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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Morphologische Individualität der Organismen.
Gewebsgruppe der Bindesubstanzen so sehr auszeichnen. Seit man diese
Gewebe genauer zu untersuchen begonnen hat, spinnt sich ein endloser
und durch die Unklarheit und Verworrenheit, mit der er geführt wird,
höchst unerquicklicher Streit darüber fort, ob diese Intercellularsubstanzen,
wie sie namentlich im Knochen, Knorpel, Bindegewebe, Schleimgewebe etc.
so massig entwickelt sind, als Differenzirungsproducte des Plasma selbst,
aus einer Metamorphose desselben hervorgegangen, oder vielmehr als Aus-
scheidungsproducte desselben, in die die Substanz des Plasma selbst nicht
eingeht, zu betrachten sind. Nach dem, was wir oben bereits über die
Unmöglichkeit einer scharfen Scheidung der Differenzirung und Secretion
gesagt haben, erscheint der grosse Aufwand von Zeit, Mühe und Worten,
den man an diese Frage gewendet hat, ziemlich überflüssig vergeudet.
Auch das einseitige Bestreben, das hierbei die Meisten zeigten, indem sie
entweder alle Intercellularsubstanzen nur als Differenzirungs- oder nur
als Secretionsproducte gelten lassen wollten, hat eine einfache und natur-
gemässe Beantwortung dieser viel ventilirten Frage verhindert. Durch ver-
gleichende Untersuchung der verschiedenen Intercellularsubstanzen bei
niederen und höheren Thieren überzeugt man sich leicht, dass dieselben,
ganz gleich der Zellmembran, im einen Falle fast nur durch Differen-
zirung, im andern Falle fast nur durch Ausscheidung aus dem Plasma
entstehen, während dazwischen alle möglichen Uebergangsstufen zwischen
beiden vorkommen, und oft Auscheidung und Differenzirung der oberflächlichen
Plasmaschichten gleichmässig zur Ablagerung der Zwischensubstanz bei-
tragen. Auch für die Lösung dieser Frage war das Dogma von der con-
stanten Anwesenheit und Dauer der Zellmembran sehr hinderlich.

Die Ausscheidung der Intercellularsubstanzen geschieht ganz wie die-
jenige der geschichteten Zellenmembran, und in vielen Fällen kann man sich,
z. B. bei verschiedenen Knorpelformen, davon überzeugen, dass die an-
fänglich vollkommen deutlich geschichteten und in ablösbare concentrische
Schalen zu spaltenden Membranen späterhin in eine vollkommen homogene
Zwischensubstanz übergehen. Ebenso können Porencanäle die geschichteten
oder später homogenen Zwischensubstanzen ganz ebenso wie die geschich-
tete isolirbare Membran und die einseitigen geschichteten Cuticularbildungen
durchsetzen. Die verästelten Canäle, welche die concentrischen Knochen-
lamellen durchsetzen und von fadenartigen, nackten Ausläufern des Plasma
erfüllt sind, haben dieselbe Entstehung und dieselbe morphologische Be-
deutung wie die Porencanäle der Cuticularbildungen, wie dies namentlich
von Leydig nachgewiesen worden ist. Während diese Canäle bei den
letzteren dem Verkehr des Plasma mit der Aussenwelt (der Perspiration etc.)
dienen, vermitteln sie bei den ersteren, indem die Ausläufer und Plasma-
Zweige der verschiedenen Zellen sich begegnen und verbinden, den Stoff-
verkehr der Zellen unter einander.

Wohl die merkwürdigsten von allen äusseren Plasmaproducten sind
die äusserst zierlich gestalteten und formenreichen Anhänge, welche in Ge-
stalt von Chitinfortsätzen (Schuppen, Haaren, Stacheln, Pinseln etc.) auf der
Chitindecke der Gliederthiere auftreten und gleich dieser selbst Aus-
schwitzungen des Plasma sind. Sie verdienen desshalb eine besondere Er-

Morphologische Individualität der Organismen.
Gewebsgruppe der Bindesubstanzen so sehr auszeichnen. Seit man diese
Gewebe genauer zu untersuchen begonnen hat, spinnt sich ein endloser
und durch die Unklarheit und Verworrenheit, mit der er geführt wird,
höchst unerquicklicher Streit darüber fort, ob diese Intercellularsubstanzen,
wie sie namentlich im Knochen, Knorpel, Bindegewebe, Schleimgewebe etc.
so massig entwickelt sind, als Differenzirungsproducte des Plasma selbst,
aus einer Metamorphose desselben hervorgegangen, oder vielmehr als Aus-
scheidungsproducte desselben, in die die Substanz des Plasma selbst nicht
eingeht, zu betrachten sind. Nach dem, was wir oben bereits über die
Unmöglichkeit einer scharfen Scheidung der Differenzirung und Secretion
gesagt haben, erscheint der grosse Aufwand von Zeit, Mühe und Worten,
den man an diese Frage gewendet hat, ziemlich überflüssig vergeudet.
Auch das einseitige Bestreben, das hierbei die Meisten zeigten, indem sie
entweder alle Intercellularsubstanzen nur als Differenzirungs- oder nur
als Secretionsproducte gelten lassen wollten, hat eine einfache und natur-
gemässe Beantwortung dieser viel ventilirten Frage verhindert. Durch ver-
gleichende Untersuchung der verschiedenen Intercellularsubstanzen bei
niederen und höheren Thieren überzeugt man sich leicht, dass dieselben,
ganz gleich der Zellmembran, im einen Falle fast nur durch Differen-
zirung, im andern Falle fast nur durch Ausscheidung aus dem Plasma
entstehen, während dazwischen alle möglichen Uebergangsstufen zwischen
beiden vorkommen, und oft Auscheidung und Differenzirung der oberflächlichen
Plasmaschichten gleichmässig zur Ablagerung der Zwischensubstanz bei-
tragen. Auch für die Lösung dieser Frage war das Dogma von der con-
stanten Anwesenheit und Dauer der Zellmembran sehr hinderlich.

Die Ausscheidung der Intercellularsubstanzen geschieht ganz wie die-
jenige der geschichteten Zellenmembran, und in vielen Fällen kann man sich,
z. B. bei verschiedenen Knorpelformen, davon überzeugen, dass die an-
fänglich vollkommen deutlich geschichteten und in ablösbare concentrische
Schalen zu spaltenden Membranen späterhin in eine vollkommen homogene
Zwischensubstanz übergehen. Ebenso können Porencanäle die geschichteten
oder später homogenen Zwischensubstanzen ganz ebenso wie die geschich-
tete isolirbare Membran und die einseitigen geschichteten Cuticularbildungen
durchsetzen. Die verästelten Canäle, welche die concentrischen Knochen-
lamellen durchsetzen und von fadenartigen, nackten Ausläufern des Plasma
erfüllt sind, haben dieselbe Entstehung und dieselbe morphologische Be-
deutung wie die Porencanäle der Cuticularbildungen, wie dies namentlich
von Leydig nachgewiesen worden ist. Während diese Canäle bei den
letzteren dem Verkehr des Plasma mit der Aussenwelt (der Perspiration etc.)
dienen, vermitteln sie bei den ersteren, indem die Ausläufer und Plasma-
Zweige der verschiedenen Zellen sich begegnen und verbinden, den Stoff-
verkehr der Zellen unter einander.

Wohl die merkwürdigsten von allen äusseren Plasmaproducten sind
die äusserst zierlich gestalteten und formenreichen Anhänge, welche in Ge-
stalt von Chitinfortsätzen (Schuppen, Haaren, Stacheln, Pinseln etc.) auf der
Chitindecke der Gliederthiere auftreten und gleich dieser selbst Aus-
schwitzungen des Plasma sind. Sie verdienen desshalb eine besondere Er-

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[284/0323] Morphologische Individualität der Organismen. Gewebsgruppe der Bindesubstanzen so sehr auszeichnen. Seit man diese Gewebe genauer zu untersuchen begonnen hat, spinnt sich ein endloser und durch die Unklarheit und Verworrenheit, mit der er geführt wird, höchst unerquicklicher Streit darüber fort, ob diese Intercellularsubstanzen, wie sie namentlich im Knochen, Knorpel, Bindegewebe, Schleimgewebe etc. so massig entwickelt sind, als Differenzirungsproducte des Plasma selbst, aus einer Metamorphose desselben hervorgegangen, oder vielmehr als Aus- scheidungsproducte desselben, in die die Substanz des Plasma selbst nicht eingeht, zu betrachten sind. Nach dem, was wir oben bereits über die Unmöglichkeit einer scharfen Scheidung der Differenzirung und Secretion gesagt haben, erscheint der grosse Aufwand von Zeit, Mühe und Worten, den man an diese Frage gewendet hat, ziemlich überflüssig vergeudet. Auch das einseitige Bestreben, das hierbei die Meisten zeigten, indem sie entweder alle Intercellularsubstanzen nur als Differenzirungs- oder nur als Secretionsproducte gelten lassen wollten, hat eine einfache und natur- gemässe Beantwortung dieser viel ventilirten Frage verhindert. Durch ver- gleichende Untersuchung der verschiedenen Intercellularsubstanzen bei niederen und höheren Thieren überzeugt man sich leicht, dass dieselben, ganz gleich der Zellmembran, im einen Falle fast nur durch Differen- zirung, im andern Falle fast nur durch Ausscheidung aus dem Plasma entstehen, während dazwischen alle möglichen Uebergangsstufen zwischen beiden vorkommen, und oft Auscheidung und Differenzirung der oberflächlichen Plasmaschichten gleichmässig zur Ablagerung der Zwischensubstanz bei- tragen. Auch für die Lösung dieser Frage war das Dogma von der con- stanten Anwesenheit und Dauer der Zellmembran sehr hinderlich. Die Ausscheidung der Intercellularsubstanzen geschieht ganz wie die- jenige der geschichteten Zellenmembran, und in vielen Fällen kann man sich, z. B. bei verschiedenen Knorpelformen, davon überzeugen, dass die an- fänglich vollkommen deutlich geschichteten und in ablösbare concentrische Schalen zu spaltenden Membranen späterhin in eine vollkommen homogene Zwischensubstanz übergehen. Ebenso können Porencanäle die geschichteten oder später homogenen Zwischensubstanzen ganz ebenso wie die geschich- tete isolirbare Membran und die einseitigen geschichteten Cuticularbildungen durchsetzen. Die verästelten Canäle, welche die concentrischen Knochen- lamellen durchsetzen und von fadenartigen, nackten Ausläufern des Plasma erfüllt sind, haben dieselbe Entstehung und dieselbe morphologische Be- deutung wie die Porencanäle der Cuticularbildungen, wie dies namentlich von Leydig nachgewiesen worden ist. Während diese Canäle bei den letzteren dem Verkehr des Plasma mit der Aussenwelt (der Perspiration etc.) dienen, vermitteln sie bei den ersteren, indem die Ausläufer und Plasma- Zweige der verschiedenen Zellen sich begegnen und verbinden, den Stoff- verkehr der Zellen unter einander. Wohl die merkwürdigsten von allen äusseren Plasmaproducten sind die äusserst zierlich gestalteten und formenreichen Anhänge, welche in Ge- stalt von Chitinfortsätzen (Schuppen, Haaren, Stacheln, Pinseln etc.) auf der Chitindecke der Gliederthiere auftreten und gleich dieser selbst Aus- schwitzungen des Plasma sind. Sie verdienen desshalb eine besondere Er-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/323>, abgerufen am 11.06.2024.