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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Methodik der Morphologie der Organismen.
führenden Irr-Pfaden so reichen Weg allein und im Dunkeln gehen, als ge-
führt und erleuchtet von dem sicheren Lichte einer wahrhaft philosophi-
schen Untersuchungsmethode. Lieber werfen sie sich, an einem hohen Berge
von unerklärten Thatsachen angelangt, zur Umgehung desselben dem ersten
besten Dogma in die Arme, als dass sie sich von einer streng kritischen
und philosophischen Methode zur Entdeckung der in demselben verborge-
nen werthvollen Schätze, der Gesetze leiten liessen. Freilich spielt auch
hier wieder nicht allein der Mangel an philosophischer Einsicht, son-
dern auch die schon früher gerügte Denkträgheit eine sehr schädliche
Rolle. Die Anstrengung des erkennenden Geistes, welche eine streng
denkende und kritische Naturbetrachtung nothwendig verlangt, ist der Mehr-
zahl der Biologen, und namentlich der Morphologen, viel zu unbequem;
weit bequemer ist es, Thatsachen unmittelbar "exact" zu beobachten und zu
beschreiben, und statt nach einer inductiven Erklärung zu suchen, sich dog-
matisch dem ersten besten Einfalle zu überliefern. Dazu kommt, dass die
Meisten keine Ahnung davon haben, wie ausserordentlich schädlich diese
dogmatische Richtung der organischen Morphologie wirkt. Und doch geht
dies so deutlich aus dem traurigen Zustande hervor, in dem sich der allge-
meine Theil unserer Wissenschaft, trotz der zahllosen einzelnen und be-
sonderen Arbeiten, immer noch befindet. Dem weitverbreiteten Mangel an
Kritik müssen wir es wesentlich mit zuschreiben, dass es hier an allgemei-
nen Bildungsgesetzen fast noch gänzlich fehlt, und dass wir nur so selten
dazu gelangen können, aus einer grösseren Reihe von höchst speciellen Ar-
beiten über einen und denselben Gegenstand uns eine sichere allgemeine
Vorstellung über denselben zu bilden.

Eine mit dieser Denkträgheit eng verbundene weitere Ursache jener
herrschenden dogmatischen Richtung und zugleich eine Ursache, welche
derselben zur theilweisen Entschuldigung dienen kann, liegt in dem starken
conservativen Hange und in dem Autoritätenglauben, welche der mensch-
lichen Natur so fest anhaften, und welche zwei ihrer nachtheiligsten und
dunkelsten Schattenseiten bilden. Wohl auf keinem Gebiete der Naturfor-
schung sind dieselben stets so einflussreich gewesen und bis auf den heu-
tigen Tag so mächtig geblieben, als auf dem der Biologie, und vor Allem
der Morphologie der Organismen. Hier mehr als irgendwo gilt ein Dogma
schon desshalb für heilig und unantastbar, weil es sich eine gewisse Reihe
von Jahren hindurch einer allgemeinen Geltung erfreut hat, und eine dog-
matische Hypothese schon desshalb für unangreif bar, weil eine bedeutende
Autorität, ein Coryphaee der Wissenschaft sie aufgestellt hat. In dieser
Beziehung sind die abiologischen Wissenschaften den biologischen weit
voraus, und während in der Krystallographie, in der abiologischen Chemie
und in der Physik von einer dogmatischen Richtung kaum noch die Rede
ist, erscheint uns die organische Morphologie, die biologische Chemie und
die Physiologie noch als ein weiter Tummelplatz der haltlosesten und ver-
schiedenartigsten sich bekämpfenden Dogmen. Wie ausserordentlich schwierig
es hier auch der bestgewaffneten Kritik wird, vorzudringen, weiss nur der-
jenige, der selbst einmal den Kampf mit einem eingewurzelten Dogma auf-
genommen hat. In dieser Beziehung gleicht die ganze organische Morpho-

Methodik der Morphologie der Organismen.
führenden Irr-Pfaden so reichen Weg allein und im Dunkeln gehen, als ge-
führt und erleuchtet von dem sicheren Lichte einer wahrhaft philosophi-
schen Untersuchungsmethode. Lieber werfen sie sich, an einem hohen Berge
von unerklärten Thatsachen angelangt, zur Umgehung desselben dem ersten
besten Dogma in die Arme, als dass sie sich von einer streng kritischen
und philosophischen Methode zur Entdeckung der in demselben verborge-
nen werthvollen Schätze, der Gesetze leiten liessen. Freilich spielt auch
hier wieder nicht allein der Mangel an philosophischer Einsicht, son-
dern auch die schon früher gerügte Denkträgheit eine sehr schädliche
Rolle. Die Anstrengung des erkennenden Geistes, welche eine streng
denkende und kritische Naturbetrachtung nothwendig verlangt, ist der Mehr-
zahl der Biologen, und namentlich der Morphologen, viel zu unbequem;
weit bequemer ist es, Thatsachen unmittelbar „exact“ zu beobachten und zu
beschreiben, und statt nach einer inductiven Erklärung zu suchen, sich dog-
matisch dem ersten besten Einfalle zu überliefern. Dazu kommt, dass die
Meisten keine Ahnung davon haben, wie ausserordentlich schädlich diese
dogmatische Richtung der organischen Morphologie wirkt. Und doch geht
dies so deutlich aus dem traurigen Zustande hervor, in dem sich der allge-
meine Theil unserer Wissenschaft, trotz der zahllosen einzelnen und be-
sonderen Arbeiten, immer noch befindet. Dem weitverbreiteten Mangel an
Kritik müssen wir es wesentlich mit zuschreiben, dass es hier an allgemei-
nen Bildungsgesetzen fast noch gänzlich fehlt, und dass wir nur so selten
dazu gelangen können, aus einer grösseren Reihe von höchst speciellen Ar-
beiten über einen und denselben Gegenstand uns eine sichere allgemeine
Vorstellung über denselben zu bilden.

Eine mit dieser Denkträgheit eng verbundene weitere Ursache jener
herrschenden dogmatischen Richtung und zugleich eine Ursache, welche
derselben zur theilweisen Entschuldigung dienen kann, liegt in dem starken
conservativen Hange und in dem Autoritätenglauben, welche der mensch-
lichen Natur so fest anhaften, und welche zwei ihrer nachtheiligsten und
dunkelsten Schattenseiten bilden. Wohl auf keinem Gebiete der Naturfor-
schung sind dieselben stets so einflussreich gewesen und bis auf den heu-
tigen Tag so mächtig geblieben, als auf dem der Biologie, und vor Allem
der Morphologie der Organismen. Hier mehr als irgendwo gilt ein Dogma
schon desshalb für heilig und unantastbar, weil es sich eine gewisse Reihe
von Jahren hindurch einer allgemeinen Geltung erfreut hat, und eine dog-
matische Hypothese schon desshalb für unangreif bar, weil eine bedeutende
Autorität, ein Coryphaee der Wissenschaft sie aufgestellt hat. In dieser
Beziehung sind die abiologischen Wissenschaften den biologischen weit
voraus, und während in der Krystallographie, in der abiologischen Chemie
und in der Physik von einer dogmatischen Richtung kaum noch die Rede
ist, erscheint uns die organische Morphologie, die biologische Chemie und
die Physiologie noch als ein weiter Tummelplatz der haltlosesten und ver-
schiedenartigsten sich bekämpfenden Dogmen. Wie ausserordentlich schwierig
es hier auch der bestgewaffneten Kritik wird, vorzudringen, weiss nur der-
jenige, der selbst einmal den Kampf mit einem eingewurzelten Dogma auf-
genommen hat. In dieser Beziehung gleicht die ganze organische Morpho-

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[92/0131] Methodik der Morphologie der Organismen. führenden Irr-Pfaden so reichen Weg allein und im Dunkeln gehen, als ge- führt und erleuchtet von dem sicheren Lichte einer wahrhaft philosophi- schen Untersuchungsmethode. Lieber werfen sie sich, an einem hohen Berge von unerklärten Thatsachen angelangt, zur Umgehung desselben dem ersten besten Dogma in die Arme, als dass sie sich von einer streng kritischen und philosophischen Methode zur Entdeckung der in demselben verborge- nen werthvollen Schätze, der Gesetze leiten liessen. Freilich spielt auch hier wieder nicht allein der Mangel an philosophischer Einsicht, son- dern auch die schon früher gerügte Denkträgheit eine sehr schädliche Rolle. Die Anstrengung des erkennenden Geistes, welche eine streng denkende und kritische Naturbetrachtung nothwendig verlangt, ist der Mehr- zahl der Biologen, und namentlich der Morphologen, viel zu unbequem; weit bequemer ist es, Thatsachen unmittelbar „exact“ zu beobachten und zu beschreiben, und statt nach einer inductiven Erklärung zu suchen, sich dog- matisch dem ersten besten Einfalle zu überliefern. Dazu kommt, dass die Meisten keine Ahnung davon haben, wie ausserordentlich schädlich diese dogmatische Richtung der organischen Morphologie wirkt. Und doch geht dies so deutlich aus dem traurigen Zustande hervor, in dem sich der allge- meine Theil unserer Wissenschaft, trotz der zahllosen einzelnen und be- sonderen Arbeiten, immer noch befindet. Dem weitverbreiteten Mangel an Kritik müssen wir es wesentlich mit zuschreiben, dass es hier an allgemei- nen Bildungsgesetzen fast noch gänzlich fehlt, und dass wir nur so selten dazu gelangen können, aus einer grösseren Reihe von höchst speciellen Ar- beiten über einen und denselben Gegenstand uns eine sichere allgemeine Vorstellung über denselben zu bilden. Eine mit dieser Denkträgheit eng verbundene weitere Ursache jener herrschenden dogmatischen Richtung und zugleich eine Ursache, welche derselben zur theilweisen Entschuldigung dienen kann, liegt in dem starken conservativen Hange und in dem Autoritätenglauben, welche der mensch- lichen Natur so fest anhaften, und welche zwei ihrer nachtheiligsten und dunkelsten Schattenseiten bilden. Wohl auf keinem Gebiete der Naturfor- schung sind dieselben stets so einflussreich gewesen und bis auf den heu- tigen Tag so mächtig geblieben, als auf dem der Biologie, und vor Allem der Morphologie der Organismen. Hier mehr als irgendwo gilt ein Dogma schon desshalb für heilig und unantastbar, weil es sich eine gewisse Reihe von Jahren hindurch einer allgemeinen Geltung erfreut hat, und eine dog- matische Hypothese schon desshalb für unangreif bar, weil eine bedeutende Autorität, ein Coryphaee der Wissenschaft sie aufgestellt hat. In dieser Beziehung sind die abiologischen Wissenschaften den biologischen weit voraus, und während in der Krystallographie, in der abiologischen Chemie und in der Physik von einer dogmatischen Richtung kaum noch die Rede ist, erscheint uns die organische Morphologie, die biologische Chemie und die Physiologie noch als ein weiter Tummelplatz der haltlosesten und ver- schiedenartigsten sich bekämpfenden Dogmen. Wie ausserordentlich schwierig es hier auch der bestgewaffneten Kritik wird, vorzudringen, weiss nur der- jenige, der selbst einmal den Kampf mit einem eingewurzelten Dogma auf- genommen hat. In dieser Beziehung gleicht die ganze organische Morpho-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/131>, abgerufen am 22.11.2024.