I. Die Promorphologie als Lehre von den organischen Grundformen.
überstellen, ist in der That als solcher bisher noch von keinem Natur- forscher anerkannt, und selbst von den wenigen denkenden Männern, welche ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandten, nicht in gehörigem Maasse cultivirt und hervorgehoben worden.
Wenn wir daher im Folgenden die Fundamente der organischen Promorphologie für die gesammte Formenwelt der drei organischen Reiche festzustellen versuchen, so haben wir nicht allein mit der gros- sen Schwierigkeit des Gegenstandes an sich zu kämpfen, sondern in noch höherem Maasse mit den Vorurtheilen der Zeitgenossen, welche grösstentheils diesem ersten Versuche einer "organischen Stereometrie" in erhöhtem Maasse die Ungunst der Beurtheilung zuwenden werden, die unsere morphologischen Reformversuche überhaupt zu erwarten haben. Es erscheint desshalb nothwendig, ehe wir die bisher unter- nommenen promorphologischen Versuche überblicken, den Begriff der organischen Grundform selbst, wie er uns persönlich vorschwebt und im Folgenden speciell untersucht ist, in seiner allgemeinen Bedeutung kurz zu erörtern und festzustellen.
II. Begriff der organischen Grundform im Allgemeinen.
Unter organischer Grundform oder Promorphe verstehen wir all- gemein denjenigen mathematischen Körper, welcher der äusseren Form jedes organischen Individuums erster bis sechster Ordnung zu Grunde liegt, und welcher mit dieser letzteren in allen wesentlichen Verhält- nissen der formbestimmenden Körperaxen und ihrer beiden Pole über- einstimmt. Die ideale stereometrische Grundform sowohl als die reale Form des organischen Individuums, in welcher die erstere verkörpert ist, sind also lediglich durch ihre fest bestimmten Axen und deren beide Pole erkennbar und einer mathematischen Bestimmung fähig. Mithin sind nur diejenigen organischen Individuen von dieser stereo- metrischen Erkenntniss ausgeschlossen, bei denen wegen absoluten Mangels jeder bestimmten Axe auch eine stereometrische Grundform nicht ausgesprochen ist, nämlich die absolut unregelmässigen oder amorphen Gestalten, welche wir in der Formengruppe der Axenlosen (Anaxonia) zusammenfassen. Diese "axenlosen" organischen Indivi- duen verhalten sich zu der grossen Mehrzahl der "axenfesten" oder Axonien ebenso, wie die amorphen Anorgane zu den Krystallen. Doch lässt sich auch für die Anaxonien eine stereometrische Behand- lungsweise finden, wie im ersten Abschnitt des dreizehnten Capitels gezeigt werden wird.
Die ideale stereometrische Grundform, welche wir in jedem realen organischen Form-Individuum erster bis sechster Ordnung verkörpert
I. Die Promorphologie als Lehre von den organischen Grundformen.
überstellen, ist in der That als solcher bisher noch von keinem Natur- forscher anerkannt, und selbst von den wenigen denkenden Männern, welche ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandten, nicht in gehörigem Maasse cultivirt und hervorgehoben worden.
Wenn wir daher im Folgenden die Fundamente der organischen Promorphologie für die gesammte Formenwelt der drei organischen Reiche festzustellen versuchen, so haben wir nicht allein mit der gros- sen Schwierigkeit des Gegenstandes an sich zu kämpfen, sondern in noch höherem Maasse mit den Vorurtheilen der Zeitgenossen, welche grösstentheils diesem ersten Versuche einer „organischen Stereometrie“ in erhöhtem Maasse die Ungunst der Beurtheilung zuwenden werden, die unsere morphologischen Reformversuche überhaupt zu erwarten haben. Es erscheint desshalb nothwendig, ehe wir die bisher unter- nommenen promorphologischen Versuche überblicken, den Begriff der organischen Grundform selbst, wie er uns persönlich vorschwebt und im Folgenden speciell untersucht ist, in seiner allgemeinen Bedeutung kurz zu erörtern und festzustellen.
II. Begriff der organischen Grundform im Allgemeinen.
Unter organischer Grundform oder Promorphe verstehen wir all- gemein denjenigen mathematischen Körper, welcher der äusseren Form jedes organischen Individuums erster bis sechster Ordnung zu Grunde liegt, und welcher mit dieser letzteren in allen wesentlichen Verhält- nissen der formbestimmenden Körperaxen und ihrer beiden Pole über- einstimmt. Die ideale stereometrische Grundform sowohl als die reale Form des organischen Individuums, in welcher die erstere verkörpert ist, sind also lediglich durch ihre fest bestimmten Axen und deren beide Pole erkennbar und einer mathematischen Bestimmung fähig. Mithin sind nur diejenigen organischen Individuen von dieser stereo- metrischen Erkenntniss ausgeschlossen, bei denen wegen absoluten Mangels jeder bestimmten Axe auch eine stereometrische Grundform nicht ausgesprochen ist, nämlich die absolut unregelmässigen oder amorphen Gestalten, welche wir in der Formengruppe der Axenlosen (Anaxonia) zusammenfassen. Diese „axenlosen“ organischen Indivi- duen verhalten sich zu der grossen Mehrzahl der „axenfesten“ oder Axonien ebenso, wie die amorphen Anorgane zu den Krystallen. Doch lässt sich auch für die Anaxonien eine stereometrische Behand- lungsweise finden, wie im ersten Abschnitt des dreizehnten Capitels gezeigt werden wird.
Die ideale stereometrische Grundform, welche wir in jedem realen organischen Form-Individuum erster bis sechster Ordnung verkörpert
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I. Die Promorphologie als Lehre von den organischen Grundformen.
überstellen, ist in der That als solcher bisher noch von keinem Natur-
forscher anerkannt, und selbst von den wenigen denkenden Männern,
welche ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandten, nicht in gehörigem
Maasse cultivirt und hervorgehoben worden.
Wenn wir daher im Folgenden die Fundamente der organischen
Promorphologie für die gesammte Formenwelt der drei organischen
Reiche festzustellen versuchen, so haben wir nicht allein mit der gros-
sen Schwierigkeit des Gegenstandes an sich zu kämpfen, sondern in
noch höherem Maasse mit den Vorurtheilen der Zeitgenossen, welche
grösstentheils diesem ersten Versuche einer „organischen Stereometrie“
in erhöhtem Maasse die Ungunst der Beurtheilung zuwenden werden,
die unsere morphologischen Reformversuche überhaupt zu erwarten
haben. Es erscheint desshalb nothwendig, ehe wir die bisher unter-
nommenen promorphologischen Versuche überblicken, den Begriff der
organischen Grundform selbst, wie er uns persönlich vorschwebt und
im Folgenden speciell untersucht ist, in seiner allgemeinen Bedeutung
kurz zu erörtern und festzustellen.
II. Begriff der organischen Grundform im Allgemeinen.
Unter organischer Grundform oder Promorphe verstehen wir all-
gemein denjenigen mathematischen Körper, welcher der äusseren Form
jedes organischen Individuums erster bis sechster Ordnung zu Grunde
liegt, und welcher mit dieser letzteren in allen wesentlichen Verhält-
nissen der formbestimmenden Körperaxen und ihrer beiden Pole über-
einstimmt. Die ideale stereometrische Grundform sowohl als die reale
Form des organischen Individuums, in welcher die erstere verkörpert
ist, sind also lediglich durch ihre fest bestimmten Axen und deren
beide Pole erkennbar und einer mathematischen Bestimmung fähig.
Mithin sind nur diejenigen organischen Individuen von dieser stereo-
metrischen Erkenntniss ausgeschlossen, bei denen wegen absoluten
Mangels jeder bestimmten Axe auch eine stereometrische Grundform
nicht ausgesprochen ist, nämlich die absolut unregelmässigen oder
amorphen Gestalten, welche wir in der Formengruppe der Axenlosen
(Anaxonia) zusammenfassen. Diese „axenlosen“ organischen Indivi-
duen verhalten sich zu der grossen Mehrzahl der „axenfesten“ oder
Axonien ebenso, wie die amorphen Anorgane zu den Krystallen.
Doch lässt sich auch für die Anaxonien eine stereometrische Behand-
lungsweise finden, wie im ersten Abschnitt des dreizehnten Capitels
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/418>, abgerufen am 23.11.2024.
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