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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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grad zweier Organismen, d. h. den Grad des Abstands, den sie im
System von einander haben, als den Maassstab für ihren wirklichen
genealogischen Divergenzgrad, d. h. den Grad des Abstandes,
den sie von einander hinsichtlich ihrer gemeinsamen Abstammung von
den gleichen Stammformen haben. Das natürliche System der
Organismen ist für uns ihr natürlicher Stammbaum, ihre
genealogische Verwandtschaftstafel.
Zur Erkenntniss derselben
gelangen wir, wie wir im fünften Buche zeigen werden, durch die
Vergleichung der überaus wichtigen dreifachen parallelen Stufenfolge,
welche uns überall die palaeontologische, die embryologische und die
systematische Entwickelung der Organismen darbietet.

Wie unten bewiesen werden wird, können wir auf diesem sicheren
Wege die gemeinsame Entwickelung der divergentesten Organismen
aus einer und derselben Stammform bis in die frühesten Zeiten hinauf
verfolgen. Wir gelangen so z. B. zu dem äusserst wichtigen Resul-
tate, dass alle Wirbelthiere, den Menschen nicht ausgeschlossen, von
einer und derselben gemeinsamen Stammform entsprossen sind; das-
selbe gilt von allen Coelenteraten, dasselbe von allen Echinodermen
u. s. w. Kurz, wir gelangen auf dem bezeichneten Wege zu der
Ueberzeugung, dass alle die unendlich mannichfaltigen organischen
Formen, welche zu irgend einer Zeit auf der Erde gelebt haben, die
äusserst differenzirte Nachkommenschaft von einer sehr geringen An-
zahl von einfachen Stammformen sind; und aus den im vorigen Capitel
angeführten Gründen können wir von der Natur dieser letzten ein-
fachsten Urformen jedes Stammes aussagen, dass dieselben Organismen
der allereinfachsten Art gewesen sein müssen, homogene, structurlose
Urwesen, gleich der Protamoeba, und dem Protogenes, Moneren,
welche durch Autogonie entstanden waren. Dieselben stellten die
organischen Individuen erster Ordnung (Plastiden) in der denkbar ein-
fachsten Form dar, da ihr structurloser und formloser, in seiner ge-
sammten Eiweissmasse gleichartiger Plasmakörper noch keinerlei diffe-
rente Theile besass. Erst ganz allmählig und langsam konnten sich
aus diesen ersten Moneren, die sich durch Theilung fortpflanzten, diffe-
renzirte, heterogene Formelemente entwickeln, welche sich bald durch
Sonderung von festerer Hülle und weicherem Inhalt zu einer Lepo-
cytode (gleich der kernlosen "Fadenzelle" eines Pilzes), bald durch
Differenzirung von festerem Kern und weicherem Zellstoff zu einer
Urzelle (gleich einer nackten Schwärmspore oder einer kernhaltigen
Amoebe), bald durch Scheidung von Hülle, Kern und Plasma zu einer
Hautzelle (gleich einer einzelligen Alge) gestalteten. Aus diesen ent-
wickelte dann weiterhin die natürliche Zuchtwahl im Kampfe um das
Dasein die ganze reiche Mannichfaltigkeit der zahllosen Formen, die

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grad zweier Organismen, d. h. den Grad des Abstands, den sie im
System von einander haben, als den Maassstab für ihren wirklichen
genealogischen Divergenzgrad, d. h. den Grad des Abstandes,
den sie von einander hinsichtlich ihrer gemeinsamen Abstammung von
den gleichen Stammformen haben. Das natürliche System der
Organismen ist für uns ihr natürlicher Stammbaum, ihre
genealogische Verwandtschaftstafel.
Zur Erkenntniss derselben
gelangen wir, wie wir im fünften Buche zeigen werden, durch die
Vergleichung der überaus wichtigen dreifachen parallelen Stufenfolge,
welche uns überall die palaeontologische, die embryologische und die
systematische Entwickelung der Organismen darbietet.

Wie unten bewiesen werden wird, können wir auf diesem sicheren
Wege die gemeinsame Entwickelung der divergentesten Organismen
aus einer und derselben Stammform bis in die frühesten Zeiten hinauf
verfolgen. Wir gelangen so z. B. zu dem äusserst wichtigen Resul-
tate, dass alle Wirbelthiere, den Menschen nicht ausgeschlossen, von
einer und derselben gemeinsamen Stammform entsprossen sind; das-
selbe gilt von allen Coelenteraten, dasselbe von allen Echinodermen
u. s. w. Kurz, wir gelangen auf dem bezeichneten Wege zu der
Ueberzeugung, dass alle die unendlich mannichfaltigen organischen
Formen, welche zu irgend einer Zeit auf der Erde gelebt haben, die
äusserst differenzirte Nachkommenschaft von einer sehr geringen An-
zahl von einfachen Stammformen sind; und aus den im vorigen Capitel
angeführten Gründen können wir von der Natur dieser letzten ein-
fachsten Urformen jedes Stammes aussagen, dass dieselben Organismen
der allereinfachsten Art gewesen sein müssen, homogene, structurlose
Urwesen, gleich der Protamoeba, und dem Protogenes, Moneren,
welche durch Autogonie entstanden waren. Dieselben stellten die
organischen Individuen erster Ordnung (Plastiden) in der denkbar ein-
fachsten Form dar, da ihr structurloser und formloser, in seiner ge-
sammten Eiweissmasse gleichartiger Plasmakörper noch keinerlei diffe-
rente Theile besass. Erst ganz allmählig und langsam konnten sich
aus diesen ersten Moneren, die sich durch Theilung fortpflanzten, diffe-
renzirte, heterogene Formelemente entwickeln, welche sich bald durch
Sonderung von festerer Hülle und weicherem Inhalt zu einer Lepo-
cytode (gleich der kernlosen „Fadenzelle“ eines Pilzes), bald durch
Differenzirung von festerem Kern und weicherem Zellstoff zu einer
Urzelle (gleich einer nackten Schwärmspore oder einer kernhaltigen
Amoebe), bald durch Scheidung von Hülle, Kern und Plasma zu einer
Hautzelle (gleich einer einzelligen Alge) gestalteten. Aus diesen ent-
wickelte dann weiterhin die natürliche Zuchtwahl im Kampfe um das
Dasein die ganze reiche Mannichfaltigkeit der zahllosen Formen, die

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[196/0235] Thiere und Pflanzen. grad zweier Organismen, d. h. den Grad des Abstands, den sie im System von einander haben, als den Maassstab für ihren wirklichen genealogischen Divergenzgrad, d. h. den Grad des Abstandes, den sie von einander hinsichtlich ihrer gemeinsamen Abstammung von den gleichen Stammformen haben. Das natürliche System der Organismen ist für uns ihr natürlicher Stammbaum, ihre genealogische Verwandtschaftstafel. Zur Erkenntniss derselben gelangen wir, wie wir im fünften Buche zeigen werden, durch die Vergleichung der überaus wichtigen dreifachen parallelen Stufenfolge, welche uns überall die palaeontologische, die embryologische und die systematische Entwickelung der Organismen darbietet. Wie unten bewiesen werden wird, können wir auf diesem sicheren Wege die gemeinsame Entwickelung der divergentesten Organismen aus einer und derselben Stammform bis in die frühesten Zeiten hinauf verfolgen. Wir gelangen so z. B. zu dem äusserst wichtigen Resul- tate, dass alle Wirbelthiere, den Menschen nicht ausgeschlossen, von einer und derselben gemeinsamen Stammform entsprossen sind; das- selbe gilt von allen Coelenteraten, dasselbe von allen Echinodermen u. s. w. Kurz, wir gelangen auf dem bezeichneten Wege zu der Ueberzeugung, dass alle die unendlich mannichfaltigen organischen Formen, welche zu irgend einer Zeit auf der Erde gelebt haben, die äusserst differenzirte Nachkommenschaft von einer sehr geringen An- zahl von einfachen Stammformen sind; und aus den im vorigen Capitel angeführten Gründen können wir von der Natur dieser letzten ein- fachsten Urformen jedes Stammes aussagen, dass dieselben Organismen der allereinfachsten Art gewesen sein müssen, homogene, structurlose Urwesen, gleich der Protamoeba, und dem Protogenes, Moneren, welche durch Autogonie entstanden waren. Dieselben stellten die organischen Individuen erster Ordnung (Plastiden) in der denkbar ein- fachsten Form dar, da ihr structurloser und formloser, in seiner ge- sammten Eiweissmasse gleichartiger Plasmakörper noch keinerlei diffe- rente Theile besass. Erst ganz allmählig und langsam konnten sich aus diesen ersten Moneren, die sich durch Theilung fortpflanzten, diffe- renzirte, heterogene Formelemente entwickeln, welche sich bald durch Sonderung von festerer Hülle und weicherem Inhalt zu einer Lepo- cytode (gleich der kernlosen „Fadenzelle“ eines Pilzes), bald durch Differenzirung von festerem Kern und weicherem Zellstoff zu einer Urzelle (gleich einer nackten Schwärmspore oder einer kernhaltigen Amoebe), bald durch Scheidung von Hülle, Kern und Plasma zu einer Hautzelle (gleich einer einzelligen Alge) gestalteten. Aus diesen ent- wickelte dann weiterhin die natürliche Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein die ganze reiche Mannichfaltigkeit der zahllosen Formen, die

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/235>, abgerufen am 25.11.2024.