischen Voll- kommenheit ist übrigens von der promorphologischen Scala wohl zu unterscheiden.
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[391/0430]
V. Grundformen aller Individualitäten.
jeder genauen Beschreibung einer organischen Form, die vollständig
sein soll, die stereometrische Grundform nicht allein des ganzen
Form-Individuums höherer Ordnung, welches das actuelle Bion reprä-
sentirt, sondern auch aller subordinirten Individuen, welche dasselbe
constituiren, aufzusuchen und dann erst die Beschreibung der Ein-
zelnheiten der äusseren Form jedes Individuums anzuschliessen
haben.
Ebenso werden wir dann nicht allein, wie es bisher geschehen
ist, bloss die Grundform des ausgebildeten actuellen Bion, sondern
auch diejenige seiner individuellen Entwickelungsstufen aufzusuchen
haben. Erst dadurch wird der volle Einblick in die mathematische
Gesetzlichkeit der organischen Form-Entwickelung gewonnen. Die-
selben Species, welche als actuelle Bionten eine sehr differenzirte und
vollkommene Grundform besitzen, zeigen auf ihren früheren Ent-
wickelungs-Zuständen meist eine Reihe von niederen und unvollkom-
menen Grundformen. Die Erkenntniss dieser auf einander folgenden
Stufenleiter von allmählig sich differenzirenden Formen, ist für das
Verständniss der Promorphologie nicht minder lehrreich, als für das
der Embryologie und der Ontogenie überhaupt. So finden wir z. B.,
dass die sogenannten „bilateralen“ Seeigel, welche als actuelle Bionten
die bilaterale Strahlform (Amphipleuren-Form) besitzen, in früherer
Zeit die vollkommen reguläre Strahlform (Homostauren-Form) zeigen,
während ihre Larven (Ammen) sich durch die sehr wesentlich ver-
schiedene rein bilateral-symmetrische Form (Zygopleuren-Form) aus-
zeichnen. Offenbar ist hier das volle Verständniss der Grundform nur
dann möglich, wenn man dieselbe durch alle Entwickelungs-Zustände
hindurch verfolgt.
Am leichtesten erkennbar und am deutlichsten ausgesprochen ist
die stereometrische Grundform der Organismen allerdings meistens in
den Personen, den Form-Individuen fünfter Ordnung, welche bei den
meisten Thieren als materielles Substrat für das actuelle Bion dienen
und bei den meisten Pflanzen den Stock zusammensetzen. Wir wer-
den daher diese auch in dem dreizehnten Capitel, welches die stereo-
metrischen Grundformen systematisch, gleich den Krystallsystemen, zu
ordnen versucht, vorzugsweise berücksichtigen. Doch ist es sehr
wichtig, auch alle anderen Individualitäts-Ordnungen promorphologisch
zu untersuchen, wie dies im vierzehnten Capitel geschehen wird, und
es wird sich dann zeigen, dass die wesentlichen tectologischen Unter-
schiede, durch welche wir die sechs Ordnungen der morphologischen
Individuen von einander trennen, auch in promorphologischer Beziehung
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/430>, abgerufen am 23.11.2024.
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