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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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III. Verschiedene Ansichten über die organischen Grundformen.
Grundformen derjenigen Thiere -- einerseits der bilateral-radialen Echino-
dermen, andererseits der symmetrisch-regulären Coelenteraten -- welche
einer allgemeinen Unterscheidung der radialen und der bilateralen Thiere
die grössten Schwierigkeiten entgegensetzen, indem sie von den einen Zoo-
logen zu jenen, von den anderen zu diesen gerechnet werden. So viel
Scharfsinn aber auch in jenen Arbeiten zu einer präciseren Bestimmung
dieser zweifelhaften Mittelformen aufgewendet erscheint, so kann das Re-
sultat derselben doch nicht als befriedigende Lösung der schwierigen Frage
bezeichnet werden. Der Grund dieser Erscheinung ist vorzugsweise darin
zu suchen, dass die Betrachtung von den Flächen des Thierkörpers aus-
gegangen ist und auf diese das meiste Gewicht gelegt hat, statt vor Allem
die Axen und deren Pole aufzusuchen, welche die maassgebenden Grund-
züge der Thiergestalt bestimmen und welche die Flächenbeschaffenheit selbst
erst bedingen. Auch sind hier so wenig als in den meisten anderen pro-
morphologischen Versuchen die Antimeren gehörig berücksichtigt, deren
Zahl und Verbindung, Gleichheit oder Ungleichheit vor Allem die Grund-
form constituirt. Fritz Müller kommt daher zu dem irrthümlichen Re-
sultate, dass die Grundform der Ctenophoren zweistrahlig sei. Johannes
Müller
stellt als ideale Grundform der Echinodermen eine Kugel auf,
welche eine bestimmte Axe mit zwei verschiedenen Polen und eine be-
stimmte Meridianebene besitzt, durch welche sie in zwei symmetrisch gleiche
Theile zerfällt, sowie fünf Radialfelder, durch welche ihre Oberfläche in
ein Bivium und ein Trivium zerfällt. Eine solche Kugel ist aber in Wahr-
heit keine Kugel, sondern eine halbe zehnseitige amphithecte Pyramide.

Immerhin sind die trefflichen Bemerkungen von Fritz Müller über die
Grundformen der Rippenquallen und von Johannes Müller über die
Grundformen und die Homologieen der Echinodermen sehr zu beachten,
schon allein desshalb, weil sie das nothwendige Ziel einer scharfen stereo-
metrischen Erkenntniss der organischen Formen richtig erkannten und
dasselbe in der festen Bestimmung einer allgemeinen Grundform suchten,
wenn sie es auch nicht erreichten. Es ist dies um so mehr anzuerkennen,
als sich die meisten Morphologen bisher der Erkenntniss dieses Zieles ver-
schlossen, und statt danach zu streben, die organischen Formen mit der
grössten Willkührlichkeit bezeichnet haben.

IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie.

Die Forderung, dass die organische Morphologie die allein absolut
sichere Methode der mathematisch-philosophischen Erkenntniss einzu-
schlagen und dass sie insbesondere auch die Betrachtung der orga-
nischen "Form an sich" nach dieser stereometrischen Methode zu be-
ginnen habe, ist schon wiederholt und mit Recht von denkenden
Naturforschern gestellt und von den vorher genannten auch zu erfüllen
versucht worden. Insbesondere hat die neuere Physiologie, seitdem
sie den allein möglichen mechanisch-causalen Weg bei Erforschung

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III. Verschiedene Ansichten über die organischen Grundformen.
Grundformen derjenigen Thiere — einerseits der bilateral-radialen Echino-
dermen, andererseits der symmetrisch-regulären Coelenteraten — welche
einer allgemeinen Unterscheidung der radialen und der bilateralen Thiere
die grössten Schwierigkeiten entgegensetzen, indem sie von den einen Zoo-
logen zu jenen, von den anderen zu diesen gerechnet werden. So viel
Scharfsinn aber auch in jenen Arbeiten zu einer präciseren Bestimmung
dieser zweifelhaften Mittelformen aufgewendet erscheint, so kann das Re-
sultat derselben doch nicht als befriedigende Lösung der schwierigen Frage
bezeichnet werden. Der Grund dieser Erscheinung ist vorzugsweise darin
zu suchen, dass die Betrachtung von den Flächen des Thierkörpers aus-
gegangen ist und auf diese das meiste Gewicht gelegt hat, statt vor Allem
die Axen und deren Pole aufzusuchen, welche die maassgebenden Grund-
züge der Thiergestalt bestimmen und welche die Flächenbeschaffenheit selbst
erst bedingen. Auch sind hier so wenig als in den meisten anderen pro-
morphologischen Versuchen die Antimeren gehörig berücksichtigt, deren
Zahl und Verbindung, Gleichheit oder Ungleichheit vor Allem die Grund-
form constituirt. Fritz Müller kommt daher zu dem irrthümlichen Re-
sultate, dass die Grundform der Ctenophoren zweistrahlig sei. Johannes
Müller
stellt als ideale Grundform der Echinodermen eine Kugel auf,
welche eine bestimmte Axe mit zwei verschiedenen Polen und eine be-
stimmte Meridianebene besitzt, durch welche sie in zwei symmetrisch gleiche
Theile zerfällt, sowie fünf Radialfelder, durch welche ihre Oberfläche in
ein Bivium und ein Trivium zerfällt. Eine solche Kugel ist aber in Wahr-
heit keine Kugel, sondern eine halbe zehnseitige amphithecte Pyramide.

Immerhin sind die trefflichen Bemerkungen von Fritz Müller über die
Grundformen der Rippenquallen und von Johannes Müller über die
Grundformen und die Homologieen der Echinodermen sehr zu beachten,
schon allein desshalb, weil sie das nothwendige Ziel einer scharfen stereo-
metrischen Erkenntniss der organischen Formen richtig erkannten und
dasselbe in der festen Bestimmung einer allgemeinen Grundform suchten,
wenn sie es auch nicht erreichten. Es ist dies um so mehr anzuerkennen,
als sich die meisten Morphologen bisher der Erkenntniss dieses Zieles ver-
schlossen, und statt danach zu streben, die organischen Formen mit der
grössten Willkührlichkeit bezeichnet haben.

IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie.

Die Forderung, dass die organische Morphologie die allein absolut
sichere Methode der mathematisch-philosophischen Erkenntniss einzu-
schlagen und dass sie insbesondere auch die Betrachtung der orga-
nischen „Form an sich“ nach dieser stereometrischen Methode zu be-
ginnen habe, ist schon wiederholt und mit Recht von denkenden
Naturforschern gestellt und von den vorher genannten auch zu erfüllen
versucht worden. Insbesondere hat die neuere Physiologie, seitdem
sie den allein möglichen mechanisch-causalen Weg bei Erforschung

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[387/0426] III. Verschiedene Ansichten über die organischen Grundformen. Grundformen derjenigen Thiere — einerseits der bilateral-radialen Echino- dermen, andererseits der symmetrisch-regulären Coelenteraten — welche einer allgemeinen Unterscheidung der radialen und der bilateralen Thiere die grössten Schwierigkeiten entgegensetzen, indem sie von den einen Zoo- logen zu jenen, von den anderen zu diesen gerechnet werden. So viel Scharfsinn aber auch in jenen Arbeiten zu einer präciseren Bestimmung dieser zweifelhaften Mittelformen aufgewendet erscheint, so kann das Re- sultat derselben doch nicht als befriedigende Lösung der schwierigen Frage bezeichnet werden. Der Grund dieser Erscheinung ist vorzugsweise darin zu suchen, dass die Betrachtung von den Flächen des Thierkörpers aus- gegangen ist und auf diese das meiste Gewicht gelegt hat, statt vor Allem die Axen und deren Pole aufzusuchen, welche die maassgebenden Grund- züge der Thiergestalt bestimmen und welche die Flächenbeschaffenheit selbst erst bedingen. Auch sind hier so wenig als in den meisten anderen pro- morphologischen Versuchen die Antimeren gehörig berücksichtigt, deren Zahl und Verbindung, Gleichheit oder Ungleichheit vor Allem die Grund- form constituirt. Fritz Müller kommt daher zu dem irrthümlichen Re- sultate, dass die Grundform der Ctenophoren zweistrahlig sei. Johannes Müller stellt als ideale Grundform der Echinodermen eine Kugel auf, welche eine bestimmte Axe mit zwei verschiedenen Polen und eine be- stimmte Meridianebene besitzt, durch welche sie in zwei symmetrisch gleiche Theile zerfällt, sowie fünf Radialfelder, durch welche ihre Oberfläche in ein Bivium und ein Trivium zerfällt. Eine solche Kugel ist aber in Wahr- heit keine Kugel, sondern eine halbe zehnseitige amphithecte Pyramide. Immerhin sind die trefflichen Bemerkungen von Fritz Müller über die Grundformen der Rippenquallen und von Johannes Müller über die Grundformen und die Homologieen der Echinodermen sehr zu beachten, schon allein desshalb, weil sie das nothwendige Ziel einer scharfen stereo- metrischen Erkenntniss der organischen Formen richtig erkannten und dasselbe in der festen Bestimmung einer allgemeinen Grundform suchten, wenn sie es auch nicht erreichten. Es ist dies um so mehr anzuerkennen, als sich die meisten Morphologen bisher der Erkenntniss dieses Zieles ver- schlossen, und statt danach zu streben, die organischen Formen mit der grössten Willkührlichkeit bezeichnet haben. IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie. Die Forderung, dass die organische Morphologie die allein absolut sichere Methode der mathematisch-philosophischen Erkenntniss einzu- schlagen und dass sie insbesondere auch die Betrachtung der orga- nischen „Form an sich“ nach dieser stereometrischen Methode zu be- ginnen habe, ist schon wiederholt und mit Recht von denkenden Naturforschern gestellt und von den vorher genannten auch zu erfüllen versucht worden. Insbesondere hat die neuere Physiologie, seitdem sie den allein möglichen mechanisch-causalen Weg bei Erforschung 25*

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/426>, abgerufen am 07.06.2024.