Erscheinungen der Materie, welche nur den Organismen eigen sind, und den Anorganen allgemein fehlen. Es entsteht aber hier zunächst die Frage, ob denn wirklich alle sogenannten Lebens-Erscheinungen durchaus ohne Analogon in der leblosen Natur sind. Wenn wir nun in dieser Beziehung die molekularen Lebensbewegungen der organischen Individuen mit den molekularen Bewegungen, welche wir bei anorga- nischen Individuen, insbesondere bei Krystallen, wahrnehmen, ver- gleichen, so tritt uns als verwandte Erscheinung zunächst diejenige des Wachsthums entgegen.
Die Erscheinungen des Wachsthums in den anorganischen und organischen Individuen sind schon vielfach und mit Recht verglichen worden;1) und zweifelsohne ist hier der Punkt, von welchem unsere Vergleichung am besten ausgehen kann. Bei allen Naturkörpern be- steht die Erscheinung des Wachsthums darin, dass die räumliche Aus- dehnung und die Masse des Individuums allmählig zunimmt, indem dasselbe durch eigene Thätigkeit fremde, ausserhalb befindliche Massentheilchen anzieht. Bei den Krystall-Individuen wird so- wohl ihr Wachsthum, als auch ihre erste Entstehung allgemein und ohne Widerspruch zurückgeführt auf elementare Gesetze der Anziehung und Abstossung der Moleküle einer homogenen Materie. Für die Wirksamkeit dieser Gesetze ist der flüssige Aggregatzustand (entweder als Lösung oder als Schmelzung) unbedingt erforderlich.
Zunächst ist hier die erste Entstehung des Krystalls aus der Flüssig- keit (Mutterlauge) zu verfolgen. Eine bestimmte Verbindung (z. B. Koch- salz), oder ein chemisches Element (z. B. Schwefel) befindet sich durch Lösung oder durch Schmelzung im flüssigen Aggregatzustande, in welchem die Cohäsion der Moleküle der Expansion der intermolekularen Aether- Atome das Gleichgewicht hält. Damit derselbe nun in den festen Aggregat- zustand übergehe, oder damit der Körper krystallisire, ist entweder eine Uebersättigung der Lösung (Mutterlauge) oder eine Abkühlung der ge- schmolzenen Masse erforderlich. Dadurch entstehen einer oder mehrere Punkte in der Flüssigkeit, an denen die Cohäsion der benachbarten Mole- küle über die Expansion der sie trennenden Aether-Atome das Ueber- gewicht gewinnt, und folglich ein fester Körper entsteht. Die Form dieses ersten, äusserst kleinen, festen Körpers, der als Krystallkern nun weiter auf die umgebende Flüssigkeit wirkt, ist bereits eine gesetzmässig be- stimmte, ist bereits die Grundform des Krystallsystems, in welchem die betreffende Materie unter den gegebenen Umständen (Temperatur, Electri- cität etc.) krystallisirt. Es treten also bereits bei der ersten Entstehung des Krystalls, im ersten Momente des Festwerdens, die benachbarten Mole-
1) Schon Linne stellte die Wachsthums-Erscheinungen der Organismen und Anorgane in Parallele, in der bekannten Diagnose der drei Reiche: Lapides cres- cunt, Plantae crescunt et vivunt, Animalia crescunt et vivunt et sentiunt.
Organismen und Anorgane.
Erscheinungen der Materie, welche nur den Organismen eigen sind, und den Anorganen allgemein fehlen. Es entsteht aber hier zunächst die Frage, ob denn wirklich alle sogenannten Lebens-Erscheinungen durchaus ohne Analogon in der leblosen Natur sind. Wenn wir nun in dieser Beziehung die molekularen Lebensbewegungen der organischen Individuen mit den molekularen Bewegungen, welche wir bei anorga- nischen Individuen, insbesondere bei Krystallen, wahrnehmen, ver- gleichen, so tritt uns als verwandte Erscheinung zunächst diejenige des Wachsthums entgegen.
Die Erscheinungen des Wachsthums in den anorganischen und organischen Individuen sind schon vielfach und mit Recht verglichen worden;1) und zweifelsohne ist hier der Punkt, von welchem unsere Vergleichung am besten ausgehen kann. Bei allen Naturkörpern be- steht die Erscheinung des Wachsthums darin, dass die räumliche Aus- dehnung und die Masse des Individuums allmählig zunimmt, indem dasselbe durch eigene Thätigkeit fremde, ausserhalb befindliche Massentheilchen anzieht. Bei den Krystall-Individuen wird so- wohl ihr Wachsthum, als auch ihre erste Entstehung allgemein und ohne Widerspruch zurückgeführt auf elementare Gesetze der Anziehung und Abstossung der Moleküle einer homogenen Materie. Für die Wirksamkeit dieser Gesetze ist der flüssige Aggregatzustand (entweder als Lösung oder als Schmelzung) unbedingt erforderlich.
Zunächst ist hier die erste Entstehung des Krystalls aus der Flüssig- keit (Mutterlauge) zu verfolgen. Eine bestimmte Verbindung (z. B. Koch- salz), oder ein chemisches Element (z. B. Schwefel) befindet sich durch Lösung oder durch Schmelzung im flüssigen Aggregatzustande, in welchem die Cohäsion der Moleküle der Expansion der intermolekularen Aether- Atome das Gleichgewicht hält. Damit derselbe nun in den festen Aggregat- zustand übergehe, oder damit der Körper krystallisire, ist entweder eine Uebersättigung der Lösung (Mutterlauge) oder eine Abkühlung der ge- schmolzenen Masse erforderlich. Dadurch entstehen einer oder mehrere Punkte in der Flüssigkeit, an denen die Cohäsion der benachbarten Mole- küle über die Expansion der sie trennenden Aether-Atome das Ueber- gewicht gewinnt, und folglich ein fester Körper entsteht. Die Form dieses ersten, äusserst kleinen, festen Körpers, der als Krystallkern nun weiter auf die umgebende Flüssigkeit wirkt, ist bereits eine gesetzmässig be- stimmte, ist bereits die Grundform des Krystallsystems, in welchem die betreffende Materie unter den gegebenen Umständen (Temperatur, Electri- cität etc.) krystallisirt. Es treten also bereits bei der ersten Entstehung des Krystalls, im ersten Momente des Festwerdens, die benachbarten Mole-
1) Schon Linné stellte die Wachsthums-Erscheinungen der Organismen und Anorgane in Parallele, in der bekannten Diagnose der drei Reiche: Lapides cres- cunt, Plantae crescunt et vivunt, Animalia crescunt et vivunt et sentiunt.
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Organismen und Anorgane.
Erscheinungen der Materie, welche nur den Organismen eigen sind,
und den Anorganen allgemein fehlen. Es entsteht aber hier zunächst
die Frage, ob denn wirklich alle sogenannten Lebens-Erscheinungen
durchaus ohne Analogon in der leblosen Natur sind. Wenn wir nun
in dieser Beziehung die molekularen Lebensbewegungen der organischen
Individuen mit den molekularen Bewegungen, welche wir bei anorga-
nischen Individuen, insbesondere bei Krystallen, wahrnehmen, ver-
gleichen, so tritt uns als verwandte Erscheinung zunächst diejenige
des Wachsthums entgegen.
Die Erscheinungen des Wachsthums in den anorganischen und
organischen Individuen sind schon vielfach und mit Recht verglichen
worden; 1) und zweifelsohne ist hier der Punkt, von welchem unsere
Vergleichung am besten ausgehen kann. Bei allen Naturkörpern be-
steht die Erscheinung des Wachsthums darin, dass die räumliche Aus-
dehnung und die Masse des Individuums allmählig zunimmt, indem
dasselbe durch eigene Thätigkeit fremde, ausserhalb befindliche
Massentheilchen anzieht. Bei den Krystall-Individuen wird so-
wohl ihr Wachsthum, als auch ihre erste Entstehung allgemein und
ohne Widerspruch zurückgeführt auf elementare Gesetze der Anziehung
und Abstossung der Moleküle einer homogenen Materie. Für die
Wirksamkeit dieser Gesetze ist der flüssige Aggregatzustand (entweder
als Lösung oder als Schmelzung) unbedingt erforderlich.
Zunächst ist hier die erste Entstehung des Krystalls aus der Flüssig-
keit (Mutterlauge) zu verfolgen. Eine bestimmte Verbindung (z. B. Koch-
salz), oder ein chemisches Element (z. B. Schwefel) befindet sich durch
Lösung oder durch Schmelzung im flüssigen Aggregatzustande, in welchem
die Cohäsion der Moleküle der Expansion der intermolekularen Aether-
Atome das Gleichgewicht hält. Damit derselbe nun in den festen Aggregat-
zustand übergehe, oder damit der Körper krystallisire, ist entweder eine
Uebersättigung der Lösung (Mutterlauge) oder eine Abkühlung der ge-
schmolzenen Masse erforderlich. Dadurch entstehen einer oder mehrere
Punkte in der Flüssigkeit, an denen die Cohäsion der benachbarten Mole-
küle über die Expansion der sie trennenden Aether-Atome das Ueber-
gewicht gewinnt, und folglich ein fester Körper entsteht. Die Form dieses
ersten, äusserst kleinen, festen Körpers, der als Krystallkern nun weiter
auf die umgebende Flüssigkeit wirkt, ist bereits eine gesetzmässig be-
stimmte, ist bereits die Grundform des Krystallsystems, in welchem die
betreffende Materie unter den gegebenen Umständen (Temperatur, Electri-
cität etc.) krystallisirt. Es treten also bereits bei der ersten Entstehung
des Krystalls, im ersten Momente des Festwerdens, die benachbarten Mole-
1) Schon Linné stellte die Wachsthums-Erscheinungen der Organismen und
Anorgane in Parallele, in der bekannten Diagnose der drei Reiche: Lapides cres-
cunt, Plantae crescunt et vivunt, Animalia crescunt et vivunt et sentiunt.
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/181>, abgerufen am 18.07.2024.
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