Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

IV. Verschiedene Auffassungen des protistischen Individuums.
ten Thierstöcken anderer Stämme (z. B. Anthozoen) analog sind.
Derartige echte Colonieen (Cormen) finden sich vor bei der höher
entwickelten Rhizopoden-Klasse der Radiolarien, welche theils aus
solitären, einzeln lebenden, theils aus socialen, gesellig verbundenen
Individuen besteht. Wie wir in unserer Monographie der Radiolarien 1)
gezeigt haben, sind die einzelnen "Centralkapseln" oder "Nester" der
letzteren (der Collozoen, Sphaerozoen und Collosphaeren) vom mor-
phologischen Standpunkte aus mehr als Individuen einer socialen
Colonie von Polyzoen, vom physiologischen Standpunkte aus dagegen
mehr als Organe eines solitären Individuums, eines Polycyttariums
aufzufassen (l. c. p. 122). Da nun diese einzelnen Centralkapseln
(nebst zugehöriger Schale) die vollständigen morphologischen Aequi-
valente der vielkammerigen Polythalamien sind, da z. B. die Tremato-
disciden den Soritiden, die Stichocyriden den Nodosariden unter den
Polythalamien vollständig entsprechen, so können die letzteren keine
wirklichen Colonieen sein, wie wir schon in der dort angehängten
Kritik der Carpenterschen Anschauung gezeigt haben (l. c. p. 568).

Sehr merkwürdig und instructiv für die wichtige Frage von der
organischen Individualität sind die Spongien, bei denen dieselbe in
sehr verschiedenem Grade entwickelt erscheint. Während die älteren
Beobachter jeden zusammenhängenden, einfachen oder verästelten
Schwammstock für ein Individuum hielten, waren diejenigen, welche
bei den Pflanzen den Spross für das eigentliche Individuum ansahen,
mehr geneigt, dieselbe Auffassung auch auf die verästelten Spongien
anzuwenden und jeden Zweig, jede Seitenaxe für ein Individuum zu
halten. Als man aber in neuerer Zeit die amoeboiden Urzellen kennen
lernte, welche das ganze Skelet der Schwammstöcke überziehen und
ihre Maschen ausfüllen, glaubte man in diesen Amoeboiden die eigent-
lichen Individuen finden, und demgemäss die ganzen Schwämme für
Colonieen von Rhizopoden halten zu müssen. Gegenüber dieser be-
sonders von Perty vertretenen Ansicht hielten die meisten Neueren,
besonders Dujardin, und derjenige Anatom, dem wir die trefflichsten
Untersuchungen über die Entwickelung der Poriferen zu verdanken haben,
Lieberkühn, die Auffassung fest, dass der ganze (gleichviel ob einfache
oder verästelte) Schwammstock ein einziges Individuum repräsentire. 2)
Eine vierte, und wohl die richtigste Ansicht von der unvollständig
entwickelten Individualität der Schwämme, ist endlich von dem neuesten
Monographen der Poriferen, Oscar Schmidt, 3) ausgesprochen worden,

1) E. Haeckel, die Organisation der Radiolarien-Colonieen (Polyzoen oder
Polycyttarien?) l. c. p 116--127.
2) Lieberkühn in Müller's Archiv für Anatomie und Phys. 1856 p. 512.
3) Oscar Schmidt, Supplement zu den Spongien des adriatischen Meeres,
1864, p. 17.

IV. Verschiedene Auffassungen des protistischen Individuums.
ten Thierstöcken anderer Stämme (z. B. Anthozoen) analog sind.
Derartige echte Colonieen (Cormen) finden sich vor bei der höher
entwickelten Rhizopoden-Klasse der Radiolarien, welche theils aus
solitären, einzeln lebenden, theils aus socialen, gesellig verbundenen
Individuen besteht. Wie wir in unserer Monographie der Radiolarien 1)
gezeigt haben, sind die einzelnen „Centralkapseln“ oder „Nester“ der
letzteren (der Collozoen, Sphaerozoen und Collosphaeren) vom mor-
phologischen Standpunkte aus mehr als Individuen einer socialen
Colonie von Polyzoen, vom physiologischen Standpunkte aus dagegen
mehr als Organe eines solitären Individuums, eines Polycyttariums
aufzufassen (l. c. p. 122). Da nun diese einzelnen Centralkapseln
(nebst zugehöriger Schale) die vollständigen morphologischen Aequi-
valente der vielkammerigen Polythalamien sind, da z. B. die Tremato-
disciden den Soritiden, die Stichocyriden den Nodosariden unter den
Polythalamien vollständig entsprechen, so können die letzteren keine
wirklichen Colonieen sein, wie wir schon in der dort angehängten
Kritik der Carpenterschen Anschauung gezeigt haben (l. c. p. 568).

Sehr merkwürdig und instructiv für die wichtige Frage von der
organischen Individualität sind die Spongien, bei denen dieselbe in
sehr verschiedenem Grade entwickelt erscheint. Während die älteren
Beobachter jeden zusammenhängenden, einfachen oder verästelten
Schwammstock für ein Individuum hielten, waren diejenigen, welche
bei den Pflanzen den Spross für das eigentliche Individuum ansahen,
mehr geneigt, dieselbe Auffassung auch auf die verästelten Spongien
anzuwenden und jeden Zweig, jede Seitenaxe für ein Individuum zu
halten. Als man aber in neuerer Zeit die amoeboiden Urzellen kennen
lernte, welche das ganze Skelet der Schwammstöcke überziehen und
ihre Maschen ausfüllen, glaubte man in diesen Amoeboiden die eigent-
lichen Individuen finden, und demgemäss die ganzen Schwämme für
Colonieen von Rhizopoden halten zu müssen. Gegenüber dieser be-
sonders von Perty vertretenen Ansicht hielten die meisten Neueren,
besonders Dujardin, und derjenige Anatom, dem wir die trefflichsten
Untersuchungen über die Entwickelung der Poriferen zu verdanken haben,
Lieberkühn, die Auffassung fest, dass der ganze (gleichviel ob einfache
oder verästelte) Schwammstock ein einziges Individuum repräsentire. 2)
Eine vierte, und wohl die richtigste Ansicht von der unvollständig
entwickelten Individualität der Schwämme, ist endlich von dem neuesten
Monographen der Poriferen, Oscar Schmidt, 3) ausgesprochen worden,

1) E. Haeckel, die Organisation der Radiolarien-Colonieen (Polyzoen oder
Polycyttarien?) l. c. p 116—127.
2) Lieberkühn in Müller’s Archiv für Anatomie und Phys. 1856 p. 512.
3) Oscar Schmidt, Supplement zu den Spongien des adriatischen Meeres,
1864, p. 17.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0292" n="253"/><fw place="top" type="header">IV. Verschiedene Auffassungen des protistischen Individuums.</fw><lb/>
ten Thierstöcken anderer Stämme (z. B. Anthozoen) analog sind.<lb/>
Derartige echte Colonieen (Cormen) finden sich vor bei der höher<lb/>
entwickelten Rhizopoden-Klasse der Radiolarien, welche theils aus<lb/>
solitären, einzeln lebenden, theils aus socialen, gesellig verbundenen<lb/>
Individuen besteht. Wie wir in unserer Monographie der Radiolarien <note place="foot" n="1)">E. <hi rendition="#g">Haeckel,</hi> die Organisation der Radiolarien-Colonieen (Polyzoen oder<lb/>
Polycyttarien?) l. c. p 116&#x2014;127.</note><lb/>
gezeigt haben, sind die einzelnen &#x201E;Centralkapseln&#x201C; oder &#x201E;Nester&#x201C; der<lb/>
letzteren (der Collozoen, Sphaerozoen und Collosphaeren) vom mor-<lb/>
phologischen Standpunkte aus mehr als Individuen einer socialen<lb/>
Colonie von Polyzoen, vom physiologischen Standpunkte aus dagegen<lb/>
mehr als Organe eines solitären Individuums, eines Polycyttariums<lb/>
aufzufassen (l. c. p. 122). Da nun diese einzelnen Centralkapseln<lb/>
(nebst zugehöriger Schale) die vollständigen morphologischen Aequi-<lb/>
valente der vielkammerigen Polythalamien sind, da z. B. die Tremato-<lb/>
disciden den Soritiden, die Stichocyriden den Nodosariden unter den<lb/>
Polythalamien vollständig entsprechen, so können die letzteren keine<lb/>
wirklichen Colonieen sein, wie wir schon in der dort angehängten<lb/>
Kritik der <hi rendition="#g">Carpenters</hi>chen Anschauung gezeigt haben (l. c. p. 568).</p><lb/>
            <p>Sehr merkwürdig und instructiv für die wichtige Frage von der<lb/>
organischen Individualität sind die <hi rendition="#g">Spongien,</hi> bei denen dieselbe in<lb/>
sehr verschiedenem Grade entwickelt erscheint. Während die älteren<lb/>
Beobachter jeden zusammenhängenden, einfachen oder verästelten<lb/>
Schwammstock für ein Individuum hielten, waren diejenigen, welche<lb/>
bei den Pflanzen den Spross für das eigentliche Individuum ansahen,<lb/>
mehr geneigt, dieselbe Auffassung auch auf die verästelten Spongien<lb/>
anzuwenden und jeden Zweig, jede Seitenaxe für ein Individuum zu<lb/>
halten. Als man aber in neuerer Zeit die amoeboiden Urzellen kennen<lb/>
lernte, welche das ganze Skelet der Schwammstöcke überziehen und<lb/>
ihre Maschen ausfüllen, glaubte man in diesen Amoeboiden die eigent-<lb/>
lichen Individuen finden, und demgemäss die ganzen Schwämme für<lb/>
Colonieen von Rhizopoden halten zu müssen. Gegenüber dieser be-<lb/>
sonders von <hi rendition="#g">Perty</hi> vertretenen Ansicht hielten die meisten Neueren,<lb/>
besonders <hi rendition="#g">Dujardin,</hi> und derjenige Anatom, dem wir die trefflichsten<lb/>
Untersuchungen über die Entwickelung der Poriferen zu verdanken haben,<lb/><hi rendition="#g">Lieberkühn,</hi> die Auffassung fest, dass der ganze (gleichviel ob einfache<lb/>
oder verästelte) Schwammstock ein einziges Individuum repräsentire. <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#g">Lieberkühn</hi> in <hi rendition="#g">Müller&#x2019;s</hi> Archiv für Anatomie und Phys. 1856 p. 512.</note><lb/>
Eine vierte, und wohl die richtigste Ansicht von der unvollständig<lb/>
entwickelten Individualität der Schwämme, ist endlich von dem neuesten<lb/>
Monographen der Poriferen, <hi rendition="#g">Oscar Schmidt,</hi> <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#g">Oscar Schmidt,</hi> Supplement zu den Spongien des adriatischen Meeres,<lb/>
1864, p. 17.</note> ausgesprochen worden,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[253/0292] IV. Verschiedene Auffassungen des protistischen Individuums. ten Thierstöcken anderer Stämme (z. B. Anthozoen) analog sind. Derartige echte Colonieen (Cormen) finden sich vor bei der höher entwickelten Rhizopoden-Klasse der Radiolarien, welche theils aus solitären, einzeln lebenden, theils aus socialen, gesellig verbundenen Individuen besteht. Wie wir in unserer Monographie der Radiolarien 1) gezeigt haben, sind die einzelnen „Centralkapseln“ oder „Nester“ der letzteren (der Collozoen, Sphaerozoen und Collosphaeren) vom mor- phologischen Standpunkte aus mehr als Individuen einer socialen Colonie von Polyzoen, vom physiologischen Standpunkte aus dagegen mehr als Organe eines solitären Individuums, eines Polycyttariums aufzufassen (l. c. p. 122). Da nun diese einzelnen Centralkapseln (nebst zugehöriger Schale) die vollständigen morphologischen Aequi- valente der vielkammerigen Polythalamien sind, da z. B. die Tremato- disciden den Soritiden, die Stichocyriden den Nodosariden unter den Polythalamien vollständig entsprechen, so können die letzteren keine wirklichen Colonieen sein, wie wir schon in der dort angehängten Kritik der Carpenterschen Anschauung gezeigt haben (l. c. p. 568). Sehr merkwürdig und instructiv für die wichtige Frage von der organischen Individualität sind die Spongien, bei denen dieselbe in sehr verschiedenem Grade entwickelt erscheint. Während die älteren Beobachter jeden zusammenhängenden, einfachen oder verästelten Schwammstock für ein Individuum hielten, waren diejenigen, welche bei den Pflanzen den Spross für das eigentliche Individuum ansahen, mehr geneigt, dieselbe Auffassung auch auf die verästelten Spongien anzuwenden und jeden Zweig, jede Seitenaxe für ein Individuum zu halten. Als man aber in neuerer Zeit die amoeboiden Urzellen kennen lernte, welche das ganze Skelet der Schwammstöcke überziehen und ihre Maschen ausfüllen, glaubte man in diesen Amoeboiden die eigent- lichen Individuen finden, und demgemäss die ganzen Schwämme für Colonieen von Rhizopoden halten zu müssen. Gegenüber dieser be- sonders von Perty vertretenen Ansicht hielten die meisten Neueren, besonders Dujardin, und derjenige Anatom, dem wir die trefflichsten Untersuchungen über die Entwickelung der Poriferen zu verdanken haben, Lieberkühn, die Auffassung fest, dass der ganze (gleichviel ob einfache oder verästelte) Schwammstock ein einziges Individuum repräsentire. 2) Eine vierte, und wohl die richtigste Ansicht von der unvollständig entwickelten Individualität der Schwämme, ist endlich von dem neuesten Monographen der Poriferen, Oscar Schmidt, 3) ausgesprochen worden, 1) E. Haeckel, die Organisation der Radiolarien-Colonieen (Polyzoen oder Polycyttarien?) l. c. p 116—127. 2) Lieberkühn in Müller’s Archiv für Anatomie und Phys. 1856 p. 512. 3) Oscar Schmidt, Supplement zu den Spongien des adriatischen Meeres, 1864, p. 17.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/292
Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/292>, abgerufen am 11.06.2024.