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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Organismen und Anorgane.
baren materiellen Zusammenhange zwischen dem elterlichen und dem neu
entstandenen Organismus. Indem der letztere stets einen Theil des ersteren
beibehält, musser nothwendig durch die gleiche Materie, die ihm bleibt, auch
die gleichen Functionen äussern. Hierauf beruht die Erblichkeit, ver-
möge welcher jeder Organismus seinem elterlichen ähnlich ist. Der abso-
luten Gleichheit zwischen Beiden wirkt nun aber der andere Umstand ent-
gegen, dass der jugendliche Organismus, der nur einen Theil des elterlichen
bildet, gezwungen ist, sich durch Wachsthum selbstständig bis zu einer
gewissen Grenze hinauf zu ergänzen. Indem nun diese selbstständige Er-
nährung des organischen Individuums, welche auf den einfachsten Massen-
Anziehungen der umgebenden ernährenden Substanz beruht, durch die um-
gebenden Existenz-Bedingungen (Temperatur, Ausdehnung und Oberfläche
der festen Körper in der Umgebung etc.) beeinflusst wird, indem z. B. das
Quantum des Wassers in dem imbibitionsfähigen Organismus und das
Quantum der neu aufnehmbaren festen Substanz durch bestimmte einfache
Massen-Anziehungen der umgebenden festen Körper geregelt wird, entsteht
ein gewisser Grad von Variabilität, von Veränderlichkeit in dem Quantum der
assimilirbaren Stoffe, die in das imbibitionsfähige Plasma eindringen und
das Wachsthum des Individuums vollenden. Auf dieser individuellen Va-
riabilität beruht die Fähigkeit der Anpassung an die umgebenden Existenz-
Bedingungen, welche der absoluten und allgemeinen Erblichkeit entgegen
wirkt, und in Wechselwirkung mit dieser die ganze Mannichfaltigkeit der
Organismen-Welt nach den von Darwin entwickelten Gesetzen erzeugt.

Indem wir die weitere Betrachtung dieses wichtigen Wechselspiels
zwischen den beiden wichtigsten formbildenden Factoren der organischen
Welt, Erblichkeit und Anpassung der organischen Individuen, dem fünften
und sechsten Buche aufsparen, wollen wir uns hier auf eine Betrachtung
der analogen Wechselwirkung zweier entgegengesetzter formbildender Po-
tenzen beschränken, welche gleicherweise bei den anorganischen Individuen,
den Krystallen, die individuellen Form-Eigenthümlichkeiten zu bestimmen
im Stande ist. Allerdings kann von Fortpflanzung und also auch von
Erblichkeit bei den anorganischen Individuen nicht die Rede sein. Der
Mangel an Imbibitionsfähigkeit verhindert die molekularen Bewegungen im
Innern des Körpers, welche zur Fortpflanzung gleicherweise wie zur Ernäh-
rung nothwendig sind. Dagegen findet beim Wachsthum und bei der Ent-
stehung der anorganischen Individuen, bei der Krystallisation, eine Function
der Materie statt, welche wir wohl als Anpassung bezeichnen können, und
welche auf die Anpassung der werdenden Organismen ein bedeutendes
Licht wirft.

III. 4. Anpassung der organischen und anorganischen Individuen.

Die Anpassung oder Adaptation ist diejenige formbildende Function
der Naturkörper, welche die unendlich mannichfaltigen individuellen
Charactere bedingt, durch welche sich alle Individuen einer und der-
selben Art von einander unterscheiden.

Wir haben oben (p. 28), wo wir absichtlich die Differenzen in der

Organismen und Anorgane.
baren materiellen Zusammenhange zwischen dem elterlichen und dem neu
entstandenen Organismus. Indem der letztere stets einen Theil des ersteren
beibehält, musser nothwendig durch die gleiche Materie, die ihm bleibt, auch
die gleichen Functionen äussern. Hierauf beruht die Erblichkeit, ver-
möge welcher jeder Organismus seinem elterlichen ähnlich ist. Der abso-
luten Gleichheit zwischen Beiden wirkt nun aber der andere Umstand ent-
gegen, dass der jugendliche Organismus, der nur einen Theil des elterlichen
bildet, gezwungen ist, sich durch Wachsthum selbstständig bis zu einer
gewissen Grenze hinauf zu ergänzen. Indem nun diese selbstständige Er-
nährung des organischen Individuums, welche auf den einfachsten Massen-
Anziehungen der umgebenden ernährenden Substanz beruht, durch die um-
gebenden Existenz-Bedingungen (Temperatur, Ausdehnung und Oberfläche
der festen Körper in der Umgebung etc.) beeinflusst wird, indem z. B. das
Quantum des Wassers in dem imbibitionsfähigen Organismus und das
Quantum der neu aufnehmbaren festen Substanz durch bestimmte einfache
Massen-Anziehungen der umgebenden festen Körper geregelt wird, entsteht
ein gewisser Grad von Variabilität, von Veränderlichkeit in dem Quantum der
assimilirbaren Stoffe, die in das imbibitionsfähige Plasma eindringen und
das Wachsthum des Individuums vollenden. Auf dieser individuellen Va-
riabilität beruht die Fähigkeit der Anpassung an die umgebenden Existenz-
Bedingungen, welche der absoluten und allgemeinen Erblichkeit entgegen
wirkt, und in Wechselwirkung mit dieser die ganze Mannichfaltigkeit der
Organismen-Welt nach den von Darwin entwickelten Gesetzen erzeugt.

Indem wir die weitere Betrachtung dieses wichtigen Wechselspiels
zwischen den beiden wichtigsten formbildenden Factoren der organischen
Welt, Erblichkeit und Anpassung der organischen Individuen, dem fünften
und sechsten Buche aufsparen, wollen wir uns hier auf eine Betrachtung
der analogen Wechselwirkung zweier entgegengesetzter formbildender Po-
tenzen beschränken, welche gleicherweise bei den anorganischen Individuen,
den Krystallen, die individuellen Form-Eigenthümlichkeiten zu bestimmen
im Stande ist. Allerdings kann von Fortpflanzung und also auch von
Erblichkeit bei den anorganischen Individuen nicht die Rede sein. Der
Mangel an Imbibitionsfähigkeit verhindert die molekularen Bewegungen im
Innern des Körpers, welche zur Fortpflanzung gleicherweise wie zur Ernäh-
rung nothwendig sind. Dagegen findet beim Wachsthum und bei der Ent-
stehung der anorganischen Individuen, bei der Krystallisation, eine Function
der Materie statt, welche wir wohl als Anpassung bezeichnen können, und
welche auf die Anpassung der werdenden Organismen ein bedeutendes
Licht wirft.

III. 4. Anpassung der organischen und anorganischen Individuen.

Die Anpassung oder Adaptation ist diejenige formbildende Function
der Naturkörper, welche die unendlich mannichfaltigen individuellen
Charactere bedingt, durch welche sich alle Individuen einer und der-
selben Art von einander unterscheiden.

Wir haben oben (p. 28), wo wir absichtlich die Differenzen in der

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[152/0191] Organismen und Anorgane. baren materiellen Zusammenhange zwischen dem elterlichen und dem neu entstandenen Organismus. Indem der letztere stets einen Theil des ersteren beibehält, musser nothwendig durch die gleiche Materie, die ihm bleibt, auch die gleichen Functionen äussern. Hierauf beruht die Erblichkeit, ver- möge welcher jeder Organismus seinem elterlichen ähnlich ist. Der abso- luten Gleichheit zwischen Beiden wirkt nun aber der andere Umstand ent- gegen, dass der jugendliche Organismus, der nur einen Theil des elterlichen bildet, gezwungen ist, sich durch Wachsthum selbstständig bis zu einer gewissen Grenze hinauf zu ergänzen. Indem nun diese selbstständige Er- nährung des organischen Individuums, welche auf den einfachsten Massen- Anziehungen der umgebenden ernährenden Substanz beruht, durch die um- gebenden Existenz-Bedingungen (Temperatur, Ausdehnung und Oberfläche der festen Körper in der Umgebung etc.) beeinflusst wird, indem z. B. das Quantum des Wassers in dem imbibitionsfähigen Organismus und das Quantum der neu aufnehmbaren festen Substanz durch bestimmte einfache Massen-Anziehungen der umgebenden festen Körper geregelt wird, entsteht ein gewisser Grad von Variabilität, von Veränderlichkeit in dem Quantum der assimilirbaren Stoffe, die in das imbibitionsfähige Plasma eindringen und das Wachsthum des Individuums vollenden. Auf dieser individuellen Va- riabilität beruht die Fähigkeit der Anpassung an die umgebenden Existenz- Bedingungen, welche der absoluten und allgemeinen Erblichkeit entgegen wirkt, und in Wechselwirkung mit dieser die ganze Mannichfaltigkeit der Organismen-Welt nach den von Darwin entwickelten Gesetzen erzeugt. Indem wir die weitere Betrachtung dieses wichtigen Wechselspiels zwischen den beiden wichtigsten formbildenden Factoren der organischen Welt, Erblichkeit und Anpassung der organischen Individuen, dem fünften und sechsten Buche aufsparen, wollen wir uns hier auf eine Betrachtung der analogen Wechselwirkung zweier entgegengesetzter formbildender Po- tenzen beschränken, welche gleicherweise bei den anorganischen Individuen, den Krystallen, die individuellen Form-Eigenthümlichkeiten zu bestimmen im Stande ist. Allerdings kann von Fortpflanzung und also auch von Erblichkeit bei den anorganischen Individuen nicht die Rede sein. Der Mangel an Imbibitionsfähigkeit verhindert die molekularen Bewegungen im Innern des Körpers, welche zur Fortpflanzung gleicherweise wie zur Ernäh- rung nothwendig sind. Dagegen findet beim Wachsthum und bei der Ent- stehung der anorganischen Individuen, bei der Krystallisation, eine Function der Materie statt, welche wir wohl als Anpassung bezeichnen können, und welche auf die Anpassung der werdenden Organismen ein bedeutendes Licht wirft. III. 4. Anpassung der organischen und anorganischen Individuen. Die Anpassung oder Adaptation ist diejenige formbildende Function der Naturkörper, welche die unendlich mannichfaltigen individuellen Charactere bedingt, durch welche sich alle Individuen einer und der- selben Art von einander unterscheiden. Wir haben oben (p. 28), wo wir absichtlich die Differenzen in der

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/191>, abgerufen am 17.05.2024.