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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Methodik der Morphologie der Organismen.
thum hat Darwin vollständig und mit einem Schlage vernichtet. Darwin
hat evident bewiesen, wie es die einfachsten mechanischen Causal-Verhält-
nisse sind, welche diese anscheinend so complicirten und für so ganz uner-
klärlich gehaltenen Lebens-Erscheinungen, die Formbildung und die Ent-
wickelung regeln und beherrschen. Da wir dies im fünften und sechsten
Buche auseinander zu setzen haben, so können wir hier darauf verweisen.

Nur ein Umstand möge hier noch besonders hervorgehoben werden,
nämlich, dass durch die von Darwin thatsächlich erklärte Entstehung der
complicirtesten organischen Formen bereits factisch die Hauptstütze der
Teleologie vernichtet und zertrümmert ist. Alle einer teleologischen Be-
trachtung der organischen Naturerscheinungen geneigten Philosophen, und vor
Allen Kant, dessen Einfluss auf die Entwickelung der Naturwissenschaft in
unserem Jahrhundert (wegen seiner breiteren empirischen Grundlage) grösser
geworden ist, als derjenige irgend eines anderen speculativen Philosophen,
hatte ausdrücklich für die Nothwendigkeit einer teleologischen Beurtheilung
der organischen Natur hervorgehoben, dass deren Processe vollkommen un-
erklärlich, dem Erkenntniss-Vermögen des Menschen nicht zugänglich, und
dass insbesondere die Entstehung der complicirteren Organismen durch bloss
mechanische Ursachen vollkommen unbegreiflich sei. Die Befugniss der
mechanischen Ursachen zur Erklärung dieser Erscheinungen wurde von Kant
ausdrücklich zugestanden, aber das Vermögen der Erklärung ihnen ab-
gesprochen. Daher wollte er auch die "natürliche Zweckmässigkeit" der
Teleologie nur als Maxime der Beurtheilung, nicht als Erkenntnissprincip
zulassen. Ausdrücklich sagte er desshalb, dass die lebendige Natur nicht
Gegenstand der Erkenntniss, sondern bloss der Betrachtung sein
könne, weil eben die bewegenden Kräfte der Materie nicht zur Erklärung
der Organisation ausreichten. So gerieth denn auch Kant in die unauf-
lösliche Antinomie zwischen Mechanismus und Teleologie. Während er
in seinen "metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" bewiesen
hatte, dass Alles in der materiellen Natur mechanisch entstehe und aus be-
wegenden Kräften als mechanischen Ursachen erklärt werden müsse, war er
nun in der "Analytik der teleologischen Urtheilskraft" gezwungen zu erklä-
ren, dass Einiges in der materiellen Natur, nämlich das Organische, das

entwöhnten Physiologen und Abiologen, eine übertriebene Behauptung erscheinen.
Indess liefert fast die gesammte morphologische Literatur hierfür die schlagend-
sten Beweise. Selten freilich ist dieser kurzsichtige Standpunkt mit solchem
Bewusstsein und solcher Consequenz festgehalten worden, wie dies z. B. von
Reichert geschehen ist. Wer die ganze Beschränktheit, die wahrhaft komi-
schen Widersprüche, und den gänzlichen Mangel an Ueberblick der Gesammtnatur
und an Einblick in ihr causales Wesen kennen lernen will, die gewöhnlich mit
der extremen Consequenz des Vitalismus verbunden sind, dem empfehlen wir zur
ebenso belehrenden als erheiternden Lectüre die höchst seltsamen und an philo-
sophischer Verworrenheit das Maximum leistenden Aufsätze von Reichert in
Müller's Archiv f. An. u. Ph. etc. 1855 p. 1 (über atomistische und systematische
Naturauffassung) und 1856 p. 1 (die Morphologie auf dem Standpunkt der syste-
matischen Naturauffassung).

Methodik der Morphologie der Organismen.
thum hat Darwin vollständig und mit einem Schlage vernichtet. Darwin
hat evident bewiesen, wie es die einfachsten mechanischen Causal-Verhält-
nisse sind, welche diese anscheinend so complicirten und für so ganz uner-
klärlich gehaltenen Lebens-Erscheinungen, die Formbildung und die Ent-
wickelung regeln und beherrschen. Da wir dies im fünften und sechsten
Buche auseinander zu setzen haben, so können wir hier darauf verweisen.

Nur ein Umstand möge hier noch besonders hervorgehoben werden,
nämlich, dass durch die von Darwin thatsächlich erklärte Entstehung der
complicirtesten organischen Formen bereits factisch die Hauptstütze der
Teleologie vernichtet und zertrümmert ist. Alle einer teleologischen Be-
trachtung der organischen Naturerscheinungen geneigten Philosophen, und vor
Allen Kant, dessen Einfluss auf die Entwickelung der Naturwissenschaft in
unserem Jahrhundert (wegen seiner breiteren empirischen Grundlage) grösser
geworden ist, als derjenige irgend eines anderen speculativen Philosophen,
hatte ausdrücklich für die Nothwendigkeit einer teleologischen Beurtheilung
der organischen Natur hervorgehoben, dass deren Processe vollkommen un-
erklärlich, dem Erkenntniss-Vermögen des Menschen nicht zugänglich, und
dass insbesondere die Entstehung der complicirteren Organismen durch bloss
mechanische Ursachen vollkommen unbegreiflich sei. Die Befugniss der
mechanischen Ursachen zur Erklärung dieser Erscheinungen wurde von Kant
ausdrücklich zugestanden, aber das Vermögen der Erklärung ihnen ab-
gesprochen. Daher wollte er auch die „natürliche Zweckmässigkeit“ der
Teleologie nur als Maxime der Beurtheilung, nicht als Erkenntnissprincip
zulassen. Ausdrücklich sagte er desshalb, dass die lebendige Natur nicht
Gegenstand der Erkenntniss, sondern bloss der Betrachtung sein
könne, weil eben die bewegenden Kräfte der Materie nicht zur Erklärung
der Organisation ausreichten. So gerieth denn auch Kant in die unauf-
lösliche Antinomie zwischen Mechanismus und Teleologie. Während er
in seinen „metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ bewiesen
hatte, dass Alles in der materiellen Natur mechanisch entstehe und aus be-
wegenden Kräften als mechanischen Ursachen erklärt werden müsse, war er
nun in der „Analytik der teleologischen Urtheilskraft“ gezwungen zu erklä-
ren, dass Einiges in der materiellen Natur, nämlich das Organische, das

entwöhnten Physiologen und Abiologen, eine übertriebene Behauptung erscheinen.
Indess liefert fast die gesammte morphologische Literatur hierfür die schlagend-
sten Beweise. Selten freilich ist dieser kurzsichtige Standpunkt mit solchem
Bewusstsein und solcher Consequenz festgehalten worden, wie dies z. B. von
Reichert geschehen ist. Wer die ganze Beschränktheit, die wahrhaft komi-
schen Widersprüche, und den gänzlichen Mangel an Ueberblick der Gesammtnatur
und an Einblick in ihr causales Wesen kennen lernen will, die gewöhnlich mit
der extremen Consequenz des Vitalismus verbunden sind, dem empfehlen wir zur
ebenso belehrenden als erheiternden Lectüre die höchst seltsamen und an philo-
sophischer Verworrenheit das Maximum leistenden Aufsätze von Reichert in
Müller’s Archiv f. An. u. Ph. etc. 1855 p. 1 (über atomistische und systematische
Naturauffassung) und 1856 p. 1 (die Morphologie auf dem Standpunkt der syste-
matischen Naturauffassung).
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[102/0141] Methodik der Morphologie der Organismen. thum hat Darwin vollständig und mit einem Schlage vernichtet. Darwin hat evident bewiesen, wie es die einfachsten mechanischen Causal-Verhält- nisse sind, welche diese anscheinend so complicirten und für so ganz uner- klärlich gehaltenen Lebens-Erscheinungen, die Formbildung und die Ent- wickelung regeln und beherrschen. Da wir dies im fünften und sechsten Buche auseinander zu setzen haben, so können wir hier darauf verweisen. Nur ein Umstand möge hier noch besonders hervorgehoben werden, nämlich, dass durch die von Darwin thatsächlich erklärte Entstehung der complicirtesten organischen Formen bereits factisch die Hauptstütze der Teleologie vernichtet und zertrümmert ist. Alle einer teleologischen Be- trachtung der organischen Naturerscheinungen geneigten Philosophen, und vor Allen Kant, dessen Einfluss auf die Entwickelung der Naturwissenschaft in unserem Jahrhundert (wegen seiner breiteren empirischen Grundlage) grösser geworden ist, als derjenige irgend eines anderen speculativen Philosophen, hatte ausdrücklich für die Nothwendigkeit einer teleologischen Beurtheilung der organischen Natur hervorgehoben, dass deren Processe vollkommen un- erklärlich, dem Erkenntniss-Vermögen des Menschen nicht zugänglich, und dass insbesondere die Entstehung der complicirteren Organismen durch bloss mechanische Ursachen vollkommen unbegreiflich sei. Die Befugniss der mechanischen Ursachen zur Erklärung dieser Erscheinungen wurde von Kant ausdrücklich zugestanden, aber das Vermögen der Erklärung ihnen ab- gesprochen. Daher wollte er auch die „natürliche Zweckmässigkeit“ der Teleologie nur als Maxime der Beurtheilung, nicht als Erkenntnissprincip zulassen. Ausdrücklich sagte er desshalb, dass die lebendige Natur nicht Gegenstand der Erkenntniss, sondern bloss der Betrachtung sein könne, weil eben die bewegenden Kräfte der Materie nicht zur Erklärung der Organisation ausreichten. So gerieth denn auch Kant in die unauf- lösliche Antinomie zwischen Mechanismus und Teleologie. Während er in seinen „metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ bewiesen hatte, dass Alles in der materiellen Natur mechanisch entstehe und aus be- wegenden Kräften als mechanischen Ursachen erklärt werden müsse, war er nun in der „Analytik der teleologischen Urtheilskraft“ gezwungen zu erklä- ren, dass Einiges in der materiellen Natur, nämlich das Organische, das 1) 1) entwöhnten Physiologen und Abiologen, eine übertriebene Behauptung erscheinen. Indess liefert fast die gesammte morphologische Literatur hierfür die schlagend- sten Beweise. Selten freilich ist dieser kurzsichtige Standpunkt mit solchem Bewusstsein und solcher Consequenz festgehalten worden, wie dies z. B. von Reichert geschehen ist. Wer die ganze Beschränktheit, die wahrhaft komi- schen Widersprüche, und den gänzlichen Mangel an Ueberblick der Gesammtnatur und an Einblick in ihr causales Wesen kennen lernen will, die gewöhnlich mit der extremen Consequenz des Vitalismus verbunden sind, dem empfehlen wir zur ebenso belehrenden als erheiternden Lectüre die höchst seltsamen und an philo- sophischer Verworrenheit das Maximum leistenden Aufsätze von Reichert in Müller’s Archiv f. An. u. Ph. etc. 1855 p. 1 (über atomistische und systematische Naturauffassung) und 1856 p. 1 (die Morphologie auf dem Standpunkt der syste- matischen Naturauffassung).

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/141>, abgerufen am 17.05.2024.