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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Physiologische Individualität der Organismen.
Nicht weniger vollständig als die frei umherschwimmenden Hectoco-
tylen
erscheinen die seltsamen beweglichen Hautlappen auf dem
Rücken von Thetis individualisirt, welche sich so leicht vom Thiere
ablösen und tagelang scheinbar selbstständig umher kriechen, dass sie
früher ebenfalls als Epizoen (Vertumnus thetidicola) beschrieben wurden.
Ebenso unvollkommen sind ferner die Pedicellarien der Echinodermen
individualisirt, die auf beweglichen Stielen festsitzenden mehrklappigen
Greifzangen, welche auch auf dem todten Thiere noch lange ihre
automatischen Bewegungen fortsetzen. In eine Reihe mit diesen sind
dann vielleicht auch die vogelkopfartigen Greiforgane (Avicularien)
und die pendelnden Wedelorgane oder Vibracula, und die anderen
ähnlichen, automatisch beweglichen Anhänge zu stellen, welche auf
vielen Bryozoen-Stöcken sich finden, und ebenfalls unabhängig von
den entwickelten Thieren, noch lange nach deren Tode ihre mono-
tonen Bewegungen fortsetzen. Doch werden diese Anhänge von An-
deren als rudimentäre Individuen betrachtet, die durch weit gehenden
Polymorphismus stark degenerirt sind. Die definitive Entscheidung,
ob derartige, mehr oder weniger unabhängige Anhänge von Colonieen
mehr als polymorphe Individuen oder als individualisirte Organe auf-
zufassen sind, ist in diesen, wie in manchen anderen Fällen, ebenso
für die allgemeine Morphologie wichtig, als ohne genaueste biologische
Kenntniss der ganzen Species und ihrer vollständigen Entwickelungs-
geschichte nicht zu geben.

Viel seltener, als solche äussere Organe zeigen bisweilen isolirte
innere Organe, welche aus dem actuellen Bion durch natürliche oder
künstliche Einflüsse entfernt sind, Lebenserscheinungen, welche ihnen
in auffallendem Maasse den Character der partiellen physiologischen
Individualität verleihen. Dahin gehören z. B. die inneren Kiemen
(sogenannten Wasserlungen) der Holothurien, der Schlundkopf der
Planarien, das Herz vieler Amphibien und Reptilien, und viele andere
contractile zusammengesetzte Organe niederer Thiere, welche noch
tagelang nach ihrem Austritt aus dem Körper ihre automatischen
Bewegungen selbstständig fortsetzen können.

Sehr verbreitet scheint ferner die partielle Individualisation von
Organen in dem Hydromedusen-Stamm zu sein. Man findet hier in
verschiedenen Abtheilungen eine grosse Selbstständigkeit einzelner
Körpertheile, welche, abgelöst vom Ganzen, entweder als virtuelle
Bionten sich sogleich zum Ganzen entwickeln, oder doch als partielle
Bionten längere Zeit hindurch sich isolirt zu erhalten und ihre Lebens-
bewegung fortzusetzen vermögen. So findet man z. B. im Meere sehr
oft einzelne abgerissene Tentakeln von Ctenophoren und Hydromedusen,
abgelöste Magenschläuche der letzteren, isolirte Wimperorgane
(Schwimmplättchen) der ersteren, welche noch Tage lang ihre charac-

Physiologische Individualität der Organismen.
Nicht weniger vollständig als die frei umherschwimmenden Hectoco-
tylen
erscheinen die seltsamen beweglichen Hautlappen auf dem
Rücken von Thetis individualisirt, welche sich so leicht vom Thiere
ablösen und tagelang scheinbar selbstständig umher kriechen, dass sie
früher ebenfalls als Epizoen (Vertumnus thetidicola) beschrieben wurden.
Ebenso unvollkommen sind ferner die Pedicellarien der Echinodermen
individualisirt, die auf beweglichen Stielen festsitzenden mehrklappigen
Greifzangen, welche auch auf dem todten Thiere noch lange ihre
automatischen Bewegungen fortsetzen. In eine Reihe mit diesen sind
dann vielleicht auch die vogelkopfartigen Greiforgane (Avicularien)
und die pendelnden Wedelorgane oder Vibracula, und die anderen
ähnlichen, automatisch beweglichen Anhänge zu stellen, welche auf
vielen Bryozoen-Stöcken sich finden, und ebenfalls unabhängig von
den entwickelten Thieren, noch lange nach deren Tode ihre mono-
tonen Bewegungen fortsetzen. Doch werden diese Anhänge von An-
deren als rudimentäre Individuen betrachtet, die durch weit gehenden
Polymorphismus stark degenerirt sind. Die definitive Entscheidung,
ob derartige, mehr oder weniger unabhängige Anhänge von Colonieen
mehr als polymorphe Individuen oder als individualisirte Organe auf-
zufassen sind, ist in diesen, wie in manchen anderen Fällen, ebenso
für die allgemeine Morphologie wichtig, als ohne genaueste biologische
Kenntniss der ganzen Species und ihrer vollständigen Entwickelungs-
geschichte nicht zu geben.

Viel seltener, als solche äussere Organe zeigen bisweilen isolirte
innere Organe, welche aus dem actuellen Bion durch natürliche oder
künstliche Einflüsse entfernt sind, Lebenserscheinungen, welche ihnen
in auffallendem Maasse den Character der partiellen physiologischen
Individualität verleihen. Dahin gehören z. B. die inneren Kiemen
(sogenannten Wasserlungen) der Holothurien, der Schlundkopf der
Planarien, das Herz vieler Amphibien und Reptilien, und viele andere
contractile zusammengesetzte Organe niederer Thiere, welche noch
tagelang nach ihrem Austritt aus dem Körper ihre automatischen
Bewegungen selbstständig fortsetzen können.

Sehr verbreitet scheint ferner die partielle Individualisation von
Organen in dem Hydromedusen-Stamm zu sein. Man findet hier in
verschiedenen Abtheilungen eine grosse Selbstständigkeit einzelner
Körpertheile, welche, abgelöst vom Ganzen, entweder als virtuelle
Bionten sich sogleich zum Ganzen entwickeln, oder doch als partielle
Bionten längere Zeit hindurch sich isolirt zu erhalten und ihre Lebens-
bewegung fortzusetzen vermögen. So findet man z. B. im Meere sehr
oft einzelne abgerissene Tentakeln von Ctenophoren und Hydromedusen,
abgelöste Magenschläuche der letzteren, isolirte Wimperorgane
(Schwimmplättchen) der ersteren, welche noch Tage lang ihre charac-

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[346/0385] Physiologische Individualität der Organismen. Nicht weniger vollständig als die frei umherschwimmenden Hectoco- tylen erscheinen die seltsamen beweglichen Hautlappen auf dem Rücken von Thetis individualisirt, welche sich so leicht vom Thiere ablösen und tagelang scheinbar selbstständig umher kriechen, dass sie früher ebenfalls als Epizoen (Vertumnus thetidicola) beschrieben wurden. Ebenso unvollkommen sind ferner die Pedicellarien der Echinodermen individualisirt, die auf beweglichen Stielen festsitzenden mehrklappigen Greifzangen, welche auch auf dem todten Thiere noch lange ihre automatischen Bewegungen fortsetzen. In eine Reihe mit diesen sind dann vielleicht auch die vogelkopfartigen Greiforgane (Avicularien) und die pendelnden Wedelorgane oder Vibracula, und die anderen ähnlichen, automatisch beweglichen Anhänge zu stellen, welche auf vielen Bryozoen-Stöcken sich finden, und ebenfalls unabhängig von den entwickelten Thieren, noch lange nach deren Tode ihre mono- tonen Bewegungen fortsetzen. Doch werden diese Anhänge von An- deren als rudimentäre Individuen betrachtet, die durch weit gehenden Polymorphismus stark degenerirt sind. Die definitive Entscheidung, ob derartige, mehr oder weniger unabhängige Anhänge von Colonieen mehr als polymorphe Individuen oder als individualisirte Organe auf- zufassen sind, ist in diesen, wie in manchen anderen Fällen, ebenso für die allgemeine Morphologie wichtig, als ohne genaueste biologische Kenntniss der ganzen Species und ihrer vollständigen Entwickelungs- geschichte nicht zu geben. Viel seltener, als solche äussere Organe zeigen bisweilen isolirte innere Organe, welche aus dem actuellen Bion durch natürliche oder künstliche Einflüsse entfernt sind, Lebenserscheinungen, welche ihnen in auffallendem Maasse den Character der partiellen physiologischen Individualität verleihen. Dahin gehören z. B. die inneren Kiemen (sogenannten Wasserlungen) der Holothurien, der Schlundkopf der Planarien, das Herz vieler Amphibien und Reptilien, und viele andere contractile zusammengesetzte Organe niederer Thiere, welche noch tagelang nach ihrem Austritt aus dem Körper ihre automatischen Bewegungen selbstständig fortsetzen können. Sehr verbreitet scheint ferner die partielle Individualisation von Organen in dem Hydromedusen-Stamm zu sein. Man findet hier in verschiedenen Abtheilungen eine grosse Selbstständigkeit einzelner Körpertheile, welche, abgelöst vom Ganzen, entweder als virtuelle Bionten sich sogleich zum Ganzen entwickeln, oder doch als partielle Bionten längere Zeit hindurch sich isolirt zu erhalten und ihre Lebens- bewegung fortzusetzen vermögen. So findet man z. B. im Meere sehr oft einzelne abgerissene Tentakeln von Ctenophoren und Hydromedusen, abgelöste Magenschläuche der letzteren, isolirte Wimperorgane (Schwimmplättchen) der ersteren, welche noch Tage lang ihre charac-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/385>, abgerufen am 23.11.2024.