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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Physiologische Individualität der Organismen.
wendig sein, zu unterscheiden zwischen drei wesentlich verschiedenen
Erscheinungsweisen oder Arten der physiologischen Individua-
lität,
welche allgemein als das actuelle Bion (oder das Bion im
engeren Sinne), das virtuelle oder potentielle Bion und das partielle
oder scheinbare Bion bezeichnet werden können.

I. Actuelles Bion oder physiologisches Individuum im
engeren Sinne ist jedes vollständig entwickelte organische
Individuum, welches den höchsten Grad morphologischer
Individualität erreicht hat, der ihm als reifen, ausgewach-
senen Repräsentanten der Species zukommt.
Dieser Grad
ist für jede organische Species ein bestimmter. Es ist also z. B. das
actuelle Bion bei den Phanerogamen ein morphologisches Individuum
sechster, bei den Wirbelthieren fünfter, bei den meisten Mollusken
vierter, bei den Spongien (?) dritter, bei den Volvocinen zweiter, bei
den einzelligen Algen erster Ordnung.
II. Virtuelles Bion oder potentielles physiologisches
Individuum ist jedes unentwickelte organische Individuum,
so lange es noch nicht den höchsten Grad morphologischer
Individualität erreicht hat, welcher ihm als reifen, aus-
gewachsenen Repräsentanten der Species zukommt, und
zu welchem es sich entwickeln kann.
Dieser Grad ist zu ver-
schiedenen Zeiten, in verschiedenen Stadien oder Perioden der indi-
viduellen Entwickelung ein verschiedener. Es ist also z. B. beim
Menschen und bei den Wirbelthieren überhaupt das virtuelle Bion
zuerst ein morphologisches Individuum erster (Ei), dann zweiter
(Blastoderma), dann dritter (Embryonal-Anlage ohne Primitivstreif),
dann vierter (Embryo mit Primitivstreif), dann endlich fünfter Ordnung
(Embryo mit Primitivrinne und Urwirbelkette). Bei den Anthozoen,
welche Stöcke bilden, z. B. den Astraeiden, ist das virtuelle Bion im
ersten Stadium der Entwickelung (als einfaches Ei) ein morphologisches
Individuum erster, dann (als kugeliger Zellenhaufen) zweiter, dann
(als protaxonier, noch nicht diradiirter Körper) dritter, darauf (als dira-
diirter Körper mit sechs Antimeren) vierter, dann (als Polyp mit ge-
gliederter Hauptaxe, nachdem die horizontalen Böden, Tabulae, aus-
gebildet sind) fünfter, endlich (nachdem die Stockbildung durch Thei-
lung oder Knospenbildung begonnen hat) sechster Ordnung. Bei den
Phanerogamen lassen sich die gleichen sechs Stufen oder Ordnungen
der morphologischen Individualität, welche das virtuelle Bion während
seiner Entwickelung bis zum actuellen durchläuft, folgendermaassen
ordnen: erste Stufe: Embryobläschen (Ei); zweite Stufe: Vorkeim
(Proembryo); dritte Stufe: Keim (Embryo) ohne Cotyledonen; vierte
Stufe: Keim (Embryo) mit Cotyledonen; fünfte Stufe: Keim (Embryo)
mit Cotyledonen und Plumula (Internodien); nach dem Keimen: junge

Physiologische Individualität der Organismen.
wendig sein, zu unterscheiden zwischen drei wesentlich verschiedenen
Erscheinungsweisen oder Arten der physiologischen Individua-
lität,
welche allgemein als das actuelle Bion (oder das Bion im
engeren Sinne), das virtuelle oder potentielle Bion und das partielle
oder scheinbare Bion bezeichnet werden können.

I. Actuelles Bion oder physiologisches Individuum im
engeren Sinne ist jedes vollständig entwickelte organische
Individuum, welches den höchsten Grad morphologischer
Individualität erreicht hat, der ihm als reifen, ausgewach-
senen Repräsentanten der Species zukommt.
Dieser Grad
ist für jede organische Species ein bestimmter. Es ist also z. B. das
actuelle Bion bei den Phanerogamen ein morphologisches Individuum
sechster, bei den Wirbelthieren fünfter, bei den meisten Mollusken
vierter, bei den Spongien (?) dritter, bei den Volvocinen zweiter, bei
den einzelligen Algen erster Ordnung.
II. Virtuelles Bion oder potentielles physiologisches
Individuum ist jedes unentwickelte organische Individuum,
so lange es noch nicht den höchsten Grad morphologischer
Individualität erreicht hat, welcher ihm als reifen, aus-
gewachsenen Repräsentanten der Species zukommt, und
zu welchem es sich entwickeln kann.
Dieser Grad ist zu ver-
schiedenen Zeiten, in verschiedenen Stadien oder Perioden der indi-
viduellen Entwickelung ein verschiedener. Es ist also z. B. beim
Menschen und bei den Wirbelthieren überhaupt das virtuelle Bion
zuerst ein morphologisches Individuum erster (Ei), dann zweiter
(Blastoderma), dann dritter (Embryonal-Anlage ohne Primitivstreif),
dann vierter (Embryo mit Primitivstreif), dann endlich fünfter Ordnung
(Embryo mit Primitivrinne und Urwirbelkette). Bei den Anthozoen,
welche Stöcke bilden, z. B. den Astraeiden, ist das virtuelle Bion im
ersten Stadium der Entwickelung (als einfaches Ei) ein morphologisches
Individuum erster, dann (als kugeliger Zellenhaufen) zweiter, dann
(als protaxonier, noch nicht diradiirter Körper) dritter, darauf (als dira-
diirter Körper mit sechs Antimeren) vierter, dann (als Polyp mit ge-
gliederter Hauptaxe, nachdem die horizontalen Böden, Tabulae, aus-
gebildet sind) fünfter, endlich (nachdem die Stockbildung durch Thei-
lung oder Knospenbildung begonnen hat) sechster Ordnung. Bei den
Phanerogamen lassen sich die gleichen sechs Stufen oder Ordnungen
der morphologischen Individualität, welche das virtuelle Bion während
seiner Entwickelung bis zum actuellen durchläuft, folgendermaassen
ordnen: erste Stufe: Embryobläschen (Ei); zweite Stufe: Vorkeim
(Proembryo); dritte Stufe: Keim (Embryo) ohne Cotyledonen; vierte
Stufe: Keim (Embryo) mit Cotyledonen; fünfte Stufe: Keim (Embryo)
mit Cotyledonen und Plumula (Internodien); nach dem Keimen: junge
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[334/0373] Physiologische Individualität der Organismen. wendig sein, zu unterscheiden zwischen drei wesentlich verschiedenen Erscheinungsweisen oder Arten der physiologischen Individua- lität, welche allgemein als das actuelle Bion (oder das Bion im engeren Sinne), das virtuelle oder potentielle Bion und das partielle oder scheinbare Bion bezeichnet werden können. I. Actuelles Bion oder physiologisches Individuum im engeren Sinne ist jedes vollständig entwickelte organische Individuum, welches den höchsten Grad morphologischer Individualität erreicht hat, der ihm als reifen, ausgewach- senen Repräsentanten der Species zukommt. Dieser Grad ist für jede organische Species ein bestimmter. Es ist also z. B. das actuelle Bion bei den Phanerogamen ein morphologisches Individuum sechster, bei den Wirbelthieren fünfter, bei den meisten Mollusken vierter, bei den Spongien (?) dritter, bei den Volvocinen zweiter, bei den einzelligen Algen erster Ordnung. II. Virtuelles Bion oder potentielles physiologisches Individuum ist jedes unentwickelte organische Individuum, so lange es noch nicht den höchsten Grad morphologischer Individualität erreicht hat, welcher ihm als reifen, aus- gewachsenen Repräsentanten der Species zukommt, und zu welchem es sich entwickeln kann. Dieser Grad ist zu ver- schiedenen Zeiten, in verschiedenen Stadien oder Perioden der indi- viduellen Entwickelung ein verschiedener. Es ist also z. B. beim Menschen und bei den Wirbelthieren überhaupt das virtuelle Bion zuerst ein morphologisches Individuum erster (Ei), dann zweiter (Blastoderma), dann dritter (Embryonal-Anlage ohne Primitivstreif), dann vierter (Embryo mit Primitivstreif), dann endlich fünfter Ordnung (Embryo mit Primitivrinne und Urwirbelkette). Bei den Anthozoen, welche Stöcke bilden, z. B. den Astraeiden, ist das virtuelle Bion im ersten Stadium der Entwickelung (als einfaches Ei) ein morphologisches Individuum erster, dann (als kugeliger Zellenhaufen) zweiter, dann (als protaxonier, noch nicht diradiirter Körper) dritter, darauf (als dira- diirter Körper mit sechs Antimeren) vierter, dann (als Polyp mit ge- gliederter Hauptaxe, nachdem die horizontalen Böden, Tabulae, aus- gebildet sind) fünfter, endlich (nachdem die Stockbildung durch Thei- lung oder Knospenbildung begonnen hat) sechster Ordnung. Bei den Phanerogamen lassen sich die gleichen sechs Stufen oder Ordnungen der morphologischen Individualität, welche das virtuelle Bion während seiner Entwickelung bis zum actuellen durchläuft, folgendermaassen ordnen: erste Stufe: Embryobläschen (Ei); zweite Stufe: Vorkeim (Proembryo); dritte Stufe: Keim (Embryo) ohne Cotyledonen; vierte Stufe: Keim (Embryo) mit Cotyledonen; fünfte Stufe: Keim (Embryo) mit Cotyledonen und Plumula (Internodien); nach dem Keimen: junge

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/373>, abgerufen am 10.06.2024.