Idee der Einheit als gemeinsames Band zu Grunde liegt. Wenn man von der einheitlichen Erscheinungsform der Individuen absieht, so bleibt für den Begriff des Individuums weiter Nichts übrig.
Hieraus folgt bereits, dass der Begriff des Individuums kei- ner weiteren Definition fähig ist, dass er keine absolute, sondern nur eine relative Bedeutung besitzt. Streng genommen ist das Indivi- duum eigentlich gar kein Begriff, sondern nur die rein anschauliche Auffassung irgend eines gegebenen Begriffes als Einheit unter einer Vielheit von gleichen Begriffen. So hat schon Schleiden1) das In- dividuum als "die rein anschauliche Auffassung irgend eines wirk- lichen Gegenstandes unter einem gegebenen Artbegriff" definirt. Erst die Beziehung zu diesem Artbegriff lässt das Individuum als solches erscheinen. Dasjenige, was im gewöhnlichen Leben am häufigsten als Individuum bezeichnet wird, der einzelne Mensch, oder die Person, ist ein Individuum unter dem Artbegriff seiner Nation; die Nation ist ein Individuum unter den übrigen Nationen ihrer Rasse; die Rassen sind Individuen unter der Menschen-Art; die Men- schen-Art ist ein Individuum unter den verschiedenen Säugethier-Arten u. s. w. Erst wenn der Artbegriff vollkommen definirt ist, von dessen Individuen man spricht, erhält das Individuum eine bestimmte Bedeu- tung. Es tritt uns dann die Individualität als eine einheitliche Er- scheinung entgegen, welche nicht getheilt werden kann, ohne ihren Character, ihr eigenstes Wesen zu zerstören.
Ueber das gegenseitige Verhältniss der verschiedenartigen Indivi- dualitäten, die uns in den concreten Naturkörpern entgegentreten, über ihr coordinirtes und subordinirtes Verhältniss im Allgemeinen existiren noch keine zusammenhängenden Untersuchungen. Desto mehr hat man sich bemüht, bestimmte Erscheinungsformen der Natur- körper kat' exokhen als "eigentliche" Individuen zu bestimmen. Unter den Anorganen liess sich eine solche absolute Individualität leicht in den Krystallen finden. Unter den Organismen hat man bei den Thieren meistens keine Schwierigkeiten gefunden, indem man als typisches Individuum die sowohl physiologisch als morphologisch vollkommen abgeschlossene und einheitliche Erscheinung auffasste, in welcher der einzelne Mensch und alle übrigen Wirbelthiere, wie die grosse Mehrzahl der höheren Thiere überhaupt, auftreten, und welche wir vorläufig als Person (Prosopon) bezeichnen wollen. Viel schwieriger erschien dagegen die Feststellung eines solchen absoluten Individuums im Pflanzenreiche, woher es sich erklärt, dass die Botaniker am meisten sich mit dieser Frage beschäftigt haben. Als diejenige Einheitsform,
1)Schleiden, Grundzüge der wissensch. Botan. III. Aufl. 1850. II. p. 4.
Begriff und Aufgabe der Tectologie.
Idee der Einheit als gemeinsames Band zu Grunde liegt. Wenn man von der einheitlichen Erscheinungsform der Individuen absieht, so bleibt für den Begriff des Individuums weiter Nichts übrig.
Hieraus folgt bereits, dass der Begriff des Individuums kei- ner weiteren Definition fähig ist, dass er keine absolute, sondern nur eine relative Bedeutung besitzt. Streng genommen ist das Indivi- duum eigentlich gar kein Begriff, sondern nur die rein anschauliche Auffassung irgend eines gegebenen Begriffes als Einheit unter einer Vielheit von gleichen Begriffen. So hat schon Schleiden1) das In- dividuum als „die rein anschauliche Auffassung irgend eines wirk- lichen Gegenstandes unter einem gegebenen Artbegriff“ definirt. Erst die Beziehung zu diesem Artbegriff lässt das Individuum als solches erscheinen. Dasjenige, was im gewöhnlichen Leben am häufigsten als Individuum bezeichnet wird, der einzelne Mensch, oder die Person, ist ein Individuum unter dem Artbegriff seiner Nation; die Nation ist ein Individuum unter den übrigen Nationen ihrer Rasse; die Rassen sind Individuen unter der Menschen-Art; die Men- schen-Art ist ein Individuum unter den verschiedenen Säugethier-Arten u. s. w. Erst wenn der Artbegriff vollkommen definirt ist, von dessen Individuen man spricht, erhält das Individuum eine bestimmte Bedeu- tung. Es tritt uns dann die Individualität als eine einheitliche Er- scheinung entgegen, welche nicht getheilt werden kann, ohne ihren Character, ihr eigenstes Wesen zu zerstören.
Ueber das gegenseitige Verhältniss der verschiedenartigen Indivi- dualitäten, die uns in den concreten Naturkörpern entgegentreten, über ihr coordinirtes und subordinirtes Verhältniss im Allgemeinen existiren noch keine zusammenhängenden Untersuchungen. Desto mehr hat man sich bemüht, bestimmte Erscheinungsformen der Natur- körper κατ᾽ ἐξοχήν als „eigentliche“ Individuen zu bestimmen. Unter den Anorganen liess sich eine solche absolute Individualität leicht in den Krystallen finden. Unter den Organismen hat man bei den Thieren meistens keine Schwierigkeiten gefunden, indem man als typisches Individuum die sowohl physiologisch als morphologisch vollkommen abgeschlossene und einheitliche Erscheinung auffasste, in welcher der einzelne Mensch und alle übrigen Wirbelthiere, wie die grosse Mehrzahl der höheren Thiere überhaupt, auftreten, und welche wir vorläufig als Person (Prosopon) bezeichnen wollen. Viel schwieriger erschien dagegen die Feststellung eines solchen absoluten Individuums im Pflanzenreiche, woher es sich erklärt, dass die Botaniker am meisten sich mit dieser Frage beschäftigt haben. Als diejenige Einheitsform,
1)Schleiden, Grundzüge der wissensch. Botan. III. Aufl. 1850. II. p. 4.
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Begriff und Aufgabe der Tectologie.
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absieht, so bleibt für den Begriff des Individuums weiter Nichts
übrig.
Hieraus folgt bereits, dass der Begriff des Individuums kei-
ner weiteren Definition fähig ist, dass er keine absolute, sondern nur
eine relative Bedeutung besitzt. Streng genommen ist das Indivi-
duum eigentlich gar kein Begriff, sondern nur die rein anschauliche
Auffassung irgend eines gegebenen Begriffes als Einheit unter einer
Vielheit von gleichen Begriffen. So hat schon Schleiden 1) das In-
dividuum als „die rein anschauliche Auffassung irgend eines wirk-
lichen Gegenstandes unter einem gegebenen Artbegriff“ definirt.
Erst die Beziehung zu diesem Artbegriff lässt das Individuum als
solches erscheinen. Dasjenige, was im gewöhnlichen Leben am
häufigsten als Individuum bezeichnet wird, der einzelne Mensch, oder
die Person, ist ein Individuum unter dem Artbegriff seiner Nation;
die Nation ist ein Individuum unter den übrigen Nationen ihrer
Rasse; die Rassen sind Individuen unter der Menschen-Art; die Men-
schen-Art ist ein Individuum unter den verschiedenen Säugethier-Arten
u. s. w. Erst wenn der Artbegriff vollkommen definirt ist, von dessen
Individuen man spricht, erhält das Individuum eine bestimmte Bedeu-
tung. Es tritt uns dann die Individualität als eine einheitliche Er-
scheinung entgegen, welche nicht getheilt werden kann, ohne ihren
Character, ihr eigenstes Wesen zu zerstören.
Ueber das gegenseitige Verhältniss der verschiedenartigen Indivi-
dualitäten, die uns in den concreten Naturkörpern entgegentreten,
über ihr coordinirtes und subordinirtes Verhältniss im Allgemeinen
existiren noch keine zusammenhängenden Untersuchungen. Desto
mehr hat man sich bemüht, bestimmte Erscheinungsformen der Natur-
körper κατ᾽ ἐξοχήν als „eigentliche“ Individuen zu bestimmen. Unter den
Anorganen liess sich eine solche absolute Individualität leicht in den
Krystallen finden. Unter den Organismen hat man bei den Thieren
meistens keine Schwierigkeiten gefunden, indem man als typisches
Individuum die sowohl physiologisch als morphologisch vollkommen
abgeschlossene und einheitliche Erscheinung auffasste, in welcher
der einzelne Mensch und alle übrigen Wirbelthiere, wie die grosse
Mehrzahl der höheren Thiere überhaupt, auftreten, und welche wir
vorläufig als Person (Prosopon) bezeichnen wollen. Viel schwieriger
erschien dagegen die Feststellung eines solchen absoluten Individuums
im Pflanzenreiche, woher es sich erklärt, dass die Botaniker am meisten
sich mit dieser Frage beschäftigt haben. Als diejenige Einheitsform,
1) Schleiden, Grundzüge der wissensch. Botan. III. Aufl. 1850. II. p. 4.
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/283>, abgerufen am 24.11.2024.
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