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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums.
V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums.

Bei weitem weniger Schwierigkeiten, als den Botanikern, hat den
Zoologen die Feststellung der Individualität verursacht. Diese gingen
allgemein aus von der Betrachtung der höheren Thiere, bei welchen
durch den Einschluss aller Organe in das Innere eines räumlich scharf
begränzten Körpers und durch die ausgeprägte Einheit dieses selbst-
ständigen Körpers in morphologischer und physiologischer Beziehung
der individuelle Character sehr deutlich ausgesprochen ist. Daher
hielt man in der Zoologie gewöhnlich eine besondere Diskussion über
diesen Gegenstand für überflüssig. Erst als man in der neueren Zeit
den niederen Thieren und thierähnlichen Protisten ein genaueres Studium
zu widmen begann, musste sich denkenden Beobachtern bald die
Thatsache aufdrängen, dass hier, je weiter wir hinabsteigen, die Selbst-
ständigkeit und scharfe Umgränzung derjenigen Einheit, die bei den
höheren Thieren als vollkommen abgeschlossene Persönlichkeit uns
entgegentritt, sich immer mehr verliert. In der That sind hier, na-
mentlich unter den Würmern und Coelenteraten, die Schwierigkeiten
der Frage, was man denn eigentlich als Individuum im engeren Sinne
(der menschlichen Person, dem pflanzlichen Spross entsprechend) auf-
zufassen habe, mindestens ebenso gross, und oft noch grösser, als
es bei den Pflanzen gewöhnlich der Fall ist.

Ein weiterer Umstand, der das Verständniss der thierischen In-
dividualität bedeutend beeinträchtigte, lag darin, dass man hier von
Anfang an entweder ausschliesslich oder doch vorwiegend die physio-
logische Seite der Frage berücksichtigte und die morphologische ganz
oder fast ganz vernachlässigte, während die Botaniker beide Seiten
gemischt ins Auge gefasst hatten. Dieser Umstand erklärt sich ganz
natürlich aus der mehr äusserlichen Gliederung der Pflanzenform und
den weit brauchbareren Angriffspunkten, welche die morphologische
Untersuchung der Pflanze gegenüber der viel schwierigeren physio-
logischen darbot. Auch kommt dabei wesentlich der Umstand mit in
Betracht, dass die Centralisation bei dem thierischen Individuum weit
grösser, als bei dem pflanzlichen ist, und dass insbesondere die durch
das Nervensystem vermittelten innigen Beziehungen der einzelnen
thierischen Körpertheile zu einander, welche sich bei den höheren
Thieren namentlich in der einheitlichen "Seele" aussprechen, bei den
Pflanzen viel weniger oder fast gar nicht entwickelt sind.

Eine eingehende Besprechung der thierischen Individualität von
physiologischem Gesichtspunkte aus findet sich in Johannes Müllers
Handbuch der Physiologie des Menschen. Im ersten Bande, und
zwar in dem zweiten Capitel der Prolegomena, welches "Vom Organis-
mus und vom Leben" handelt, wird die Bildung der Individuen als

V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums.
V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums.

Bei weitem weniger Schwierigkeiten, als den Botanikern, hat den
Zoologen die Feststellung der Individualität verursacht. Diese gingen
allgemein aus von der Betrachtung der höheren Thiere, bei welchen
durch den Einschluss aller Organe in das Innere eines räumlich scharf
begränzten Körpers und durch die ausgeprägte Einheit dieses selbst-
ständigen Körpers in morphologischer und physiologischer Beziehung
der individuelle Character sehr deutlich ausgesprochen ist. Daher
hielt man in der Zoologie gewöhnlich eine besondere Diskussion über
diesen Gegenstand für überflüssig. Erst als man in der neueren Zeit
den niederen Thieren und thierähnlichen Protisten ein genaueres Studium
zu widmen begann, musste sich denkenden Beobachtern bald die
Thatsache aufdrängen, dass hier, je weiter wir hinabsteigen, die Selbst-
ständigkeit und scharfe Umgränzung derjenigen Einheit, die bei den
höheren Thieren als vollkommen abgeschlossene Persönlichkeit uns
entgegentritt, sich immer mehr verliert. In der That sind hier, na-
mentlich unter den Würmern und Coelenteraten, die Schwierigkeiten
der Frage, was man denn eigentlich als Individuum im engeren Sinne
(der menschlichen Person, dem pflanzlichen Spross entsprechend) auf-
zufassen habe, mindestens ebenso gross, und oft noch grösser, als
es bei den Pflanzen gewöhnlich der Fall ist.

Ein weiterer Umstand, der das Verständniss der thierischen In-
dividualität bedeutend beeinträchtigte, lag darin, dass man hier von
Anfang an entweder ausschliesslich oder doch vorwiegend die physio-
logische Seite der Frage berücksichtigte und die morphologische ganz
oder fast ganz vernachlässigte, während die Botaniker beide Seiten
gemischt ins Auge gefasst hatten. Dieser Umstand erklärt sich ganz
natürlich aus der mehr äusserlichen Gliederung der Pflanzenform und
den weit brauchbareren Angriffspunkten, welche die morphologische
Untersuchung der Pflanze gegenüber der viel schwierigeren physio-
logischen darbot. Auch kommt dabei wesentlich der Umstand mit in
Betracht, dass die Centralisation bei dem thierischen Individuum weit
grösser, als bei dem pflanzlichen ist, und dass insbesondere die durch
das Nervensystem vermittelten innigen Beziehungen der einzelnen
thierischen Körpertheile zu einander, welche sich bei den höheren
Thieren namentlich in der einheitlichen „Seele“ aussprechen, bei den
Pflanzen viel weniger oder fast gar nicht entwickelt sind.

Eine eingehende Besprechung der thierischen Individualität von
physiologischem Gesichtspunkte aus findet sich in Johannes Müllers
Handbuch der Physiologie des Menschen. Im ersten Bande, und
zwar in dem zweiten Capitel der Prolegomena, welches „Vom Organis-
mus und vom Leben“ handelt, wird die Bildung der Individuen als

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[255/0294] V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums. V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums. Bei weitem weniger Schwierigkeiten, als den Botanikern, hat den Zoologen die Feststellung der Individualität verursacht. Diese gingen allgemein aus von der Betrachtung der höheren Thiere, bei welchen durch den Einschluss aller Organe in das Innere eines räumlich scharf begränzten Körpers und durch die ausgeprägte Einheit dieses selbst- ständigen Körpers in morphologischer und physiologischer Beziehung der individuelle Character sehr deutlich ausgesprochen ist. Daher hielt man in der Zoologie gewöhnlich eine besondere Diskussion über diesen Gegenstand für überflüssig. Erst als man in der neueren Zeit den niederen Thieren und thierähnlichen Protisten ein genaueres Studium zu widmen begann, musste sich denkenden Beobachtern bald die Thatsache aufdrängen, dass hier, je weiter wir hinabsteigen, die Selbst- ständigkeit und scharfe Umgränzung derjenigen Einheit, die bei den höheren Thieren als vollkommen abgeschlossene Persönlichkeit uns entgegentritt, sich immer mehr verliert. In der That sind hier, na- mentlich unter den Würmern und Coelenteraten, die Schwierigkeiten der Frage, was man denn eigentlich als Individuum im engeren Sinne (der menschlichen Person, dem pflanzlichen Spross entsprechend) auf- zufassen habe, mindestens ebenso gross, und oft noch grösser, als es bei den Pflanzen gewöhnlich der Fall ist. Ein weiterer Umstand, der das Verständniss der thierischen In- dividualität bedeutend beeinträchtigte, lag darin, dass man hier von Anfang an entweder ausschliesslich oder doch vorwiegend die physio- logische Seite der Frage berücksichtigte und die morphologische ganz oder fast ganz vernachlässigte, während die Botaniker beide Seiten gemischt ins Auge gefasst hatten. Dieser Umstand erklärt sich ganz natürlich aus der mehr äusserlichen Gliederung der Pflanzenform und den weit brauchbareren Angriffspunkten, welche die morphologische Untersuchung der Pflanze gegenüber der viel schwierigeren physio- logischen darbot. Auch kommt dabei wesentlich der Umstand mit in Betracht, dass die Centralisation bei dem thierischen Individuum weit grösser, als bei dem pflanzlichen ist, und dass insbesondere die durch das Nervensystem vermittelten innigen Beziehungen der einzelnen thierischen Körpertheile zu einander, welche sich bei den höheren Thieren namentlich in der einheitlichen „Seele“ aussprechen, bei den Pflanzen viel weniger oder fast gar nicht entwickelt sind. Eine eingehende Besprechung der thierischen Individualität von physiologischem Gesichtspunkte aus findet sich in Johannes Müllers Handbuch der Physiologie des Menschen. Im ersten Bande, und zwar in dem zweiten Capitel der Prolegomena, welches „Vom Organis- mus und vom Leben“ handelt, wird die Bildung der Individuen als

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/294>, abgerufen am 24.11.2024.