Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.steigenden Concurrenz in der ersten Zeit seines Lebens alle Hände voll zu thun, um sie in der zweiten ein wenig ausruhen zu lassen; da ist nirgends Muße, die es jungen Männern erlaubte, sich den Bewegungen in der Literatur mit nachdenkender und ernster Behaglichkeit anzuschließen. Ja, sie wollen lesen, aber nur auf dem Fluge, sie wollen in der Eile mit ein paar Zügen den scharfgewürzten Becher einer Dichtung leeren. Daher hat sich aller Literaturen, von denen in Europa jezt die Rede seyn kann, ein Haschen nach Effekt, eine kurze, aphoristische Frivolität bemächtigt, die im Nu aufhören würde, wenn es möglich wäre, die öffentlichen Thatsachen unserer politischen und gesellschaftlichen Existenz der Literatur ein wenig günstiger zu stimmen. Jch komme darauf zurück, daß ich durch diese Bemerkungen nur beweisen wollte, wie viel Unvollendetes, nach Abschließung Ringendes, im geistigen Gebiete vorhanden ist, das man, wenn eine Beruhigung unserer politischen Zustände einträte, zur Sprache bringen dürfte. Wir irren uns sehr, wenn wir glauben, daß durch eine endliche Beilegung der politischen Frage jener Kreis von geistigen Besitzthümern geschlossen wäre, auf welche sich die Menschheit, wie auf das Kissen eines ruhigen Gewissens lehnen muß. Der Geist der Geschichte ist in ewiger Thätigkeit, er bewegt sich in kreisartiger Wendung, allein nie kehrt sein Ende in den Anfang zurück, sondern er steigt steigenden Concurrenz in der ersten Zeit seines Lebens alle Hände voll zu thun, um sie in der zweiten ein wenig ausruhen zu lassen; da ist nirgends Muße, die es jungen Männern erlaubte, sich den Bewegungen in der Literatur mit nachdenkender und ernster Behaglichkeit anzuschließen. Ja, sie wollen lesen, aber nur auf dem Fluge, sie wollen in der Eile mit ein paar Zügen den scharfgewürzten Becher einer Dichtung leeren. Daher hat sich aller Literaturen, von denen in Europa jezt die Rede seyn kann, ein Haschen nach Effekt, eine kurze, aphoristische Frivolität bemächtigt, die im Nu aufhören würde, wenn es möglich wäre, die öffentlichen Thatsachen unserer politischen und gesellschaftlichen Existenz der Literatur ein wenig günstiger zu stimmen. Jch komme darauf zurück, daß ich durch diese Bemerkungen nur beweisen wollte, wie viel Unvollendetes, nach Abschließung Ringendes, im geistigen Gebiete vorhanden ist, das man, wenn eine Beruhigung unserer politischen Zustände einträte, zur Sprache bringen dürfte. Wir irren uns sehr, wenn wir glauben, daß durch eine endliche Beilegung der politischen Frage jener Kreis von geistigen Besitzthümern geschlossen wäre, auf welche sich die Menschheit, wie auf das Kissen eines ruhigen Gewissens lehnen muß. Der Geist der Geschichte ist in ewiger Thätigkeit, er bewegt sich in kreisartiger Wendung, allein nie kehrt sein Ende in den Anfang zurück, sondern er steigt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0440" n="438"/> steigenden Concurrenz in der ersten Zeit seines Lebens alle Hände voll zu thun, um sie in der zweiten ein wenig ausruhen zu lassen; da ist nirgends Muße, die es jungen Männern erlaubte, sich den Bewegungen in der Literatur mit nachdenkender und ernster Behaglichkeit anzuschließen. Ja, sie wollen lesen, aber nur auf dem Fluge, sie wollen in der Eile mit ein paar Zügen den scharfgewürzten Becher einer Dichtung leeren. Daher hat sich aller Literaturen, von denen in Europa jezt die Rede seyn kann, ein Haschen nach Effekt, eine kurze, aphoristische Frivolität bemächtigt, die im Nu aufhören würde, wenn es möglich wäre, die öffentlichen Thatsachen unserer politischen und gesellschaftlichen Existenz der Literatur ein wenig günstiger zu stimmen.</p> <p>Jch komme darauf zurück, daß ich durch diese Bemerkungen nur beweisen wollte, wie viel Unvollendetes, nach Abschließung Ringendes, im geistigen Gebiete vorhanden ist, das man, wenn eine Beruhigung unserer politischen Zustände einträte, zur Sprache bringen dürfte. Wir irren uns sehr, wenn wir glauben, daß durch eine endliche Beilegung der politischen Frage jener Kreis von geistigen Besitzthümern geschlossen wäre, auf welche sich die Menschheit, wie auf das Kissen eines ruhigen Gewissens lehnen muß. Der Geist der Geschichte ist in ewiger Thätigkeit, er bewegt sich in kreisartiger Wendung, allein nie kehrt sein Ende in den Anfang zurück, sondern er steigt </p> </div> </body> </text> </TEI> [438/0440]
steigenden Concurrenz in der ersten Zeit seines Lebens alle Hände voll zu thun, um sie in der zweiten ein wenig ausruhen zu lassen; da ist nirgends Muße, die es jungen Männern erlaubte, sich den Bewegungen in der Literatur mit nachdenkender und ernster Behaglichkeit anzuschließen. Ja, sie wollen lesen, aber nur auf dem Fluge, sie wollen in der Eile mit ein paar Zügen den scharfgewürzten Becher einer Dichtung leeren. Daher hat sich aller Literaturen, von denen in Europa jezt die Rede seyn kann, ein Haschen nach Effekt, eine kurze, aphoristische Frivolität bemächtigt, die im Nu aufhören würde, wenn es möglich wäre, die öffentlichen Thatsachen unserer politischen und gesellschaftlichen Existenz der Literatur ein wenig günstiger zu stimmen.
Jch komme darauf zurück, daß ich durch diese Bemerkungen nur beweisen wollte, wie viel Unvollendetes, nach Abschließung Ringendes, im geistigen Gebiete vorhanden ist, das man, wenn eine Beruhigung unserer politischen Zustände einträte, zur Sprache bringen dürfte. Wir irren uns sehr, wenn wir glauben, daß durch eine endliche Beilegung der politischen Frage jener Kreis von geistigen Besitzthümern geschlossen wäre, auf welche sich die Menschheit, wie auf das Kissen eines ruhigen Gewissens lehnen muß. Der Geist der Geschichte ist in ewiger Thätigkeit, er bewegt sich in kreisartiger Wendung, allein nie kehrt sein Ende in den Anfang zurück, sondern er steigt
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/440>, abgerufen am 16.02.2025. |