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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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III. Organische und anorganische Kräfte.

Viel wichtiger aber, als die Thatsache, dass selbst sehr geringfügige
äussere Einflüsse ("Anpassungs-Bedingungen") genügen, um sehr beträcht-
liche Differenzen in Grösse und Form-Complication der anschiessenden
Krystalle hervorzurufen, welche in einer und derselben Flüssigkeit nach
einem und demselben Krystall-Systeme sich bilden, ist der Umstand, dass
solche äussere Ursachen selbst auf die Wahl des Krystall-Systems von
Einfluss sind, welches der anschiessende Krystall annimmt, und dass geringe
Veränderungen der äusseren Einflüsse genügen, um den Krystall im einen
Falle nach diesem, im anderen nach jenem System sich bilden zu lassen.
Hierher gehören die zahlreichen Fälle vom Polymorphismus (meistens
Dimorphismus, selten Trimorphismus etc.) der Krystalle, bei denen man
allerdings nur selten die Ursache kennt, warum derselbe chemische Körper
das eine Mal dieses, das andere Mal jenes Krystall-System sich auswählt.

Den grössten Einfluss scheint in dieser Beziehung wieder der Tempe-
raturgrad zu haben, bei welchem die Krystalle sich bilden, sowie der Un-
terschied, ob der krystallisirende Körper aus einer concentrirten Lösung
sich absetzt, oder ob er aus dem geschmolzenen Aggregatzustand durch
Abkühlung in den festen übergeht. So z. B. können lediglich Temperatur-
Unterschiede den kohlensauren Kalk bestimmen, bald als Kalkspath im
hexagonalen, bald als Arragonit im rhombischen Systeme zu krystallisiren.
Geschmolzener Schwefel schiesst beim langsamen Erkalten in klinorhom-
bischen Säulen an, während derselbe Schwefel aus einem tropfbar-flüssigen
Medium, in welchem er gelöst ist, bei dessen Verdunstung oder langsamer
Abkühlung in Rhomben-Oktaedern krystallisirt.

Noch viel merkwürdiger aber ist es, dass schon der Contact mit einem
fremden heterogenen Krystalle genügt, den gelösten Körper zum Aufgeben
seiner eigenen und zur Annahme dieser fremden Krystallform zu bewegen
So erscheint der Kali-Salpeter, welcher dem rhombischen Krystall-Systeme
angehört, in rhomoboedrischen, dem Kalkspath isomorphen Krystallen des
hexagonalen Systems, wenn er sich auf einem Minerale dieses Krystall-
systems als Unterlage bildet.

sitzt eine viel grössere Anzahl abgeleiteter Flächen, als der mit isomorphen
Salzen gemischte. b) Im Inneren einer reinen Auflösung krystallisirt das Mineral
gewöhnlich in seiner reinen Kernform, während die Beschaffenheit der umschlies-
senden Gefässwände oder fremde Beimischungen in der Flüssigkeit Modificationen
der Kernform veranlassen. So z. B. krystallisirt Kochsalz in Würfeln, bei an-
wesender Borsäure in Kubo-Octaedern, bei anwesendem Harnstoff in Octaedern
etc. c) Blei-Azotat krystallisirt aus saurer Flüssigkeit als entecktes Octaeder,
aus neutraler als vollkommenes Octaeder. d) Jodkalium, welches sonst als
Würfel krystallisirt, erscheint auf Glimmer in Octaeder-Form. e) Selbst die
Lage des Krystalls ist bei langsamer Bildung von Einfluss; wenn derselbe locker
auf dem Boden des Gefässes liegt, wird die aufliegende Fläche grösser, und ent-
sprechend auch die gegenüberliegende. f) Die Winkel isomorpher Krystalle,
welche bei O0 nur unbedeutend von einander verschieden sind, nehmen mit zu-
nehmender Temperatur theils zu, theils ab, aber in verschiedenen Graden.
III. Organische und anorganische Kräfte.

Viel wichtiger aber, als die Thatsache, dass selbst sehr geringfügige
äussere Einflüsse („Anpassungs-Bedingungen“) genügen, um sehr beträcht-
liche Differenzen in Grösse und Form-Complication der anschiessenden
Krystalle hervorzurufen, welche in einer und derselben Flüssigkeit nach
einem und demselben Krystall-Systeme sich bilden, ist der Umstand, dass
solche äussere Ursachen selbst auf die Wahl des Krystall-Systems von
Einfluss sind, welches der anschiessende Krystall annimmt, und dass geringe
Veränderungen der äusseren Einflüsse genügen, um den Krystall im einen
Falle nach diesem, im anderen nach jenem System sich bilden zu lassen.
Hierher gehören die zahlreichen Fälle vom Polymorphismus (meistens
Dimorphismus, selten Trimorphismus etc.) der Krystalle, bei denen man
allerdings nur selten die Ursache kennt, warum derselbe chemische Körper
das eine Mal dieses, das andere Mal jenes Krystall-System sich auswählt.

Den grössten Einfluss scheint in dieser Beziehung wieder der Tempe-
raturgrad zu haben, bei welchem die Krystalle sich bilden, sowie der Un-
terschied, ob der krystallisirende Körper aus einer concentrirten Lösung
sich absetzt, oder ob er aus dem geschmolzenen Aggregatzustand durch
Abkühlung in den festen übergeht. So z. B. können lediglich Temperatur-
Unterschiede den kohlensauren Kalk bestimmen, bald als Kalkspath im
hexagonalen, bald als Arragonit im rhombischen Systeme zu krystallisiren.
Geschmolzener Schwefel schiesst beim langsamen Erkalten in klinorhom-
bischen Säulen an, während derselbe Schwefel aus einem tropfbar-flüssigen
Medium, in welchem er gelöst ist, bei dessen Verdunstung oder langsamer
Abkühlung in Rhomben-Oktaedern krystallisirt.

Noch viel merkwürdiger aber ist es, dass schon der Contact mit einem
fremden heterogenen Krystalle genügt, den gelösten Körper zum Aufgeben
seiner eigenen und zur Annahme dieser fremden Krystallform zu bewegen
So erscheint der Kali-Salpeter, welcher dem rhombischen Krystall-Systeme
angehört, in rhomoboedrischen, dem Kalkspath isomorphen Krystallen des
hexagonalen Systems, wenn er sich auf einem Minerale dieses Krystall-
systems als Unterlage bildet.

sitzt eine viel grössere Anzahl abgeleiteter Flächen, als der mit isomorphen
Salzen gemischte. b) Im Inneren einer reinen Auflösung krystallisirt das Mineral
gewöhnlich in seiner reinen Kernform, während die Beschaffenheit der umschlies-
senden Gefässwände oder fremde Beimischungen in der Flüssigkeit Modificationen
der Kernform veranlassen. So z. B. krystallisirt Kochsalz in Würfeln, bei an-
wesender Borsäure in Kubo-Octaedern, bei anwesendem Harnstoff in Octaedern
etc. c) Blei-Azotat krystallisirt aus saurer Flüssigkeit als entecktes Octaeder,
aus neutraler als vollkommenes Octaeder. d) Jodkalium, welches sonst als
Würfel krystallisirt, erscheint auf Glimmer in Octaeder-Form. e) Selbst die
Lage des Krystalls ist bei langsamer Bildung von Einfluss; wenn derselbe locker
auf dem Boden des Gefässes liegt, wird die aufliegende Fläche grösser, und ent-
sprechend auch die gegenüberliegende. f) Die Winkel isomorpher Krystalle,
welche bei O0 nur unbedeutend von einander verschieden sind, nehmen mit zu-
nehmender Temperatur theils zu, theils ab, aber in verschiedenen Graden.
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[157/0196] III. Organische und anorganische Kräfte. Viel wichtiger aber, als die Thatsache, dass selbst sehr geringfügige äussere Einflüsse („Anpassungs-Bedingungen“) genügen, um sehr beträcht- liche Differenzen in Grösse und Form-Complication der anschiessenden Krystalle hervorzurufen, welche in einer und derselben Flüssigkeit nach einem und demselben Krystall-Systeme sich bilden, ist der Umstand, dass solche äussere Ursachen selbst auf die Wahl des Krystall-Systems von Einfluss sind, welches der anschiessende Krystall annimmt, und dass geringe Veränderungen der äusseren Einflüsse genügen, um den Krystall im einen Falle nach diesem, im anderen nach jenem System sich bilden zu lassen. Hierher gehören die zahlreichen Fälle vom Polymorphismus (meistens Dimorphismus, selten Trimorphismus etc.) der Krystalle, bei denen man allerdings nur selten die Ursache kennt, warum derselbe chemische Körper das eine Mal dieses, das andere Mal jenes Krystall-System sich auswählt. Den grössten Einfluss scheint in dieser Beziehung wieder der Tempe- raturgrad zu haben, bei welchem die Krystalle sich bilden, sowie der Un- terschied, ob der krystallisirende Körper aus einer concentrirten Lösung sich absetzt, oder ob er aus dem geschmolzenen Aggregatzustand durch Abkühlung in den festen übergeht. So z. B. können lediglich Temperatur- Unterschiede den kohlensauren Kalk bestimmen, bald als Kalkspath im hexagonalen, bald als Arragonit im rhombischen Systeme zu krystallisiren. Geschmolzener Schwefel schiesst beim langsamen Erkalten in klinorhom- bischen Säulen an, während derselbe Schwefel aus einem tropfbar-flüssigen Medium, in welchem er gelöst ist, bei dessen Verdunstung oder langsamer Abkühlung in Rhomben-Oktaedern krystallisirt. Noch viel merkwürdiger aber ist es, dass schon der Contact mit einem fremden heterogenen Krystalle genügt, den gelösten Körper zum Aufgeben seiner eigenen und zur Annahme dieser fremden Krystallform zu bewegen So erscheint der Kali-Salpeter, welcher dem rhombischen Krystall-Systeme angehört, in rhomoboedrischen, dem Kalkspath isomorphen Krystallen des hexagonalen Systems, wenn er sich auf einem Minerale dieses Krystall- systems als Unterlage bildet. 1) 1) sitzt eine viel grössere Anzahl abgeleiteter Flächen, als der mit isomorphen Salzen gemischte. b) Im Inneren einer reinen Auflösung krystallisirt das Mineral gewöhnlich in seiner reinen Kernform, während die Beschaffenheit der umschlies- senden Gefässwände oder fremde Beimischungen in der Flüssigkeit Modificationen der Kernform veranlassen. So z. B. krystallisirt Kochsalz in Würfeln, bei an- wesender Borsäure in Kubo-Octaedern, bei anwesendem Harnstoff in Octaedern etc. c) Blei-Azotat krystallisirt aus saurer Flüssigkeit als entecktes Octaeder, aus neutraler als vollkommenes Octaeder. d) Jodkalium, welches sonst als Würfel krystallisirt, erscheint auf Glimmer in Octaeder-Form. e) Selbst die Lage des Krystalls ist bei langsamer Bildung von Einfluss; wenn derselbe locker auf dem Boden des Gefässes liegt, wird die aufliegende Fläche grösser, und ent- sprechend auch die gegenüberliegende. f) Die Winkel isomorpher Krystalle, welche bei O0 nur unbedeutend von einander verschieden sind, nehmen mit zu- nehmender Temperatur theils zu, theils ab, aber in verschiedenen Graden.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/196>, abgerufen am 28.11.2024.