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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Schöpfung und Selbstzeugung.
sammter Erdkörper in früherer Zeit vermöge eines sehr hohen Hitzegrades
sich in gasförmigem Aggregatzustande befunden habe, und dass dann dieser
ungeheure Gasball, in Folge allmähliger Abkühlung, in den feurig-flüssigen
Zustand übergegangen sei. Durch weitere Abgabe beträchtlicher Wärme-
massen an den kalten Weltraum erkaltete der feurig-flüssige Ball, welcher
durch beständige Rotation um seine Axe die Sphaeroid-Form annahm,
immer mehr und es ging zuletzt die Rinde desselben aus dem flüssigen in
den festen Aggregatzustand über, während der von dieser Rinde umschlos-
sene Kern in geschmolzenem Zustande im Innern zurückblieb. Erst nach-
dem die Rinde der Erde sich bis zu einem solchen Grade abgekühlt hatte,
dass der in der Atmosphäre ringsum suspendirte Wasserdampf sich in
tropfbar-flüssiger Form niederschlagen konnte, wurde die Erdrinde bewohn-
bar, wurde es möglich, dass belebte Naturkörper auf derselben auftraten,
wurde es möglich, dass Leben entstand.

Diese Theorie der Erdbildung, welche von Kant und Laplace auf
die einfachsten Gesetze der Anziehung und Abstossung der Materie zurück-
geführt und dadurch ebenso fest als einfach causal begründet wurde, stimmt
mit allen unseren empirischen Kenntnissen, allen Erfahrungen vom Bau und
von der Entwickelung der Erde so vollständig überein, dass sie von allen
Naturforschern ausnahmslos angenommen ist. Nun folgt aber hieraus un-
mittelbar als die erste, nothwendigste und für uns wichtigste Consequenz,
dass das Leben auf der Erde zu irgend einer Zeit einen Anfang
hatte,
oder dass, mit anderen Worten, in irgend einem Zeitpunkt zum
ersten Male anorganische Substanz in organische überging und sich zugleich
in Form von Organismen individualisirte. Diese Folgerung, welche wir hier
als die unentbehrliche Hypothese von der Autogonie oder Selbst-
zeugung
näher formuliren und begründen wollen, erscheint uns so unab-
weisbar nothwendig, dass wir dieselbe unbedingt annehmen müssen und
uns zunächst nur zu verständigen haben werden über die mögliche Art
und Weise dieses Processes und über die Natur der daraus hervorgegange-
nen Organismen, über welche directe Erfahrungskenntnisse uns nicht zu
Gebote stehen.

Hier kommen wir nun zurück auf die wichtigen allgemeinen Resultate
des vorhergehenden Kapitels, in welchem wir zu zeigen versucht haben,
dass die Differenz zwischen den Organismen und den Anorganen nicht so
gross, und vor Allem nicht so absolut ist, wie dies gewöhnlich hingestellt
wird. Wie dort nachgewiesen wurde, unterscheiden sich die vollkommensten
anorganischen Individuen, die Krystalle, von den unvollkommensten orga-
nischen Individuen, den Moneren, wesentlich hinsichtlich ihrer stofflichen
Zusammensetzung dadurch, dass die Atome der Elemente dort vorwiegend
zu einfacheren ("binären"), hier dagegen durch Einwirkung des Kohlen-
stoffs zu sehr complicirten und leicht zersetzbaren Verbindungen vereinigt
auftreteu; und dass der Aggregatzustand der Materie dort ein fester, hier
ein festflüssiger ist. Hieraus folgt dann unmittelbar, dass der Krystall nur
durch Apposition von aussen wachsen, und also auch nur äusserlich sich
anpassen und verändern kann, während das Moner durch Intussusception
nach innen hinein wachsen, und also auch innerlich sich anpassen und ver-

Schöpfung und Selbstzeugung.
sammter Erdkörper in früherer Zeit vermöge eines sehr hohen Hitzegrades
sich in gasförmigem Aggregatzustande befunden habe, und dass dann dieser
ungeheure Gasball, in Folge allmähliger Abkühlung, in den feurig-flüssigen
Zustand übergegangen sei. Durch weitere Abgabe beträchtlicher Wärme-
massen an den kalten Weltraum erkaltete der feurig-flüssige Ball, welcher
durch beständige Rotation um seine Axe die Sphaeroid-Form annahm,
immer mehr und es ging zuletzt die Rinde desselben aus dem flüssigen in
den festen Aggregatzustand über, während der von dieser Rinde umschlos-
sene Kern in geschmolzenem Zustande im Innern zurückblieb. Erst nach-
dem die Rinde der Erde sich bis zu einem solchen Grade abgekühlt hatte,
dass der in der Atmosphäre ringsum suspendirte Wasserdampf sich in
tropfbar-flüssiger Form niederschlagen konnte, wurde die Erdrinde bewohn-
bar, wurde es möglich, dass belebte Naturkörper auf derselben auftraten,
wurde es möglich, dass Leben entstand.

Diese Theorie der Erdbildung, welche von Kant und Laplace auf
die einfachsten Gesetze der Anziehung und Abstossung der Materie zurück-
geführt und dadurch ebenso fest als einfach causal begründet wurde, stimmt
mit allen unseren empirischen Kenntnissen, allen Erfahrungen vom Bau und
von der Entwickelung der Erde so vollständig überein, dass sie von allen
Naturforschern ausnahmslos angenommen ist. Nun folgt aber hieraus un-
mittelbar als die erste, nothwendigste und für uns wichtigste Consequenz,
dass das Leben auf der Erde zu irgend einer Zeit einen Anfang
hatte,
oder dass, mit anderen Worten, in irgend einem Zeitpunkt zum
ersten Male anorganische Substanz in organische überging und sich zugleich
in Form von Organismen individualisirte. Diese Folgerung, welche wir hier
als die unentbehrliche Hypothese von der Autogonie oder Selbst-
zeugung
näher formuliren und begründen wollen, erscheint uns so unab-
weisbar nothwendig, dass wir dieselbe unbedingt annehmen müssen und
uns zunächst nur zu verständigen haben werden über die mögliche Art
und Weise dieses Processes und über die Natur der daraus hervorgegange-
nen Organismen, über welche directe Erfahrungskenntnisse uns nicht zu
Gebote stehen.

Hier kommen wir nun zurück auf die wichtigen allgemeinen Resultate
des vorhergehenden Kapitels, in welchem wir zu zeigen versucht haben,
dass die Differenz zwischen den Organismen und den Anorganen nicht so
gross, und vor Allem nicht so absolut ist, wie dies gewöhnlich hingestellt
wird. Wie dort nachgewiesen wurde, unterscheiden sich die vollkommensten
anorganischen Individuen, die Krystalle, von den unvollkommensten orga-
nischen Individuen, den Moneren, wesentlich hinsichtlich ihrer stofflichen
Zusammensetzung dadurch, dass die Atome der Elemente dort vorwiegend
zu einfacheren („binären“), hier dagegen durch Einwirkung des Kohlen-
stoffs zu sehr complicirten und leicht zersetzbaren Verbindungen vereinigt
auftreteu; und dass der Aggregatzustand der Materie dort ein fester, hier
ein festflüssiger ist. Hieraus folgt dann unmittelbar, dass der Krystall nur
durch Apposition von aussen wachsen, und also auch nur äusserlich sich
anpassen und verändern kann, während das Moner durch Intussusception
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[180/0219] Schöpfung und Selbstzeugung. sammter Erdkörper in früherer Zeit vermöge eines sehr hohen Hitzegrades sich in gasförmigem Aggregatzustande befunden habe, und dass dann dieser ungeheure Gasball, in Folge allmähliger Abkühlung, in den feurig-flüssigen Zustand übergegangen sei. Durch weitere Abgabe beträchtlicher Wärme- massen an den kalten Weltraum erkaltete der feurig-flüssige Ball, welcher durch beständige Rotation um seine Axe die Sphaeroid-Form annahm, immer mehr und es ging zuletzt die Rinde desselben aus dem flüssigen in den festen Aggregatzustand über, während der von dieser Rinde umschlos- sene Kern in geschmolzenem Zustande im Innern zurückblieb. Erst nach- dem die Rinde der Erde sich bis zu einem solchen Grade abgekühlt hatte, dass der in der Atmosphäre ringsum suspendirte Wasserdampf sich in tropfbar-flüssiger Form niederschlagen konnte, wurde die Erdrinde bewohn- bar, wurde es möglich, dass belebte Naturkörper auf derselben auftraten, wurde es möglich, dass Leben entstand. Diese Theorie der Erdbildung, welche von Kant und Laplace auf die einfachsten Gesetze der Anziehung und Abstossung der Materie zurück- geführt und dadurch ebenso fest als einfach causal begründet wurde, stimmt mit allen unseren empirischen Kenntnissen, allen Erfahrungen vom Bau und von der Entwickelung der Erde so vollständig überein, dass sie von allen Naturforschern ausnahmslos angenommen ist. Nun folgt aber hieraus un- mittelbar als die erste, nothwendigste und für uns wichtigste Consequenz, dass das Leben auf der Erde zu irgend einer Zeit einen Anfang hatte, oder dass, mit anderen Worten, in irgend einem Zeitpunkt zum ersten Male anorganische Substanz in organische überging und sich zugleich in Form von Organismen individualisirte. Diese Folgerung, welche wir hier als die unentbehrliche Hypothese von der Autogonie oder Selbst- zeugung näher formuliren und begründen wollen, erscheint uns so unab- weisbar nothwendig, dass wir dieselbe unbedingt annehmen müssen und uns zunächst nur zu verständigen haben werden über die mögliche Art und Weise dieses Processes und über die Natur der daraus hervorgegange- nen Organismen, über welche directe Erfahrungskenntnisse uns nicht zu Gebote stehen. Hier kommen wir nun zurück auf die wichtigen allgemeinen Resultate des vorhergehenden Kapitels, in welchem wir zu zeigen versucht haben, dass die Differenz zwischen den Organismen und den Anorganen nicht so gross, und vor Allem nicht so absolut ist, wie dies gewöhnlich hingestellt wird. Wie dort nachgewiesen wurde, unterscheiden sich die vollkommensten anorganischen Individuen, die Krystalle, von den unvollkommensten orga- nischen Individuen, den Moneren, wesentlich hinsichtlich ihrer stofflichen Zusammensetzung dadurch, dass die Atome der Elemente dort vorwiegend zu einfacheren („binären“), hier dagegen durch Einwirkung des Kohlen- stoffs zu sehr complicirten und leicht zersetzbaren Verbindungen vereinigt auftreteu; und dass der Aggregatzustand der Materie dort ein fester, hier ein festflüssiger ist. Hieraus folgt dann unmittelbar, dass der Krystall nur durch Apposition von aussen wachsen, und also auch nur äusserlich sich anpassen und verändern kann, während das Moner durch Intussusception nach innen hinein wachsen, und also auch innerlich sich anpassen und ver-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/219>, abgerufen am 18.05.2024.