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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Thiere und Pflanzen.

Wenn wir nun von diesen festen Gesichtspunkten aus die Zahl
der Stämme, die in jedem der drei organischen Reiche sich mit eini-
ger Sicherheit unterscheiden lassen, bestimmen, so kommen wir zu
folgendem System der Phylen: A. Thierreich: 1) Vertebrata
(Pachycardia et Leptocardia). 2) Mollusca (Cephalota et Acephala).
3) Articulata (Arthropoda, Vermes et Infusoria). 4) Echinodermata.
5) Coelenterata. B. Protistenreich: 1) Spongiae (Porifera). 2) Nocti-
lucae
(Myxocystoda). 3) Rhizopoda (Radiolaria, Actinosphaerida et
Acyttaria). 4) Protoplasta (Arcellida, Amoebida et Gregarinae. 5) Mo-
neres
(Protamoebae, Protogenida et Vibriones). 6) Flagellata. 7) Dia-
tomea.
8. Myxomycetes (Mycetozoa). C. Pflanzenreich: 1) Phyco-
phyta
(Algae pro parte). 2) Characeae. 3) Nematophyta (Fungi et
Lichenes). 4) Cormophyta (Phanerogamae omnes et Cryptogamae
exclusis Nematophytis, Characeis et Phycophytis).

V. Characteristik der Stämme und Reiche.

Da nach unserer Ansicht jedes der drei Organismen-Reiche aus
mehreren Phylen besteht, so muss natürlich der systematische Werth,
die classificatorische Bedeutung der Reiche gänzlich von der der
Stämme verschieden sein. Der Stamm ist eine natürliche Gruppe,
eine concrete Einheit, das Reich dagegen eine künstliche Gruppe, eine
abstracte Einheit. Alle Glieder und über einander geordneten Kate-
gorieen (Klassen, Ordnungen, Gattungen, Arten etc.) eines Stammes
sind innerhalb desselben durch das continuirliche Band der gemein-
samen Abstammung zu einem untrennbaren realen Ganzen verbunden,
durch Homologie. Alle Stämme eines Reiches dagegen sind nur künst-
lich durch gewisse Aehnlichkeiten zu einer idealen Einheit zusammen-
gestellt, durch Analogie. Daher hat denn auch der Versuch einer
Characteristik oder differentiellen Diagnostik einen ganz verschiedenen
Werth bei den Reichen und bei den Stämmen. Wir werden leichter
eine umfassende künstliche Diagnose der drei organischen Reiche, als
eine erschöpfende natürliche Characteristik der einzelnen Stämme
geben können. Machen wir aber wirklich dazu den Versuch, so finden
wir alsbald, dass sowohl jene als diese in absoluter Vollkommenheit
nicht zu geben ist.

Eine erschöpfende und alle Glieder (Kategorieen) des
Stammes gleichmässig umfassende Characteristik eines
Phylon ist ganzunmöglich.
Zwar findet man in allen Lehrbüchern
solche Definitionen oder Diagnosen der grossen Hauptpruppen, welche
im Ganzen unseren Stämmen entsprechen, und diese Diagnosen haben
oft den vollen Schein einer abgerundeten Definition. Auch ist es in
der That nicht schwer, manche Phylen in dem Umfange, wie wir
sie jetzt kennen,
vortrefflich durch bestimmte und scharf unter-

Thiere und Pflanzen.

Wenn wir nun von diesen festen Gesichtspunkten aus die Zahl
der Stämme, die in jedem der drei organischen Reiche sich mit eini-
ger Sicherheit unterscheiden lassen, bestimmen, so kommen wir zu
folgendem System der Phylen: A. Thierreich: 1) Vertebrata
(Pachycardia et Leptocardia). 2) Mollusca (Cephalota et Acephala).
3) Articulata (Arthropoda, Vermes et Infusoria). 4) Echinodermata.
5) Coelenterata. B. Protistenreich: 1) Spongiae (Porifera). 2) Nocti-
lucae
(Myxocystoda). 3) Rhizopoda (Radiolaria, Actinosphaerida et
Acyttaria). 4) Protoplasta (Arcellida, Amoebida et Gregarinae. 5) Mo-
neres
(Protamoebae, Protogenida et Vibriones). 6) Flagellata. 7) Dia-
tomea.
8. Myxomycetes (Mycetozoa). C. Pflanzenreich: 1) Phyco-
phyta
(Algae pro parte). 2) Characeae. 3) Nematophyta (Fungi et
Lichenes). 4) Cormophyta (Phanerogamae omnes et Cryptogamae
exclusis Nematophytis, Characeis et Phycophytis).

V. Characteristik der Stämme und Reiche.

Da nach unserer Ansicht jedes der drei Organismen-Reiche aus
mehreren Phylen besteht, so muss natürlich der systematische Werth,
die classificatorische Bedeutung der Reiche gänzlich von der der
Stämme verschieden sein. Der Stamm ist eine natürliche Gruppe,
eine concrete Einheit, das Reich dagegen eine künstliche Gruppe, eine
abstracte Einheit. Alle Glieder und über einander geordneten Kate-
gorieen (Klassen, Ordnungen, Gattungen, Arten etc.) eines Stammes
sind innerhalb desselben durch das continuirliche Band der gemein-
samen Abstammung zu einem untrennbaren realen Ganzen verbunden,
durch Homologie. Alle Stämme eines Reiches dagegen sind nur künst-
lich durch gewisse Aehnlichkeiten zu einer idealen Einheit zusammen-
gestellt, durch Analogie. Daher hat denn auch der Versuch einer
Characteristik oder differentiellen Diagnostik einen ganz verschiedenen
Werth bei den Reichen und bei den Stämmen. Wir werden leichter
eine umfassende künstliche Diagnose der drei organischen Reiche, als
eine erschöpfende natürliche Characteristik der einzelnen Stämme
geben können. Machen wir aber wirklich dazu den Versuch, so finden
wir alsbald, dass sowohl jene als diese in absoluter Vollkommenheit
nicht zu geben ist.

Eine erschöpfende und alle Glieder (Kategorieen) des
Stammes gleichmässig umfassende Characteristik eines
Phylon ist ganzunmöglich.
Zwar findet man in allen Lehrbüchern
solche Definitionen oder Diagnosen der grossen Hauptpruppen, welche
im Ganzen unseren Stämmen entsprechen, und diese Diagnosen haben
oft den vollen Schein einer abgerundeten Definition. Auch ist es in
der That nicht schwer, manche Phylen in dem Umfange, wie wir
sie jetzt kennen,
vortrefflich durch bestimmte und scharf unter-

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[206/0245] Thiere und Pflanzen. Wenn wir nun von diesen festen Gesichtspunkten aus die Zahl der Stämme, die in jedem der drei organischen Reiche sich mit eini- ger Sicherheit unterscheiden lassen, bestimmen, so kommen wir zu folgendem System der Phylen: A. Thierreich: 1) Vertebrata (Pachycardia et Leptocardia). 2) Mollusca (Cephalota et Acephala). 3) Articulata (Arthropoda, Vermes et Infusoria). 4) Echinodermata. 5) Coelenterata. B. Protistenreich: 1) Spongiae (Porifera). 2) Nocti- lucae (Myxocystoda). 3) Rhizopoda (Radiolaria, Actinosphaerida et Acyttaria). 4) Protoplasta (Arcellida, Amoebida et Gregarinae. 5) Mo- neres (Protamoebae, Protogenida et Vibriones). 6) Flagellata. 7) Dia- tomea. 8. Myxomycetes (Mycetozoa). C. Pflanzenreich: 1) Phyco- phyta (Algae pro parte). 2) Characeae. 3) Nematophyta (Fungi et Lichenes). 4) Cormophyta (Phanerogamae omnes et Cryptogamae exclusis Nematophytis, Characeis et Phycophytis). V. Characteristik der Stämme und Reiche. Da nach unserer Ansicht jedes der drei Organismen-Reiche aus mehreren Phylen besteht, so muss natürlich der systematische Werth, die classificatorische Bedeutung der Reiche gänzlich von der der Stämme verschieden sein. Der Stamm ist eine natürliche Gruppe, eine concrete Einheit, das Reich dagegen eine künstliche Gruppe, eine abstracte Einheit. Alle Glieder und über einander geordneten Kate- gorieen (Klassen, Ordnungen, Gattungen, Arten etc.) eines Stammes sind innerhalb desselben durch das continuirliche Band der gemein- samen Abstammung zu einem untrennbaren realen Ganzen verbunden, durch Homologie. Alle Stämme eines Reiches dagegen sind nur künst- lich durch gewisse Aehnlichkeiten zu einer idealen Einheit zusammen- gestellt, durch Analogie. Daher hat denn auch der Versuch einer Characteristik oder differentiellen Diagnostik einen ganz verschiedenen Werth bei den Reichen und bei den Stämmen. Wir werden leichter eine umfassende künstliche Diagnose der drei organischen Reiche, als eine erschöpfende natürliche Characteristik der einzelnen Stämme geben können. Machen wir aber wirklich dazu den Versuch, so finden wir alsbald, dass sowohl jene als diese in absoluter Vollkommenheit nicht zu geben ist. Eine erschöpfende und alle Glieder (Kategorieen) des Stammes gleichmässig umfassende Characteristik eines Phylon ist ganzunmöglich. Zwar findet man in allen Lehrbüchern solche Definitionen oder Diagnosen der grossen Hauptpruppen, welche im Ganzen unseren Stämmen entsprechen, und diese Diagnosen haben oft den vollen Schein einer abgerundeten Definition. Auch ist es in der That nicht schwer, manche Phylen in dem Umfange, wie wir sie jetzt kennen, vortrefflich durch bestimmte und scharf unter-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/245>, abgerufen am 24.11.2024.