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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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I. Organische und anorganische Stoffe.
verhältnisse meist complicirtere sind, als dies in den binären "anorganischen"
Verbindungen gewöhnlich der Fall ist.

So wesentlich nun gewiss diese gradweise, relative Differenz in der
atomistischen Constitution vieler organischen und anorganischen Verbindungen
für die Erklärung ihrer functionellen Differenzen ist, so hat man doch auch
diesen Unterschied einseitig übertrieben. Zunächst ist hier erstens als sehr
wesentlich hervorzuheben, dass kein Organismus lediglich aus den compli-
cirteren "ternären und quaternären" Kohlenstoff-Verbindungen (Eiweiss,
Fett etc.) besteht, dass vielmehr stets auch neben diesen noch einfache
"binäre" Verbindungen vorhanden sind, Wasser, Kohlensäure, gewisse
Salze etc. Jeder Organismus ohne Ausnahme erscheint in dieser Beziehung
als ein Complex von einfachen (binären) "anorganischen" und complicirten
(ternären oder quaternären) "organischen" Verbindungen. Die wesentlichsten
Eigenthümlichkeiten der letzteren sind aber im Grunde nur abhängig von
der ausgezeichneten Fähigkeit des Kohlenstoffes (des "organischen"
Elements kai' exokhen), sich in den verschiedensten Verhältnissen mit anderen
Elementen zu verbinden. Diese in ihrer Art einzige Eigenschaft des Kohlen-
stoffes müssen wir als die Grundlage aller Eigenthümlichkeiten der soge-
nannten organischen Verbindungen bezeichnen.

Grosses Gewicht legte man früher darauf, dass diese characteristischen
Kohlenstoff-Verbindungen sich ausschliesslich nur in den Organismen "unter
dem Einfluss des Lebens" bilden könnten und dass niemals dergleichen
durch Combination binärer Verbindungen künstlich in unseren Laboratorien
herzustellen seien. Zuerst wurde dieses Dogma 1828 von Wöhler widerlegt,
welcher auf rein künstlichem Wege Harnstoff (statt cyansauren Ammoniaks)
aus den "anorganischen" Elementen (aus Cyan- und Ammoniak-Verbindungen)
herstellte. In neuester Zeit hat man jedoch in dieser Beziehung so weite
Fortschritte gemacht, und so viele "rein organische" complicirte Kohlenstoff-
Verbindungen, Alkohol, Essigsäure, Ameisensäure etc. auf "rein anorgani-
schem" Wege künstlich hergestellt, dass bald nur noch die höchststehende
und complicirteste Gruppe der Eiweisskörper dieser künstlichen Synthese
Schwierigkeiten in den Weg legen wird, Schwierigkeiten, welche die weiteren
Fortschritte der Chemie zweifelsohne überwinden werden. Schon heute
dürfen wir also sagen, dass ein sehr grosser Theil der complicirteren
Kohlenstoff-Verbindungen, der "ternären und quaternären" Atomcomplexe,
nicht ausschliesslich nur im Organismus entsteht, sondern ebenso auch
künstlich, mit Ausschluss jeder Lebensthätigkeit, in unseren Laboratorien
dargestellt werden kann, gleich den einfachsten ("binären") anorganischen
Verbindungen. Dieses Resultat ist aber desshalb für uns von äusserster
Wichtigkeit, weil daraus hervorgeht, dass auch in der Natur, unter ähnlichen
Bedingungen, wie wir sie in unseren Laboratorien künstlich herstellen,
unbelebte anorganische Materien zur Bildung lebensfähiger organischer
Stoffe, "binäre" Verbindungen und einfache Elemente zur Bildung "ternärer
und quaternärer" Verbindungen zusammentreten können, eine Möglichkeit,
welche für die Theorie von der Autogonie, einer Form der Generatio spon-
tanea, die unentbehrliche Grundlage ist.

Als sehr wesentlicher Unterschied zwischen den anorganischen und den

I. Organische und anorganische Stoffe.
verhältnisse meist complicirtere sind, als dies in den binären „anorganischen“
Verbindungen gewöhnlich der Fall ist.

So wesentlich nun gewiss diese gradweise, relative Differenz in der
atomistischen Constitution vieler organischen und anorganischen Verbindungen
für die Erklärung ihrer functionellen Differenzen ist, so hat man doch auch
diesen Unterschied einseitig übertrieben. Zunächst ist hier erstens als sehr
wesentlich hervorzuheben, dass kein Organismus lediglich aus den compli-
cirteren „ternären und quaternären“ Kohlenstoff-Verbindungen (Eiweiss,
Fett etc.) besteht, dass vielmehr stets auch neben diesen noch einfache
„binäre“ Verbindungen vorhanden sind, Wasser, Kohlensäure, gewisse
Salze etc. Jeder Organismus ohne Ausnahme erscheint in dieser Beziehung
als ein Complex von einfachen (binären) „anorganischen“ und complicirten
(ternären oder quaternären) „organischen“ Verbindungen. Die wesentlichsten
Eigenthümlichkeiten der letzteren sind aber im Grunde nur abhängig von
der ausgezeichneten Fähigkeit des Kohlenstoffes (des „organischen“
Elements και᾽ ἐξοχήν), sich in den verschiedensten Verhältnissen mit anderen
Elementen zu verbinden. Diese in ihrer Art einzige Eigenschaft des Kohlen-
stoffes müssen wir als die Grundlage aller Eigenthümlichkeiten der soge-
nannten organischen Verbindungen bezeichnen.

Grosses Gewicht legte man früher darauf, dass diese characteristischen
Kohlenstoff-Verbindungen sich ausschliesslich nur in den Organismen „unter
dem Einfluss des Lebens“ bilden könnten und dass niemals dergleichen
durch Combination binärer Verbindungen künstlich in unseren Laboratorien
herzustellen seien. Zuerst wurde dieses Dogma 1828 von Wöhler widerlegt,
welcher auf rein künstlichem Wege Harnstoff (statt cyansauren Ammoniaks)
aus den „anorganischen“ Elementen (aus Cyan- und Ammoniak-Verbindungen)
herstellte. In neuester Zeit hat man jedoch in dieser Beziehung so weite
Fortschritte gemacht, und so viele „rein organische“ complicirte Kohlenstoff-
Verbindungen, Alkohol, Essigsäure, Ameisensäure etc. auf „rein anorgani-
schem“ Wege künstlich hergestellt, dass bald nur noch die höchststehende
und complicirteste Gruppe der Eiweisskörper dieser künstlichen Synthese
Schwierigkeiten in den Weg legen wird, Schwierigkeiten, welche die weiteren
Fortschritte der Chemie zweifelsohne überwinden werden. Schon heute
dürfen wir also sagen, dass ein sehr grosser Theil der complicirteren
Kohlenstoff-Verbindungen, der „ternären und quaternären“ Atomcomplexe,
nicht ausschliesslich nur im Organismus entsteht, sondern ebenso auch
künstlich, mit Ausschluss jeder Lebensthätigkeit, in unseren Laboratorien
dargestellt werden kann, gleich den einfachsten („binären“) anorganischen
Verbindungen. Dieses Resultat ist aber desshalb für uns von äusserster
Wichtigkeit, weil daraus hervorgeht, dass auch in der Natur, unter ähnlichen
Bedingungen, wie wir sie in unseren Laboratorien künstlich herstellen,
unbelebte anorganische Materien zur Bildung lebensfähiger organischer
Stoffe, „binäre“ Verbindungen und einfache Elemente zur Bildung „ternärer
und quaternärer“ Verbindungen zusammentreten können, eine Möglichkeit,
welche für die Theorie von der Autogonie, einer Form der Generatio spon-
tanea, die unentbehrliche Grundlage ist.

Als sehr wesentlicher Unterschied zwischen den anorganischen und den

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[121/0160] I. Organische und anorganische Stoffe. verhältnisse meist complicirtere sind, als dies in den binären „anorganischen“ Verbindungen gewöhnlich der Fall ist. So wesentlich nun gewiss diese gradweise, relative Differenz in der atomistischen Constitution vieler organischen und anorganischen Verbindungen für die Erklärung ihrer functionellen Differenzen ist, so hat man doch auch diesen Unterschied einseitig übertrieben. Zunächst ist hier erstens als sehr wesentlich hervorzuheben, dass kein Organismus lediglich aus den compli- cirteren „ternären und quaternären“ Kohlenstoff-Verbindungen (Eiweiss, Fett etc.) besteht, dass vielmehr stets auch neben diesen noch einfache „binäre“ Verbindungen vorhanden sind, Wasser, Kohlensäure, gewisse Salze etc. Jeder Organismus ohne Ausnahme erscheint in dieser Beziehung als ein Complex von einfachen (binären) „anorganischen“ und complicirten (ternären oder quaternären) „organischen“ Verbindungen. Die wesentlichsten Eigenthümlichkeiten der letzteren sind aber im Grunde nur abhängig von der ausgezeichneten Fähigkeit des Kohlenstoffes (des „organischen“ Elements και᾽ ἐξοχήν), sich in den verschiedensten Verhältnissen mit anderen Elementen zu verbinden. Diese in ihrer Art einzige Eigenschaft des Kohlen- stoffes müssen wir als die Grundlage aller Eigenthümlichkeiten der soge- nannten organischen Verbindungen bezeichnen. Grosses Gewicht legte man früher darauf, dass diese characteristischen Kohlenstoff-Verbindungen sich ausschliesslich nur in den Organismen „unter dem Einfluss des Lebens“ bilden könnten und dass niemals dergleichen durch Combination binärer Verbindungen künstlich in unseren Laboratorien herzustellen seien. Zuerst wurde dieses Dogma 1828 von Wöhler widerlegt, welcher auf rein künstlichem Wege Harnstoff (statt cyansauren Ammoniaks) aus den „anorganischen“ Elementen (aus Cyan- und Ammoniak-Verbindungen) herstellte. In neuester Zeit hat man jedoch in dieser Beziehung so weite Fortschritte gemacht, und so viele „rein organische“ complicirte Kohlenstoff- Verbindungen, Alkohol, Essigsäure, Ameisensäure etc. auf „rein anorgani- schem“ Wege künstlich hergestellt, dass bald nur noch die höchststehende und complicirteste Gruppe der Eiweisskörper dieser künstlichen Synthese Schwierigkeiten in den Weg legen wird, Schwierigkeiten, welche die weiteren Fortschritte der Chemie zweifelsohne überwinden werden. Schon heute dürfen wir also sagen, dass ein sehr grosser Theil der complicirteren Kohlenstoff-Verbindungen, der „ternären und quaternären“ Atomcomplexe, nicht ausschliesslich nur im Organismus entsteht, sondern ebenso auch künstlich, mit Ausschluss jeder Lebensthätigkeit, in unseren Laboratorien dargestellt werden kann, gleich den einfachsten („binären“) anorganischen Verbindungen. Dieses Resultat ist aber desshalb für uns von äusserster Wichtigkeit, weil daraus hervorgeht, dass auch in der Natur, unter ähnlichen Bedingungen, wie wir sie in unseren Laboratorien künstlich herstellen, unbelebte anorganische Materien zur Bildung lebensfähiger organischer Stoffe, „binäre“ Verbindungen und einfache Elemente zur Bildung „ternärer und quaternärer“ Verbindungen zusammentreten können, eine Möglichkeit, welche für die Theorie von der Autogonie, einer Form der Generatio spon- tanea, die unentbehrliche Grundlage ist. Als sehr wesentlicher Unterschied zwischen den anorganischen und den

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/160>, abgerufen am 25.11.2024.