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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Methodik der Morphologie der Organismen.
als Schleiden für die philosophische Naturwissenschaft eine engere,
Mill eine weitere Grenze der Schlussfolgerung aus der Beobachtung
zieht. Allerdings will der erstere zunächst nur die Induction gelten
lassen und schliesst die Deduction ganz aus, während der letztere
die Induction ausdrücklich nur als eine Voraussetzung, als das noth-
wendige "erste Stadium" der Deduction gelten lässt. Nach Schleiden
würde die Erfahrung nur vom Einzelnen aus in das Ganze, vom Be-
sonderen aus in das Allgemeine gehen und nur von der Wirkung aus
auf die Ursache, von der Thatsache aus auf das Gesetz schliessen
dürfen. Nach Mill dagegen darf die Naturwissenschaft nicht auf die-
ser Stufe stehen bleiben, sondern sie darf und muss auch den umge-
kehrten Weg der Schlussfolgerung gehen; sie darf und muss von dem
Ganzen auf das Einzelne, von dem Allgemeinen auf das Besondere
schliessen; sie darf und muss aus der Ursache die Wirkung, aus dem
Gesetze die Thatsache folgern können.

Die hier offen zu Tage tretende thatsächliche Differenz über die
wichtigste Methode der Naturforschung zwischen zwei scharfsinnigen
Männern, die beide mit tiefem philosophischen Blick die Geistesopera-
tionen der naturwissenschaftlichen Schlussfolgerungen untersucht haben,
ist desshalb für uns von hohem Interesse, weil sie uns auf zwei ver-
schiedene Denkweisen unter den biologischen Naturforschern hinweist,
die gerade jetzt im Begriffe sind, sich mit mehr oder weniger klarem
Bewusstsein von einander zu trennen und einseitig sich gegenüber zu
treten. Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen, dass die von
Schleiden als die allein richtige Methode gepriesene Induction, welche
damals allerdings, den phantastischen Träumereien und den unreifen
Deductionen der früheren Naturphilosophen gegenüber, vollkommen am
Platze war, durch ihre ausschliessliche Geltung sehr viel zu der ein-
seitigen "exact-empirischen" Richtung beigetragen hat, die in den letz-
ten Decennien mehr und mehr die herrschende geworden ist. Indem
man hier immer allgemeiner nur die Induction allein als die
"eigentliche" Methode der Naturforschung gelten liess und die Deduction
völlig ausschloss, beraubte man sich selbst des fruchtbarsten Denk-
processes, der gerade in den biologischen Disciplinen zu den grössten
Entdeckungen führt. Zum Wenigsten wollte man Nichts von dem-
selben wissen, wenn gleich man unbewusst sich desselben häufig und
mit dem grössten Erfolge bediente. Denn es ist nicht schwer nachzu-
weisen, dass die wichtigsten Entdeckungen, welche in dem letztver-
flossenen Zeitraum gemacht wurden, und insbesondere die allgemeineren
biologischen Gesetze, zu denen man gelangte, zwar durch vorhergehende
und höchst wesentliche, aber nicht durch ausschliessliche Hülfe der In-
duction gemacht wurden, dass vielmehr fast immer die der Induction

Methodik der Morphologie der Organismen.
als Schleiden für die philosophische Naturwissenschaft eine engere,
Mill eine weitere Grenze der Schlussfolgerung aus der Beobachtung
zieht. Allerdings will der erstere zunächst nur die Induction gelten
lassen und schliesst die Deduction ganz aus, während der letztere
die Induction ausdrücklich nur als eine Voraussetzung, als das noth-
wendige „erste Stadium“ der Deduction gelten lässt. Nach Schleiden
würde die Erfahrung nur vom Einzelnen aus in das Ganze, vom Be-
sonderen aus in das Allgemeine gehen und nur von der Wirkung aus
auf die Ursache, von der Thatsache aus auf das Gesetz schliessen
dürfen. Nach Mill dagegen darf die Naturwissenschaft nicht auf die-
ser Stufe stehen bleiben, sondern sie darf und muss auch den umge-
kehrten Weg der Schlussfolgerung gehen; sie darf und muss von dem
Ganzen auf das Einzelne, von dem Allgemeinen auf das Besondere
schliessen; sie darf und muss aus der Ursache die Wirkung, aus dem
Gesetze die Thatsache folgern können.

Die hier offen zu Tage tretende thatsächliche Differenz über die
wichtigste Methode der Naturforschung zwischen zwei scharfsinnigen
Männern, die beide mit tiefem philosophischen Blick die Geistesopera-
tionen der naturwissenschaftlichen Schlussfolgerungen untersucht haben,
ist desshalb für uns von hohem Interesse, weil sie uns auf zwei ver-
schiedene Denkweisen unter den biologischen Naturforschern hinweist,
die gerade jetzt im Begriffe sind, sich mit mehr oder weniger klarem
Bewusstsein von einander zu trennen und einseitig sich gegenüber zu
treten. Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen, dass die von
Schleiden als die allein richtige Methode gepriesene Induction, welche
damals allerdings, den phantastischen Träumereien und den unreifen
Deductionen der früheren Naturphilosophen gegenüber, vollkommen am
Platze war, durch ihre ausschliessliche Geltung sehr viel zu der ein-
seitigen „exact-empirischen“ Richtung beigetragen hat, die in den letz-
ten Decennien mehr und mehr die herrschende geworden ist. Indem
man hier immer allgemeiner nur die Induction allein als die
„eigentliche“ Methode der Naturforschung gelten liess und die Deduction
völlig ausschloss, beraubte man sich selbst des fruchtbarsten Denk-
processes, der gerade in den biologischen Disciplinen zu den grössten
Entdeckungen führt. Zum Wenigsten wollte man Nichts von dem-
selben wissen, wenn gleich man unbewusst sich desselben häufig und
mit dem grössten Erfolge bediente. Denn es ist nicht schwer nachzu-
weisen, dass die wichtigsten Entdeckungen, welche in dem letztver-
flossenen Zeitraum gemacht wurden, und insbesondere die allgemeineren
biologischen Gesetze, zu denen man gelangte, zwar durch vorhergehende
und höchst wesentliche, aber nicht durch ausschliessliche Hülfe der In-
duction gemacht wurden, dass vielmehr fast immer die der Induction

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[82/0121] Methodik der Morphologie der Organismen. als Schleiden für die philosophische Naturwissenschaft eine engere, Mill eine weitere Grenze der Schlussfolgerung aus der Beobachtung zieht. Allerdings will der erstere zunächst nur die Induction gelten lassen und schliesst die Deduction ganz aus, während der letztere die Induction ausdrücklich nur als eine Voraussetzung, als das noth- wendige „erste Stadium“ der Deduction gelten lässt. Nach Schleiden würde die Erfahrung nur vom Einzelnen aus in das Ganze, vom Be- sonderen aus in das Allgemeine gehen und nur von der Wirkung aus auf die Ursache, von der Thatsache aus auf das Gesetz schliessen dürfen. Nach Mill dagegen darf die Naturwissenschaft nicht auf die- ser Stufe stehen bleiben, sondern sie darf und muss auch den umge- kehrten Weg der Schlussfolgerung gehen; sie darf und muss von dem Ganzen auf das Einzelne, von dem Allgemeinen auf das Besondere schliessen; sie darf und muss aus der Ursache die Wirkung, aus dem Gesetze die Thatsache folgern können. Die hier offen zu Tage tretende thatsächliche Differenz über die wichtigste Methode der Naturforschung zwischen zwei scharfsinnigen Männern, die beide mit tiefem philosophischen Blick die Geistesopera- tionen der naturwissenschaftlichen Schlussfolgerungen untersucht haben, ist desshalb für uns von hohem Interesse, weil sie uns auf zwei ver- schiedene Denkweisen unter den biologischen Naturforschern hinweist, die gerade jetzt im Begriffe sind, sich mit mehr oder weniger klarem Bewusstsein von einander zu trennen und einseitig sich gegenüber zu treten. Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen, dass die von Schleiden als die allein richtige Methode gepriesene Induction, welche damals allerdings, den phantastischen Träumereien und den unreifen Deductionen der früheren Naturphilosophen gegenüber, vollkommen am Platze war, durch ihre ausschliessliche Geltung sehr viel zu der ein- seitigen „exact-empirischen“ Richtung beigetragen hat, die in den letz- ten Decennien mehr und mehr die herrschende geworden ist. Indem man hier immer allgemeiner nur die Induction allein als die „eigentliche“ Methode der Naturforschung gelten liess und die Deduction völlig ausschloss, beraubte man sich selbst des fruchtbarsten Denk- processes, der gerade in den biologischen Disciplinen zu den grössten Entdeckungen führt. Zum Wenigsten wollte man Nichts von dem- selben wissen, wenn gleich man unbewusst sich desselben häufig und mit dem grössten Erfolge bediente. Denn es ist nicht schwer nachzu- weisen, dass die wichtigsten Entdeckungen, welche in dem letztver- flossenen Zeitraum gemacht wurden, und insbesondere die allgemeineren biologischen Gesetze, zu denen man gelangte, zwar durch vorhergehende und höchst wesentliche, aber nicht durch ausschliessliche Hülfe der In- duction gemacht wurden, dass vielmehr fast immer die der Induction

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/121>, abgerufen am 19.05.2024.