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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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welche annimmt, dass die wenigen einfachsten Stammformen, aus wel-
chen alle übrigen durch allmählige Differenzirung sich entwickelt haben,
unmittelbar "erschaffen" worden sind. Da wir diese Annahme dadurch
widerlegen müssen, dass wir die Schöpfung überhaupt als undenkbar
nachweisen, so werden dadurch zugleich sämmtliche übrige Schöpfungs-
Annahmen widerlegt.

Der Begriff der Schöpfung ist entweder überhaupt undenkbar
oder doch mit jeder reinen, auf empirische Basis gegründeten Natur-
anschauung vollkommen unverträglich. In der Abiologie ist auch nir-
gends mehr von einer Schöpfung die Rede, und nur in der Biologie ist
man noch vielfach von diesem Irrthum befangen. Vollkommen undenk-
bar ist der Begriff der Schöpfung, wenn man darunter "ein Entstehen
von Etwas aus Nichts" versteht. Diese Annahme ist ganz unvereinbar
mit einem der ersten und obersten Naturgesetze, welches auch allge-
mein anerkannt ist, dem grossen Gesetze nämlich, das alle Materie
ewig
ist, und dass nicht ein einziges Atom aus der Körperwelt ver-
schwinden, so wenig als ein einziges neues hinzukommen kann. Der
einzige denkbare Sinn, welcher daher für den Begriff der Schöpfung
übrig bleibt, ist die Vorstellung, dass durch eine ausserhalb der Ma-
terie stehende Kraft Bewegungserscheinungen der Materie hervorgerufen
werden und dass diese zur Bildung bestimmter Formen führen; ge-
wöhnlich versteht man darunter speciell die Bildung individueller,
vorzüglich organischer Formen, und in unserem speciellen Falle die
Bildung jener einfachsten organischen Urformen. Die Annahme einer
jeden solchen Schöpfung ist nun deshalb durchaus unstatthaft, weil
wir in der ganzen Körperwelt, welche unserer naturwissenschaftlichen
Erkenntniss zugänglich ist, nicht ein einziges Beispiel von einer ausser
der Materie stehenden Kraft empirisch kennen. Alle Kräfte, die wir
kennen, von den einfachen "physikalischen" Kräften (z. B. der Licht-
brechung, Wärmeleitung) anorganischer Krystalle, bis zu den höchsten
Lebenserscheinungen der Organismen (bis zu der Blüthenbildung der
Bäume, bis zu dem Fluge der Insekten, bis zu den philosophischen
Gehirn-Operationen des Menschen) sind mit absoluter Nothwendigkeit
an die Materie gebunden, und ebenso ist jede Materie (organische und
anorganische) nothwendig mit einer gewissen Summe von Kräften be-
gabt. Einerseits also haben wir nicht einen einzigen, auch nur wahr-
scheinlichen Erfahrungsbeweis für die Existenz einer solchen, die Ma-
terie von aussen beherrschenden und "schaffenden" Kraft (mag man
dieselbe nun Lebenskraft, Schöpferkraft, oder wie immer nennen);
andererseits aber gehört nur ein wenig tieferes Nachdenken dazu, um
zu der festen Ueberzeugung zu gelangen, dass eine solche Kraft ganz
undenkbar ist. Wie sollen wir uns eine Kraft ausserhalb der Materie
nur irgend vorstellen, eine Kraft, der jeder Angriffspunkt, welchen

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welche annimmt, dass die wenigen einfachsten Stammformen, aus wel-
chen alle übrigen durch allmählige Differenzirung sich entwickelt haben,
unmittelbar „erschaffen“ worden sind. Da wir diese Annahme dadurch
widerlegen müssen, dass wir die Schöpfung überhaupt als undenkbar
nachweisen, so werden dadurch zugleich sämmtliche übrige Schöpfungs-
Annahmen widerlegt.

Der Begriff der Schöpfung ist entweder überhaupt undenkbar
oder doch mit jeder reinen, auf empirische Basis gegründeten Natur-
anschauung vollkommen unverträglich. In der Abiologie ist auch nir-
gends mehr von einer Schöpfung die Rede, und nur in der Biologie ist
man noch vielfach von diesem Irrthum befangen. Vollkommen undenk-
bar ist der Begriff der Schöpfung, wenn man darunter „ein Entstehen
von Etwas aus Nichts“ versteht. Diese Annahme ist ganz unvereinbar
mit einem der ersten und obersten Naturgesetze, welches auch allge-
mein anerkannt ist, dem grossen Gesetze nämlich, das alle Materie
ewig
ist, und dass nicht ein einziges Atom aus der Körperwelt ver-
schwinden, so wenig als ein einziges neues hinzukommen kann. Der
einzige denkbare Sinn, welcher daher für den Begriff der Schöpfung
übrig bleibt, ist die Vorstellung, dass durch eine ausserhalb der Ma-
terie stehende Kraft Bewegungserscheinungen der Materie hervorgerufen
werden und dass diese zur Bildung bestimmter Formen führen; ge-
wöhnlich versteht man darunter speciell die Bildung individueller,
vorzüglich organischer Formen, und in unserem speciellen Falle die
Bildung jener einfachsten organischen Urformen. Die Annahme einer
jeden solchen Schöpfung ist nun deshalb durchaus unstatthaft, weil
wir in der ganzen Körperwelt, welche unserer naturwissenschaftlichen
Erkenntniss zugänglich ist, nicht ein einziges Beispiel von einer ausser
der Materie stehenden Kraft empirisch kennen. Alle Kräfte, die wir
kennen, von den einfachen „physikalischen“ Kräften (z. B. der Licht-
brechung, Wärmeleitung) anorganischer Krystalle, bis zu den höchsten
Lebenserscheinungen der Organismen (bis zu der Blüthenbildung der
Bäume, bis zu dem Fluge der Insekten, bis zu den philosophischen
Gehirn-Operationen des Menschen) sind mit absoluter Nothwendigkeit
an die Materie gebunden, und ebenso ist jede Materie (organische und
anorganische) nothwendig mit einer gewissen Summe von Kräften be-
gabt. Einerseits also haben wir nicht einen einzigen, auch nur wahr-
scheinlichen Erfahrungsbeweis für die Existenz einer solchen, die Ma-
terie von aussen beherrschenden und „schaffenden“ Kraft (mag man
dieselbe nun Lebenskraft, Schöpferkraft, oder wie immer nennen);
andererseits aber gehört nur ein wenig tieferes Nachdenken dazu, um
zu der festen Ueberzeugung zu gelangen, dass eine solche Kraft ganz
undenkbar ist. Wie sollen wir uns eine Kraft ausserhalb der Materie
nur irgend vorstellen, eine Kraft, der jeder Angriffspunkt, welchen

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[171/0210] II. Schöpfung. welche annimmt, dass die wenigen einfachsten Stammformen, aus wel- chen alle übrigen durch allmählige Differenzirung sich entwickelt haben, unmittelbar „erschaffen“ worden sind. Da wir diese Annahme dadurch widerlegen müssen, dass wir die Schöpfung überhaupt als undenkbar nachweisen, so werden dadurch zugleich sämmtliche übrige Schöpfungs- Annahmen widerlegt. Der Begriff der Schöpfung ist entweder überhaupt undenkbar oder doch mit jeder reinen, auf empirische Basis gegründeten Natur- anschauung vollkommen unverträglich. In der Abiologie ist auch nir- gends mehr von einer Schöpfung die Rede, und nur in der Biologie ist man noch vielfach von diesem Irrthum befangen. Vollkommen undenk- bar ist der Begriff der Schöpfung, wenn man darunter „ein Entstehen von Etwas aus Nichts“ versteht. Diese Annahme ist ganz unvereinbar mit einem der ersten und obersten Naturgesetze, welches auch allge- mein anerkannt ist, dem grossen Gesetze nämlich, das alle Materie ewig ist, und dass nicht ein einziges Atom aus der Körperwelt ver- schwinden, so wenig als ein einziges neues hinzukommen kann. Der einzige denkbare Sinn, welcher daher für den Begriff der Schöpfung übrig bleibt, ist die Vorstellung, dass durch eine ausserhalb der Ma- terie stehende Kraft Bewegungserscheinungen der Materie hervorgerufen werden und dass diese zur Bildung bestimmter Formen führen; ge- wöhnlich versteht man darunter speciell die Bildung individueller, vorzüglich organischer Formen, und in unserem speciellen Falle die Bildung jener einfachsten organischen Urformen. Die Annahme einer jeden solchen Schöpfung ist nun deshalb durchaus unstatthaft, weil wir in der ganzen Körperwelt, welche unserer naturwissenschaftlichen Erkenntniss zugänglich ist, nicht ein einziges Beispiel von einer ausser der Materie stehenden Kraft empirisch kennen. Alle Kräfte, die wir kennen, von den einfachen „physikalischen“ Kräften (z. B. der Licht- brechung, Wärmeleitung) anorganischer Krystalle, bis zu den höchsten Lebenserscheinungen der Organismen (bis zu der Blüthenbildung der Bäume, bis zu dem Fluge der Insekten, bis zu den philosophischen Gehirn-Operationen des Menschen) sind mit absoluter Nothwendigkeit an die Materie gebunden, und ebenso ist jede Materie (organische und anorganische) nothwendig mit einer gewissen Summe von Kräften be- gabt. Einerseits also haben wir nicht einen einzigen, auch nur wahr- scheinlichen Erfahrungsbeweis für die Existenz einer solchen, die Ma- terie von aussen beherrschenden und „schaffenden“ Kraft (mag man dieselbe nun Lebenskraft, Schöpferkraft, oder wie immer nennen); andererseits aber gehört nur ein wenig tieferes Nachdenken dazu, um zu der festen Ueberzeugung zu gelangen, dass eine solche Kraft ganz undenkbar ist. Wie sollen wir uns eine Kraft ausserhalb der Materie nur irgend vorstellen, eine Kraft, der jeder Angriffspunkt, welchen

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/210>, abgerufen am 17.05.2024.