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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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IV. Dogmatik und Kritik.
lich nur als ihr folgende angesehen werden können; und die ihre
Schüler auffordert, sie zu begleiten und unter ihrer Anleitung im eige-
nen Geist und in der Natur zu suchen und zu finden." 1) Schlei-
den
(Grundzüge der wissensch. Botanik, III. Aufl. p. 4).

Obgleich es wohl nach dem vorstehenden Ausspruche Schleidens,
der den Gegensatz zwischen kritischer und dogmatischer Methode
scharf characterisirt, scheinen könnte, als ob die kritische Methode mit
der im vorigen Abschnitte erläuterten inductiven Methode identisch
sei, so glauben wir doch, dass man richtiger die letztere nur als
einen Inhaltstheil der ersteren, als eine ihr subordinirte Methode auf-
fasst. Der Umfang des Begriffs der "Kritik" ist weiter, als derjenige
der "Induction", und nach unserer Ueberzeugung muss auch die De-
duction, welche doch von der Induction wesentlich verschieden und ihr
gewissermaassen entgegengesetzt ist (indem sie umgekehrt verfährt),
stets nicht minder "kritisch" zu Werke gehen, als die Induction selbst.
Wir halten es daher nicht für überflüssig, die Bedeutung der kritischen
Forschungsmethode hier noch besonders zu erörtern; um so mehr, als
einerseits wir im vorigen Abschnitt die Induction nur im Gegensatz
zur Deduction (und nicht zur Dogmatik) besprochen haben, anderer-
seits aber die nur allzuhäufige Vernachlässigung der kritischen Methode
den biologischen Naturwissenschaften, und ganz besonders den ver-
schiedenen Zweigen der organischen Morphologie offenbar gescha-
det hat.

Denn wenn man die vielen grundverschiedenen Ansichten über-
blickt und vergleicht, welche von den verschiedenen Morphologen zur
Erklärung sowohl zahlloser Einzel-Erscheinungen als auch grösserer
Erscheinungsreihen auf dem botanischen und zoologischen Gebiete auf-
gestellt worden sind, so erkennt man bald, dass nicht bloss die Schwierig-
keit des höchst verwickelten Gegenstandes selbst, sondern mehr noch
Mangel an allgemeinem Ueberblick, und vor Allem Mangel an Kritik
diese grellen und seltsamen Widersprüche bedingt. Statt umsichtiger

1) "Freilich ist die dogmatische Methode in ihrer strengsten Consequenz
eine an sich unmögliche, und jeder Einzelne, der ihr anhängt, muss immer mehr
oder weniger eine Zeit lang der kritischen Methode gefolgt sein, um nur zur
dogmatischen Behandlungsweise kommen zu können; und seine wissenschaftliche
Thätigkeit wird daher sehr verschiedene Abstufungen darbieten, je nachdem er
mehr oder weniger die allein richtige kritische Methode in Anwendung gebracht
und in seiner Darstellung durchscheinen lässt. Verfolgen wir nun von diesem
Gesichtspunkte aus die Geschichte der Menschheit, so sehen wir, wie aller Fort-
schritt in den einzelnen Disciplinen immer nur an die Herrschaft der inductiven
und kritischen Methoden geknüpft ist, und wie sich die einzelnen Methoden erst
ganz allmählig eine nach der anderen das Bewusstsein der allein richtigen Me-
thode erobern." Schleiden (l. c.) p. 5.

IV. Dogmatik und Kritik.
lich nur als ihr folgende angesehen werden können; und die ihre
Schüler auffordert, sie zu begleiten und unter ihrer Anleitung im eige-
nen Geist und in der Natur zu suchen und zu finden.“ 1) Schlei-
den
(Grundzüge der wissensch. Botanik, III. Aufl. p. 4).

Obgleich es wohl nach dem vorstehenden Ausspruche Schleidens,
der den Gegensatz zwischen kritischer und dogmatischer Methode
scharf characterisirt, scheinen könnte, als ob die kritische Methode mit
der im vorigen Abschnitte erläuterten inductiven Methode identisch
sei, so glauben wir doch, dass man richtiger die letztere nur als
einen Inhaltstheil der ersteren, als eine ihr subordinirte Methode auf-
fasst. Der Umfang des Begriffs der „Kritik“ ist weiter, als derjenige
der „Induction“, und nach unserer Ueberzeugung muss auch die De-
duction, welche doch von der Induction wesentlich verschieden und ihr
gewissermaassen entgegengesetzt ist (indem sie umgekehrt verfährt),
stets nicht minder „kritisch“ zu Werke gehen, als die Induction selbst.
Wir halten es daher nicht für überflüssig, die Bedeutung der kritischen
Forschungsmethode hier noch besonders zu erörtern; um so mehr, als
einerseits wir im vorigen Abschnitt die Induction nur im Gegensatz
zur Deduction (und nicht zur Dogmatik) besprochen haben, anderer-
seits aber die nur allzuhäufige Vernachlässigung der kritischen Methode
den biologischen Naturwissenschaften, und ganz besonders den ver-
schiedenen Zweigen der organischen Morphologie offenbar gescha-
det hat.

Denn wenn man die vielen grundverschiedenen Ansichten über-
blickt und vergleicht, welche von den verschiedenen Morphologen zur
Erklärung sowohl zahlloser Einzel-Erscheinungen als auch grösserer
Erscheinungsreihen auf dem botanischen und zoologischen Gebiete auf-
gestellt worden sind, so erkennt man bald, dass nicht bloss die Schwierig-
keit des höchst verwickelten Gegenstandes selbst, sondern mehr noch
Mangel an allgemeinem Ueberblick, und vor Allem Mangel an Kritik
diese grellen und seltsamen Widersprüche bedingt. Statt umsichtiger

1) „Freilich ist die dogmatische Methode in ihrer strengsten Consequenz
eine an sich unmögliche, und jeder Einzelne, der ihr anhängt, muss immer mehr
oder weniger eine Zeit lang der kritischen Methode gefolgt sein, um nur zur
dogmatischen Behandlungsweise kommen zu können; und seine wissenschaftliche
Thätigkeit wird daher sehr verschiedene Abstufungen darbieten, je nachdem er
mehr oder weniger die allein richtige kritische Methode in Anwendung gebracht
und in seiner Darstellung durchscheinen lässt. Verfolgen wir nun von diesem
Gesichtspunkte aus die Geschichte der Menschheit, so sehen wir, wie aller Fort-
schritt in den einzelnen Disciplinen immer nur an die Herrschaft der inductiven
und kritischen Methoden geknüpft ist, und wie sich die einzelnen Methoden erst
ganz allmählig eine nach der anderen das Bewusstsein der allein richtigen Me-
thode erobern.“ Schleiden (l. c.) p. 5.
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[89/0128] IV. Dogmatik und Kritik. lich nur als ihr folgende angesehen werden können; und die ihre Schüler auffordert, sie zu begleiten und unter ihrer Anleitung im eige- nen Geist und in der Natur zu suchen und zu finden.“ 1) Schlei- den (Grundzüge der wissensch. Botanik, III. Aufl. p. 4). Obgleich es wohl nach dem vorstehenden Ausspruche Schleidens, der den Gegensatz zwischen kritischer und dogmatischer Methode scharf characterisirt, scheinen könnte, als ob die kritische Methode mit der im vorigen Abschnitte erläuterten inductiven Methode identisch sei, so glauben wir doch, dass man richtiger die letztere nur als einen Inhaltstheil der ersteren, als eine ihr subordinirte Methode auf- fasst. Der Umfang des Begriffs der „Kritik“ ist weiter, als derjenige der „Induction“, und nach unserer Ueberzeugung muss auch die De- duction, welche doch von der Induction wesentlich verschieden und ihr gewissermaassen entgegengesetzt ist (indem sie umgekehrt verfährt), stets nicht minder „kritisch“ zu Werke gehen, als die Induction selbst. Wir halten es daher nicht für überflüssig, die Bedeutung der kritischen Forschungsmethode hier noch besonders zu erörtern; um so mehr, als einerseits wir im vorigen Abschnitt die Induction nur im Gegensatz zur Deduction (und nicht zur Dogmatik) besprochen haben, anderer- seits aber die nur allzuhäufige Vernachlässigung der kritischen Methode den biologischen Naturwissenschaften, und ganz besonders den ver- schiedenen Zweigen der organischen Morphologie offenbar gescha- det hat. Denn wenn man die vielen grundverschiedenen Ansichten über- blickt und vergleicht, welche von den verschiedenen Morphologen zur Erklärung sowohl zahlloser Einzel-Erscheinungen als auch grösserer Erscheinungsreihen auf dem botanischen und zoologischen Gebiete auf- gestellt worden sind, so erkennt man bald, dass nicht bloss die Schwierig- keit des höchst verwickelten Gegenstandes selbst, sondern mehr noch Mangel an allgemeinem Ueberblick, und vor Allem Mangel an Kritik diese grellen und seltsamen Widersprüche bedingt. Statt umsichtiger 1) „Freilich ist die dogmatische Methode in ihrer strengsten Consequenz eine an sich unmögliche, und jeder Einzelne, der ihr anhängt, muss immer mehr oder weniger eine Zeit lang der kritischen Methode gefolgt sein, um nur zur dogmatischen Behandlungsweise kommen zu können; und seine wissenschaftliche Thätigkeit wird daher sehr verschiedene Abstufungen darbieten, je nachdem er mehr oder weniger die allein richtige kritische Methode in Anwendung gebracht und in seiner Darstellung durchscheinen lässt. Verfolgen wir nun von diesem Gesichtspunkte aus die Geschichte der Menschheit, so sehen wir, wie aller Fort- schritt in den einzelnen Disciplinen immer nur an die Herrschaft der inductiven und kritischen Methoden geknüpft ist, und wie sich die einzelnen Methoden erst ganz allmählig eine nach der anderen das Bewusstsein der allein richtigen Me- thode erobern.“ Schleiden (l. c.) p. 5.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/128>, abgerufen am 24.11.2024.