es, auf den wir hier zunächst die besondere Aufmerksamkeit lenken möchten. Denn wenn wir einerseits überzeugt sind, dass wir nur durch die gemeinsame Thätigkeit beider Richtungen dem Ziele unserer Wissen- schaft uns nähern können, und wenn wir andererseits zu der Einsicht gelangen, welche von beiden Richtungen im gegenwärtigen Stadium unserer wissenschaftlichen Entwickelung die einseitig überwiegende ist, so werden wir auch die Mittel zur Hebung dieser Einseitigkeit angeben und die Methode bestimmen können, welche die Morphologie gegen- wärtig zunächst und vorzugsweise einzuschlagen hat.
Es bedarf nun keines allzutiefen Scharfblicks und keines allzuweiten Ueberblicks, um alsbald zu der Ueberzeugung zu gelangen, dass in dem ganzen zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, und dar- über hinaus bis jetzt, und zwar vorzüglich vom Jahre 1840--1860, die rein empirische und "exacte" Richtung ganz überwiegend in der Bio- logie, und vor Allem in der Morphologie geherrscht, und dass sie diese Alleinherrschaft in fortschreitendem Maasse dergestalt ausgedehnt hat, dass die speculative oder philosophische Richtung im fünften Decen- nium unseres Jahrhunderts fast vollständig von ihr verdrängt war. Auf allen Gebieten der Biologie, sowohl in der Zoologie, als in der Botanik, galt während dieses Zeitraums allgemein die Naturbeobach- tung und die Naturbeschreibung als "die eigentliche Naturwissenschaft," und die "Naturphilosophie" wurde als eine Verirrung betrachtet, als ein Phantasiespiel, welches nicht nur nichts mit der Beobachtung und Beschreibung zu thun habe, sondern auch gänzlich aus dem Gebiete der "eigentlichen Naturwissenschaft" zu verbannen sei. Freilich war diese einseitige Verkennung der Philosophie nur zu sehr gefördert und gerechtfertigt durch das verkehrte und willkührliche Verfahren der so- genannten "Naturphilosophie," welche im ersten Drittel unseres Jahr- hunderts die Naturwissenschaft zu unterwerfen suchte, und welche, statt von empirischer Basis auszugehen, in der ungemessensten Weise ihrer wilden und erfahrungslosen Phantasie die Zügel schiessen liess. Diese namentlich von Oken, Schelling u. s. w. ausgehende Natur- phantasterei musste ganz natürlich als anderes Extrem den crassesten Empirismus hervorrufen. Der natürliche Rückschlag gegen diese letz- tere in demselben Grade einseitige Richtung trat erst im Jahre 1859 ein, als Charles Darwin seine grossartige Entdeckung der "natür- lichen Züchtung" veröffentlichte und damit den Anstoss zu einem all- gemeinen Umschwung der gesammten Biologie, und namentlich der Morphologie gab. Die gedankenvolle Naturbetrachtung, der im besten Sinne philosophische, d. h. naturgemäss denkende Geist, welcher sein epochemachendes Werk durchzieht, wird der vergessenen und ver- lassenen Naturphilosophie wieder zu dem ihr gebührenden Platze verhelfen und den Beginn einer neuen Periode der Wissenschaft be-
Methodik der Morphologie der Organismen.
es, auf den wir hier zunächst die besondere Aufmerksamkeit lenken möchten. Denn wenn wir einerseits überzeugt sind, dass wir nur durch die gemeinsame Thätigkeit beider Richtungen dem Ziele unserer Wissen- schaft uns nähern können, und wenn wir andererseits zu der Einsicht gelangen, welche von beiden Richtungen im gegenwärtigen Stadium unserer wissenschaftlichen Entwickelung die einseitig überwiegende ist, so werden wir auch die Mittel zur Hebung dieser Einseitigkeit angeben und die Methode bestimmen können, welche die Morphologie gegen- wärtig zunächst und vorzugsweise einzuschlagen hat.
Es bedarf nun keines allzutiefen Scharfblicks und keines allzuweiten Ueberblicks, um alsbald zu der Ueberzeugung zu gelangen, dass in dem ganzen zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, und dar- über hinaus bis jetzt, und zwar vorzüglich vom Jahre 1840—1860, die rein empirische und „exacte“ Richtung ganz überwiegend in der Bio- logie, und vor Allem in der Morphologie geherrscht, und dass sie diese Alleinherrschaft in fortschreitendem Maasse dergestalt ausgedehnt hat, dass die speculative oder philosophische Richtung im fünften Decen- nium unseres Jahrhunderts fast vollständig von ihr verdrängt war. Auf allen Gebieten der Biologie, sowohl in der Zoologie, als in der Botanik, galt während dieses Zeitraums allgemein die Naturbeobach- tung und die Naturbeschreibung als „die eigentliche Naturwissenschaft,“ und die „Naturphilosophie“ wurde als eine Verirrung betrachtet, als ein Phantasiespiel, welches nicht nur nichts mit der Beobachtung und Beschreibung zu thun habe, sondern auch gänzlich aus dem Gebiete der „eigentlichen Naturwissenschaft“ zu verbannen sei. Freilich war diese einseitige Verkennung der Philosophie nur zu sehr gefördert und gerechtfertigt durch das verkehrte und willkührliche Verfahren der so- genannten „Naturphilosophie,“ welche im ersten Drittel unseres Jahr- hunderts die Naturwissenschaft zu unterwerfen suchte, und welche, statt von empirischer Basis auszugehen, in der ungemessensten Weise ihrer wilden und erfahrungslosen Phantasie die Zügel schiessen liess. Diese namentlich von Oken, Schelling u. s. w. ausgehende Natur- phantasterei musste ganz natürlich als anderes Extrem den crassesten Empirismus hervorrufen. Der natürliche Rückschlag gegen diese letz- tere in demselben Grade einseitige Richtung trat erst im Jahre 1859 ein, als Charles Darwin seine grossartige Entdeckung der „natür- lichen Züchtung“ veröffentlichte und damit den Anstoss zu einem all- gemeinen Umschwung der gesammten Biologie, und namentlich der Morphologie gab. Die gedankenvolle Naturbetrachtung, der im besten Sinne philosophische, d. h. naturgemäss denkende Geist, welcher sein epochemachendes Werk durchzieht, wird der vergessenen und ver- lassenen Naturphilosophie wieder zu dem ihr gebührenden Platze verhelfen und den Beginn einer neuen Periode der Wissenschaft be-
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Methodik der Morphologie der Organismen.
es, auf den wir hier zunächst die besondere Aufmerksamkeit lenken
möchten. Denn wenn wir einerseits überzeugt sind, dass wir nur durch
die gemeinsame Thätigkeit beider Richtungen dem Ziele unserer Wissen-
schaft uns nähern können, und wenn wir andererseits zu der Einsicht
gelangen, welche von beiden Richtungen im gegenwärtigen Stadium
unserer wissenschaftlichen Entwickelung die einseitig überwiegende ist,
so werden wir auch die Mittel zur Hebung dieser Einseitigkeit angeben
und die Methode bestimmen können, welche die Morphologie gegen-
wärtig zunächst und vorzugsweise einzuschlagen hat.
Es bedarf nun keines allzutiefen Scharfblicks und keines allzuweiten
Ueberblicks, um alsbald zu der Ueberzeugung zu gelangen, dass in
dem ganzen zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts, und dar-
über hinaus bis jetzt, und zwar vorzüglich vom Jahre 1840—1860, die
rein empirische und „exacte“ Richtung ganz überwiegend in der Bio-
logie, und vor Allem in der Morphologie geherrscht, und dass sie diese
Alleinherrschaft in fortschreitendem Maasse dergestalt ausgedehnt hat,
dass die speculative oder philosophische Richtung im fünften Decen-
nium unseres Jahrhunderts fast vollständig von ihr verdrängt war.
Auf allen Gebieten der Biologie, sowohl in der Zoologie, als in der
Botanik, galt während dieses Zeitraums allgemein die Naturbeobach-
tung und die Naturbeschreibung als „die eigentliche Naturwissenschaft,“
und die „Naturphilosophie“ wurde als eine Verirrung betrachtet, als
ein Phantasiespiel, welches nicht nur nichts mit der Beobachtung und
Beschreibung zu thun habe, sondern auch gänzlich aus dem Gebiete
der „eigentlichen Naturwissenschaft“ zu verbannen sei. Freilich war
diese einseitige Verkennung der Philosophie nur zu sehr gefördert und
gerechtfertigt durch das verkehrte und willkührliche Verfahren der so-
genannten „Naturphilosophie,“ welche im ersten Drittel unseres Jahr-
hunderts die Naturwissenschaft zu unterwerfen suchte, und welche,
statt von empirischer Basis auszugehen, in der ungemessensten Weise
ihrer wilden und erfahrungslosen Phantasie die Zügel schiessen liess.
Diese namentlich von Oken, Schelling u. s. w. ausgehende Natur-
phantasterei musste ganz natürlich als anderes Extrem den crassesten
Empirismus hervorrufen. Der natürliche Rückschlag gegen diese letz-
tere in demselben Grade einseitige Richtung trat erst im Jahre 1859
ein, als Charles Darwin seine grossartige Entdeckung der „natür-
lichen Züchtung“ veröffentlichte und damit den Anstoss zu einem all-
gemeinen Umschwung der gesammten Biologie, und namentlich der
Morphologie gab. Die gedankenvolle Naturbetrachtung, der im besten
Sinne philosophische, d. h. naturgemäss denkende Geist, welcher sein
epochemachendes Werk durchzieht, wird der vergessenen und ver-
lassenen Naturphilosophie wieder zu dem ihr gebührenden Platze
verhelfen und den Beginn einer neuen Periode der Wissenschaft be-
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/105>, abgerufen am 24.11.2024.
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