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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Begriff und Aufgabe der Tectologie.

Das Individuum in Huxleys Sinne repräsentirt, wie man sieht,
keine anatomische, sondern eine genealogische Einheit. Die Ein-
heit der Entwickelung,
oder die Einheit der Abstammung von
einem und demselben Keime, und zwar von einem geschlechtlichen
Keime (Ei), ist ihm das Kriterium der Individualität, und mithin die
geschlechtliche Zeugung die Grenzmarke der gleichen Individuen. Da
nun hiernach nur der geschlechtlich erzeugte Keim das Individuum
repräsentirt, und alle durch ungeschlechtliche Zeugung, sei es Knospen-
bildung oder Theilung, entstandenen Formen lediglich Theilstücke jenes
ersten sind, so kommen wir mit Huxley consequenter Weise zu dem
Schlusse, dass nicht nur alle in einander geschachtelten Generationen
von Gyrodactylus, nicht nur alle durch Theilung oder Knospung aus
einer einzigen geschlechtlich erzeugten Hydra oder Nais erzeugten
Formen, sondern auch alle Hydroidpolypen und deren Stöcke, welche
aus einem einzigen Medusen-Ei hervorgehen, ferner alle Salpen, die
in einer einzigen Salpenkette vereinigt sind, ja sogar sämmtliche
Blattläuse, welche von der ersten geschlechtlich erzeugten Amme
durch ungeschlechtliche Zeugung in mehreren (9--11 und mehr) Gene-
rationen im Laufe eines Sommers hervorgebracht sind (möglicherweise
viele Millionen Blattläuse), alle zusammen nur ein einziges Individuum
darstellen, dass sie alle zusammen nur eine Repräsentation des Indivi-
duums durch successive und coexistirende separable Formen sind.

Dieselbe genealogische Auffassung, welche Huxley hier von den
thierischen Individuen darlegt, war schon vor längerer Zeit von
Gallesio in seiner "Teoria della riproduzione vegetale" (1816) hin-
sichtlich der Pflanzen aufgestellt worden. Auch Gallesio betrachtet
sämmtliche durch ungeschlechtliche Zeugung (Knospung oder Theilung)
entstandene Individuen, also alle Sprosse und Ableger der Pflanze
(Knospen, Knollen, Zweige etc.) nur als Theilstücke eines einzigen
Individuums, welches aus dem Ei (dem Samenkorn) hervorgegangen
ist. Durch alle verschiedenen Formen der ungeschlechtlichen Zeugung
soll das Individuum bloss fortgesetzt, kein neues Individuum erzeugt
werden.

So leicht es auch erscheinen muss, nach dieser Auffassung die
Grenze der organischen Individualität zu bestimmen, so wenig geeignet
erscheint dieselbe dennoch, eine allgemein befriedigende Vorstellung
von derjenigen anschaulich leicht aufzufassenden Einheit zu geben,
welche man allgemein als "Individuum im engeren Sinne" oder als
"absolutes Individuum" bezeichnet. Bei den höheren Thieren aller-
dings fällt der Begriff der Individualität stets zusammen mit dem
Kriterium der geschlechtlichen Zeugung, der Entwickelung aus einem
befruchteten Ei. Bei den niederen Thieren dagegen und bei den aller-
meisten Pflanzen, wo geschlechtliche Generationen vielfach mit unge-

Begriff und Aufgabe der Tectologie.

Das Individuum in Huxleys Sinne repräsentirt, wie man sieht,
keine anatomische, sondern eine genealogische Einheit. Die Ein-
heit der Entwickelung,
oder die Einheit der Abstammung von
einem und demselben Keime, und zwar von einem geschlechtlichen
Keime (Ei), ist ihm das Kriterium der Individualität, und mithin die
geschlechtliche Zeugung die Grenzmarke der gleichen Individuen. Da
nun hiernach nur der geschlechtlich erzeugte Keim das Individuum
repräsentirt, und alle durch ungeschlechtliche Zeugung, sei es Knospen-
bildung oder Theilung, entstandenen Formen lediglich Theilstücke jenes
ersten sind, so kommen wir mit Huxley consequenter Weise zu dem
Schlusse, dass nicht nur alle in einander geschachtelten Generationen
von Gyrodactylus, nicht nur alle durch Theilung oder Knospung aus
einer einzigen geschlechtlich erzeugten Hydra oder Nais erzeugten
Formen, sondern auch alle Hydroidpolypen und deren Stöcke, welche
aus einem einzigen Medusen-Ei hervorgehen, ferner alle Salpen, die
in einer einzigen Salpenkette vereinigt sind, ja sogar sämmtliche
Blattläuse, welche von der ersten geschlechtlich erzeugten Amme
durch ungeschlechtliche Zeugung in mehreren (9—11 und mehr) Gene-
rationen im Laufe eines Sommers hervorgebracht sind (möglicherweise
viele Millionen Blattläuse), alle zusammen nur ein einziges Individuum
darstellen, dass sie alle zusammen nur eine Repräsentation des Indivi-
duums durch successive und coexistirende separable Formen sind.

Dieselbe genealogische Auffassung, welche Huxley hier von den
thierischen Individuen darlegt, war schon vor längerer Zeit von
Gallesio in seiner „Teoria della riproduzione vegetale“ (1816) hin-
sichtlich der Pflanzen aufgestellt worden. Auch Gallesio betrachtet
sämmtliche durch ungeschlechtliche Zeugung (Knospung oder Theilung)
entstandene Individuen, also alle Sprosse und Ableger der Pflanze
(Knospen, Knollen, Zweige etc.) nur als Theilstücke eines einzigen
Individuums, welches aus dem Ei (dem Samenkorn) hervorgegangen
ist. Durch alle verschiedenen Formen der ungeschlechtlichen Zeugung
soll das Individuum bloss fortgesetzt, kein neues Individuum erzeugt
werden.

So leicht es auch erscheinen muss, nach dieser Auffassung die
Grenze der organischen Individualität zu bestimmen, so wenig geeignet
erscheint dieselbe dennoch, eine allgemein befriedigende Vorstellung
von derjenigen anschaulich leicht aufzufassenden Einheit zu geben,
welche man allgemein als „Individuum im engeren Sinne“ oder als
„absolutes Individuum“ bezeichnet. Bei den höheren Thieren aller-
dings fällt der Begriff der Individualität stets zusammen mit dem
Kriterium der geschlechtlichen Zeugung, der Entwickelung aus einem
befruchteten Ei. Bei den niederen Thieren dagegen und bei den aller-
meisten Pflanzen, wo geschlechtliche Generationen vielfach mit unge-

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[262/0301] Begriff und Aufgabe der Tectologie. Das Individuum in Huxleys Sinne repräsentirt, wie man sieht, keine anatomische, sondern eine genealogische Einheit. Die Ein- heit der Entwickelung, oder die Einheit der Abstammung von einem und demselben Keime, und zwar von einem geschlechtlichen Keime (Ei), ist ihm das Kriterium der Individualität, und mithin die geschlechtliche Zeugung die Grenzmarke der gleichen Individuen. Da nun hiernach nur der geschlechtlich erzeugte Keim das Individuum repräsentirt, und alle durch ungeschlechtliche Zeugung, sei es Knospen- bildung oder Theilung, entstandenen Formen lediglich Theilstücke jenes ersten sind, so kommen wir mit Huxley consequenter Weise zu dem Schlusse, dass nicht nur alle in einander geschachtelten Generationen von Gyrodactylus, nicht nur alle durch Theilung oder Knospung aus einer einzigen geschlechtlich erzeugten Hydra oder Nais erzeugten Formen, sondern auch alle Hydroidpolypen und deren Stöcke, welche aus einem einzigen Medusen-Ei hervorgehen, ferner alle Salpen, die in einer einzigen Salpenkette vereinigt sind, ja sogar sämmtliche Blattläuse, welche von der ersten geschlechtlich erzeugten Amme durch ungeschlechtliche Zeugung in mehreren (9—11 und mehr) Gene- rationen im Laufe eines Sommers hervorgebracht sind (möglicherweise viele Millionen Blattläuse), alle zusammen nur ein einziges Individuum darstellen, dass sie alle zusammen nur eine Repräsentation des Indivi- duums durch successive und coexistirende separable Formen sind. Dieselbe genealogische Auffassung, welche Huxley hier von den thierischen Individuen darlegt, war schon vor längerer Zeit von Gallesio in seiner „Teoria della riproduzione vegetale“ (1816) hin- sichtlich der Pflanzen aufgestellt worden. Auch Gallesio betrachtet sämmtliche durch ungeschlechtliche Zeugung (Knospung oder Theilung) entstandene Individuen, also alle Sprosse und Ableger der Pflanze (Knospen, Knollen, Zweige etc.) nur als Theilstücke eines einzigen Individuums, welches aus dem Ei (dem Samenkorn) hervorgegangen ist. Durch alle verschiedenen Formen der ungeschlechtlichen Zeugung soll das Individuum bloss fortgesetzt, kein neues Individuum erzeugt werden. So leicht es auch erscheinen muss, nach dieser Auffassung die Grenze der organischen Individualität zu bestimmen, so wenig geeignet erscheint dieselbe dennoch, eine allgemein befriedigende Vorstellung von derjenigen anschaulich leicht aufzufassenden Einheit zu geben, welche man allgemein als „Individuum im engeren Sinne“ oder als „absolutes Individuum“ bezeichnet. Bei den höheren Thieren aller- dings fällt der Begriff der Individualität stets zusammen mit dem Kriterium der geschlechtlichen Zeugung, der Entwickelung aus einem befruchteten Ei. Bei den niederen Thieren dagegen und bei den aller- meisten Pflanzen, wo geschlechtliche Generationen vielfach mit unge-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/301>, abgerufen am 11.06.2024.